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© Photo by Andrei Damian on Unsplash

Das Coronavirus und der demokratische Diskurs Der Verlust des Öffentlichen

Der Kampf gegen das Coronavirus hat von Beginn an vielfältige Kollateralschäden produziert. Sie reichen bis zu den Fundamenten unserer offenen und demokratischen Gesellschaft. Ein Grund dafür ist, dass die Strategien, mit denen die Infektionswelle ab Mitte März 2020 gebrochen werden sollte, in erster Linie auf den öffentlichen Raum zielten. Überall dort, wo sich Menschen ungeplant nahekommen und miteinander in Kontakt treten, wächst schließlich die Wahrscheinlichkeit einer Virusübertragung. Die Folgen dieser Überlegungen waren zunächst Verbote großer Veranstaltungen, dann jeglicher Veranstaltungen und zum Schluss generelle Kontaktbeschränkungen und Abstandsgebote im öffentlichen Raum.

Nach der anfänglich großen Zustimmung zu diesen Maßnahmen waren schon bald vermehrt besonnenere Stimmen zu hören, die auch die potenziellen sozialen und kulturellen Kosten thematisierten. Schließlich ist es in einer freiheitlichen Demokratie zu Recht hoch begründungsaufwändig, zentrale gesellschaftliche Diskursorte zu schließen und zugleich Bürgerrechte wie das der öffentlichen Kundgebung so weit einzuschränken, dass schon eine Demonstration gegen diese Entscheidungen zwischenzeitlich nicht mehr zulässig wäre.

In einer Demokratie kommen der Begegnung und dem Diskurs freier Bürgerinnen und Bürger herausgehobene Rollen zu. Aus ihren Gesprächen formt sich der gesellschaftliche Raum, in dem sich Begründungen für politische Programme ebenso zu rechtfertigen haben wie moralische Vorstellungen von einem guten gemeinsamen Leben. Normativ betrachtet werden derartige Überlegungen nicht »von oben« dekretiert, sondern entwickeln sich in freier öffentlicher Kommunikation.

Dabei spielen kulturelle und mediale Angebote eine besondere Rolle als diskursive Kristallisationspunkte. Sie liefern Gelegenheit und Anlass, sich über Fragen des Gemeinsinns und des Zusammenhalts auszutauschen. Denn es ist der öffentliche Raum, in dem die sonst in viele Speziallogiken parzellierte Vernunft unserer Gesellschaft zusammenfließt und eine gesamthafte Perspektive ermöglichen kann. Hier besprechen wir eben nicht bloß das, was jede oder jeder Einzelne aus jeweiliger Perspektive für richtig oder falsch hält, sondern hier versuchen wir das Übergreifende, das alle Betreffende zu fassen zu bekommen, um uns auf allgemeingültige Regeln zu verständigen. Kunst, Wissenschaft und Medien sind die gesellschaftlichen Bereiche, die eine solche Öffentlichkeit in besonderer Weise brauchen, weil sie erst in freier Kommunikation ihre Potenziale entfalten können.

Auch in einer stabilen Demokratie bleibt gesellschaftliche Öffentlichkeit ein fragiles Gebilde. Es wird in der weiteren Bewältigung der Krise daher darauf ankommen, die Erfahrung des Verlusts von Begegnungs- und Diskursräumen in eine erhöhte Sensibilität für die gesellschaftliche und demokratische Bedeutung des öffentlichen Raumes zu verwandeln. Allzu oft unterstellen wir, dass jene Institutionen und Akteure, die Verantwortung für öffentliche Kommunikation und allgemeine Belange übernehmen, dies auch in Zukunft tun werden und wir uns nicht selber kümmern müssen. Aber genau das schwächt unsere Diskursfähigkeit in jenen Momenten, in denen wir sie am dringendsten brauchen. Dann nämlich bevölkern auf einmal jene vernunftpanischen oder verschwörungsideologischen Milieus die öffentlichen Plattformen, denen leider die wesentlichste Voraussetzung für ein vernünftiges Gespräch abgeht: die Bereitschaft zu unterstellen, dass der Diskussionspartner auch an einer Verständigung interessiert sei und dass er eventuell sogar mit seiner Ansicht recht haben könnte. Genau diese – bisweilen kontrafaktischen – Unterstellungen sind essenziell, wenn öffentliche Kommunikation gelingen soll.

