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Das politische System muss wehrhafter werden – sonst droht die Trumpsche Welt Der verblassende Charme der Demokratie

Als Willy Brandt seinerzeit seine Antrittsrede als Kanzler im Bundestag unter das Motto stellte »Mehr Demokratie wagen!«, verstanden viele von uns gar nicht, wieso ein solches Projekt überhaupt ein Wagnis sein könnte. War denn nicht Demokratie etwas, nach dem die große Mehrheit der Menschen überall auf der Welt sehnsüchtig verlangte? War der Obrigkeitsstaat nicht überall auf dem Rückzug, regte sich nicht überall Widerspruch gegen autoritäres Gehabe, begehrten nicht in ganz Europa Frauen gegen ihre traditionelle Benachteiligung auf, gab es nicht unter jungen Menschen überall auf der Welt eine geradezu unbändige Lust, sich politisch einzumischen?

Der Optimismus jener Jahre hat Deutschland, hat Europa, hat die Welt als ganze trotz aller zwischenzeitlichen Rückschläge ein gutes Stück vorangebracht. In Europa zumindest, dessen waren wir uns sicher, konnte es nach dem Kulturbruch der Nazizeit nur aufwärts gehen, schienen Rückfälle in Autoritarismus ausgeschlossen. Und heute? Wie steht es heute um Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und gesicherten Frieden auf unserem Kontinent? Der ruchlose Überfall Putin-Russlands auf die Ukraine hat die Welt aufgeschreckt und zu einem engeren Zusammenrücken der Demokratien in Europa und in anderen Teilen der Welt geführt. Die Demokratie ist nicht wehrlos, das immerhin ist ein gutes Zeichen.

Allerdings sollten wir nicht übersehen, dass in vielen Teilen der Welt autoritäre und autokratische Parteien und Systeme an Zustimmung gewinnen, dass in den USA eine offen antidemokratische und in großen Teilen rassistische Bewegung die Partei Abraham Lincolns gekapert hat und erneut nach der Macht greift, dass auch in Europa vielerorts populistische und antidemokratische Parteien, siehe die PiS in Polen, Viktor Orbán in Ungarn und Marine Le Pen in Frankreich, große Teile der Bevölkerung für ihr antidemokratisches und antirechtsstaatliches Programm gewinnen.

Was ist es, fragen wir irritiert, das die Demokratie für so viele Menschen heute so wenig attraktiv erscheinen lässt, dass sie sich autoritären Alternativen zuwenden, die wir längst für überholt gehalten hatten? Auf die Frage gibt es keine einfache für alle Länder und Kulturen gültige Antwort. Aus der turbulenten Geschichte des 20. Jahrhunderts haben wir in Deutschland versucht einige Lehren zu ziehen. Eine der wichtigsten davon lautet: Die Demokratie muss wehrhaft sein. Das heißt, sie muss die Fähigkeit und die Entschlossenheit aufbieten, ihren Gegnern frühzeitig und, wenn es sein muss, mit rechtlich abgesicherter Gewalt und mit dem Verbot grundgesetzwidriger politischer Aktivitäten und Organisationen entgegenzutreten. Allerdings gilt es dabei genau darauf zu achten, nicht die vom Grundgesetz festgelegten Grenzen legitimen Staatshandelns zu überschreiten.

Die Attraktivität der Demokratie stärken

Nun ist damit noch nicht die Frage beantwortet, was die tieferliegenden Gründe für die Abkehr von der Demokratie sind und wie die Attraktivität der parlamentarischen und rechtsstaatlich abgesicherten Demokratie erhalten und gestärkt werden könnte. Die Historikerin und Journalistin Anne Applebaum hat sich in ihrem Buch Die Verlockung des Autoritären genau darüber Gedanken gemacht. »Der Autoritarismus«, schreibt sie, »spricht Menschen an, die keine Komplexität aushalten: Diese Veranlagung ist weder ›links‹ noch ›rechts‹, sondern grundsätzlich antipluralistisch«. Dieser Hinweis ist gewiss bedenkenswert. Allerdings wäre zu fragen, ob wir es hier mit einer quasi angeborenen und damit im Prinzip unveränderlichen Veranlagung zu tun haben, oder ob es – zumindest zum Teil – gesellschaftliche Bedingungen sind, die die antipluralistische Einstellung bewirken.

Freiheit im Sinne einer Kultur des argumentativen Streits und der Deliberation mag für einen Großteil der gebildeten Eliten per se attraktiv sein, wenn wir von der altbekannten kleinen elitär-vitalistischen Minderheit, die das »Gerede« und »Gefeilsche« in den Parlamenten schon immer verachtete, einmal absehen. Für das »gemeine Volk« ist sie es aber zumeist nicht. Und zwar vor allem deswegen, weil sie das nicht ganz unberechtigte Gefühl haben, im argumentativen Streit von vornherein benachteiligt zu sein.

Weil sie nicht wie die Gebildeten über Hintergrundinformationen und über alle rhetorischen Tricks der überzeugenden Argumentation verfügen, weil die zur Entscheidung anstehenden Sachverhalte oft so komplex sind, dass nur wenige Fachleute sie wirklich beurteilen können, weil die wichtigen politischen Streitfragen von den Parteien und den Medien nicht so aufbereitet werden, dass im Prinzip jeder und jede verstehen kann, worum es dabei geht.