Die Zugangsmöglichkeiten zu den relevanten gesellschaftlichen Diskursforen sind jedoch ungleich und ungerecht verteilt. So konnten wir beispielsweise weit mehr von den Schwierigkeiten hören, Homeoffice und Homeschooling zu vereinbaren, als von den Herausforderungen, die die Kontaktbeschränkungen für Alleinerziehende in Großwohnsiedlungen oder für Kinder in großen Familien in sozial prekärer Lage mit sich gebracht haben. Das dürfte auch etwas damit zu tun haben, dass manche Milieus besseren Zugang zu und höhere Resonanz in öffentlichen Foren finden. Nur eine umfassend als relevant empfundene öffentliche Sphäre aber vermag jene gemeinschaftliche Einsicht in gemeinsames Handeln zu ermöglichen, auf die es gerade in gesellschaftlichen Krisensituationen ankommt.

Für die Zeit nach der Krise heißt das, dass wir den Nachhall des Verlustes genau dieser öffentlichen Sphäre zum Gegenstand der politischen und gesellschaftlichen Debatte machen müssen. Die Beschäftigung mit Voraussetzungen demokratischer Öffentlichkeit wird zur politischen Aufgabe. Die Metakommunikation einer Gesellschaft über ihre »Conversation of Democracy« (Barack Obama) wird nicht bloß zur Grundlage politischen Gestaltungshandelns, sondern zum eigenständigen politischen Themenfeld.

Diese abstrakten Fragen nach den Bedingungen öffentlicher Gespräche können nicht von Spezialisten, sondern nur von uns Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam beantwortet werden. Gerade deshalb fordern diese Fragen neben Politikerinnen und Journalisten gerade auch Künstlerinnen und Kreative unmittelbar heraus. Denn es geht bei den Antworten auch um die spekulative Alternative, um den pragmatisch gelebten neuen Entwurf, um die Suche nach jener tiefsitzenden und umfassenden Solidarität, die die Freiheit und Vielfalt unseres Zusammenlebens überhaupt erst ermöglicht.

Wenn wir anfangen, die gesellschaftliche Debatte mit Lust und Leidenschaft neu zu beleben, dann wird auch die öffentliche Sphäre auf die nächste Krise besser vorbereitet sein. Denn trotz der teilweise schrecklichen Erfahrungen der ersten Jahreshälfte gibt es auch Grund zur Zuversicht: Die Krise hat gezeigt, dass wir dazu fähig sind, unser Zusammenleben zu ändern und an neue Herausforderungen anzupassen. Sie zeigt auch, dass eine bessere Gesellschaft möglich ist.

Neben der medizinischen und der ökonomischen Herausforderung liegt damit vor allem eine kulturelle Aufgabe vor uns: die Verständigung darüber, wie wir gesellschaftliches Miteinander leben und auch wirtschaftlich und kulturell robust organisieren wollen. Dazu braucht es öffentlich zugängliche Räume, in denen die Verständigung über das Sinnvolle und Notwendige stattfinden kann.

Wie notwendig eine solche Selbstvergewisserung ist, zeigen auch die parallel zu den Lockerungen des teilweisen Shutdowns aufkommenden Proteste gegen eine Politik, die versucht, epidemiologische Notwendigkeiten zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen in Beziehung zu setzen. Neben vielen berechtigten Fragen artikulierte sich auf einigen der Demos auch eine merkwürdige Verschwörungsideologie, der mit vernünftigen Argumenten nicht beizukommen ist.

Die daneben aber eben auch spürbare und auch artikulierte Sorge vor Schäden an der offenen und demokratischen Gesellschaft kann durchaus produktiv sein. Frank Biess, Professor für Europäische Geschichte, propagierte schon 2019 in einer lesenswerten Angstgeschichte der Bundesrepublik »die Kultivierung demokratischer Ängste«. Gerade die Sorge um die freiheitliche Demokratie könnte also eine Ressource zu ihrer Sicherung sein. Wir sollten uns gut überlegen, so der Historiker, »wovor wir uns ängstigen wollen. Denn diese Ängste könnten in der Tat die Zukunft verhindern, die sie imaginieren«.