Politiker, die mit inhaltsleeren Parolen und Plakaten ihre Wahlkämpfe bestreiten, Parteien, die sich mehr als Trittbrett für Karrieristen denn als Sprachrohr der Wählerbasis verstehen, Medien, die mehr an Skandalen und Skandälchen interessiert sind, statt an der verständlichen Darstellung politischer Kontroversen, und ein Bildungssystem, das systematisch die Kinder der sogenannten »einfachen Leute« benachteiligt – all dies trägt zusammen mit der nach wie vor skandalös ungerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums dazu bei, dass die Wahlbeteiligung seit vielen Jahren kontinuierlich sinkt und sich immer mehr Menschen von der Demokratie abwenden.

Als Projekt ist die Demokratie, wie wir sie handhaben, für viele Menschen offenbar lebensfremd, abstrakt und überfordernd, erst recht, wenn die zu bearbeitenden politischen Entscheidungsfragen und Problemlagen in einer maßlos globalisierten Welt mit völlig undurchsichtiger Kapitalverflechtung und überlangen Lieferketten immer komplizierter werden.

Die liberale Demokratie ist eben nicht, wie wir lange angenommen haben, im Grunde für jedermann und jede Frau von vornherein und unter allen Umständen anziehend. Und wo sie, wie dies in der Regel der Fall ist, mit dem Kapitalismus als ihrem eigentlichen Betriebssystem eng verbunden ist, neigt sie zu einem für viele Menschen weltfremden Individualismus, der die existenzielle Angewiesenheit der Menschen auf ihre Mitmenschen systematisch negiert und einigen wenigen Superreichen einen für die Demokratie höchst gefährlichen Vorsprung an Macht und Einfluss einräumt.

Gerechte Verteilung hat höchste Priorität

So wie unser Wirtschaftssystem im Augenblick operiert, ruiniert es mit seiner nach Schumpeter angeblich schöpferischen Zerstörung nicht nur die Biosphäre sondern auch das soziale Habitat von immer mehr Menschen. Die gegenwärtige Ampelregierung, die sich neben der aktuellen Krisenpolitik den schnellen ökologischen Umbau der Gesellschaft auf die Fahne geschrieben hat, sollte sich endlich zu der Einsicht durchringen, dass die Zeit des ständig vorangetriebenen Wachstums vorbei ist und vorbei sein muss, wenn wir die Lebensbedingungen der Menschheit nicht endgültig zugrunde richten wollen, und dass deshalb die Frage der gerechten Verteilung der Umbaukosten und des in Zukunft Erwirtschafteten für die Demokratie höchste Priorität erhält.

Was soll denn daran falsch sein, dass für die große Mehrheit der Menschen die Demokratie nur solange akzeptabel ist, solange sie ihnen faire Chancen zur Selbstentfaltung und ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Beheimatung bietet? Warum sollen gerade die Benachteiligten ihre materiellen Bedürfnisse hintanstellen, wenn es um die hehren und durchaus drängenden Belange der Politik geht, während die Bessergestellten ihre Interessen mit Nachdruck und nicht selten rücksichtslos weiter verfolgen?

Freiheit ist nicht von Gleichheit zu trennen – wenn sie, wie es sich in einer Demokratie gebührt, für alle gelten soll. Wenn wir dies vergessen, wenn wir bei den gewaltigen Aufgaben des ökologischen Umbaus unserer Gesellschaft nicht sorgsam darauf achten, dass die Lasten gerecht verteilt werden und nicht wenige in Saus und Braus weiterleben, während den vielen anderen immer mehr Entbehrungen zugemutet werden, dann ist auch in Europa eine Regression in eine trumpsche Welt jederzeit möglich.

Seit vielen Jahren sinkt die Wahlbeteiligung auf allen Ebenen der politischen Willensbildung kontinuierlich. Bei der letzten Wahl im größten deutschen Bundesland Nordrhein-Westfalen sank sie auf das Rekordniveau von 55,5 Prozent. Nun gab es und gibt es Politiker und Politologen, die Wahlabstinenz nicht als ein ernsthaftes Problem für die Demokratie ansehen, sondern die Nichtwahl eher als Zeichen eines weitgehenden Einverständnisses mit der Politik deuten.

Was aber würde wohl passieren, wenn die vielen Nichtwähler, die in Deutschland – wie in den meisten europäischen Ländern auch – aus dem Milieu der »kleinen Leute« kommen, auf eine charismatische Führerfigur treffen, die ihnen verspricht, endlich einmal durchzugreifen und alle Missstände, die sie bedrücken, mit eisernem Besen zu beseitigen? Was könnte, was würde passieren, wenn die Nichtwähler, die bei uns und in vielen anderen Ländern Europas die Hälfte oder gar die Mehrheit der Wahlberechtigten ausmachen, tatsächlich wählen gingen?

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt haben 2018 in ihrem Buch Wie Demokratien sterben beschrieben, was uns da blühen könnte. »Seit dem Ende des Kalten Krieges sind die meisten demokratischen Zusammenbrüche nicht durch Generäle und Soldaten, sondern durch gewählte Regierungen verursacht worden. Wie Chávez in Venezuela haben gewählte Politiker demokratische Institutionen ausgehöhlt – in Georgien, Nicaragua, Peru, den Philippinen, Polen, Russland, Sri Lanka, der Türkei, der Ukraine und Ungarn. Der demokratische Rückschritt beginnt heute an der Wahlurne.«

Wir sollten die Warnung ernst nehmen. Wenn wir weiterhin versäumen, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten, könnte der Begriff »Zeitenwende«, den der Bundeskanzler angesichts des völkerrechtswidrigen Überfalls auf die Ukraine zur Charakterisierung der sich abzeichnenden neuen Weltordnung benutzt hat, bald auch noch eine andere, vielleicht noch weitaus gefährlichere Bedeutung gewinnen.

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