Die Coronakrise hat uns die Fragilität unserer modernen, auf Offenheit, Vielfalt und Verständigung angewiesenen Kultur drastisch vor Augen geführt. Jetzt sind wir gefragt, daraus Schlussfolgerungen für unsere gesellschaftliche und politische Kultur zu ziehen – medial, wissenschaftlich und kulturell:

Medial: Wir müssen uns um die Foren kümmern, in denen gesellschaftlicher Diskurs stattfinden kann. Die Freiheit und Zugänglichkeit medialer Angebote im ganzen Land sind essenziell. Ohne verlässliche Informationsangebote und Foren des gesellschaftlichen Austausches werden wir kaum in der Lage sein, zukünftige Modelle des Zusammenlebens zu entwickeln. Hier braucht es gemeinsame Verantwortung: Politik und Medienverantwortliche sollten sich zusammenraufen, um gemeinsam Rahmen und Instrumente einer demokratischen Medienlandschaft zu stabilisieren und zu entwickeln.

Wissenschaftlich: Wir brauchen Räume, in denen auch die tiefer gehende Analyse möglich ist und in denen das exponentiell wachsende empirische Datenwissen mit der gesellschaftlichen Debatte verknüpft wird. Wir brauchen eine für die Normen demokratischer Gesellschaften sensible wissenschaftliche Kultur, die nach der Verbreiterung und der Vertiefung des Wissens ebenso strebt wie nach seiner sozialen und kulturellen Einbettung. Natürlich geht es auch um wirtschaftlich relevante Forschung und Entwicklung. Die entscheidende Transferleistung aber ist die in den öffentlichen Raum einer Gesellschaft hinein. Schließlich klären wir hier, wie wir künftig gemeinsam leben wollen.

Kulturell: Wir müssen uns darum kümmern, dass der Schock des Virus nicht die Leistungen unserer Kultur beschädigt. Gerade in Zeiten der Unsicherheit braucht es Räume und Gelegenheiten zum wilden Denken, zum anarchischen Spekulieren, zum ungehemmten Spielen. Auch zum Eskapismus und zur kurzzeitigen Flucht in alternative Welten. Das macht uns als Menschen aus. Nein, die Kultur ist nicht systemrelevant. Das würde sie funktional verengen. Kultur hat keinen Zweck, in ihr gerinnt der Sinn unseres Seins und unserer Gesellschaft. Sie macht diese Bezüge individuell und emotional erlebbar. Ihre Relevanz bezieht sich nicht auf ein einzelnes System, sondern immer aufs Ganze. Deswegen stehen wir vor Zeiten, in denen wir kulturelle Impulse dringender benötigen denn je. Und wir brauchen das uneingeschränkte Bekenntnis der Kulturpolitik, die dafür notwendigen Rahmen- und Förderbedingungen sicherzustellen.

Die Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie könnten unsere Lust auf eine demokratische Debatte mit neuem Sinn füllen. Denn es geht nicht nur um Bedrohungsszenarien, kompromisslos klare Kante und markige Krisenrhetorik, sondern vor allem darum, dass Bürgerinnen und Bürger im vernünftigen Gespräch miteinander das für alle Wichtige klären. Es ist dieses Gespräch, in dem wir zu der Einsicht gelangen müssen, dass es derzeit für unser Zusammenleben vernünftig ist, Abstand zu halten. Der Optimismus demokratischer Politik liegt darin, dass wir als Bürgerinnen und Bürger einer aufgeklärten Gesellschaft erkennen, dass die Vernunft im Wortsinne zwischen uns liegt, dass wir gemeinsam vereinbaren müssen, wie wir leben wollen, was wir als wahr und für richtig akzeptieren.

Für unsere Debatten stehen uns Expertenmeinungen und Informationsquellen in einem historisch ungekannten Ausmaß zur Verfügung. Und es ist gut und richtig, dass wir sie nutzen. Aber wir müssen es aushalten, dass wir, wie der Soziologe Armin Nassehi zu Recht anmerkt, immer wieder auf Sätze stoßen, die wir jeweils als richtig empfinden, die einander aber fundamental widersprechen. Denn natürlich war der gesellschaftliche und wirtschaftliche Shutdown im März und April sinnvoll. Natürlich hatte er untragbar hohe soziale, wirtschaftliche und kulturelle Kosten. Und natürlich stand er unserer demokratischen Ordnung entgegen. Alle diese Sätze stimmen, aber sie passen nicht zusammen. Und sie können auch nicht mit staatlicher Exekutivpolitik zusammengezwungen werden.

Es ist die Aufgabe einer freien, demokratischen und offenen Gesellschaft, die Debatte darüber zu führen, wie wir den Ausgleich zwischen diesen jeweils fundamentalen Ansprüchen gewährleisten können. Wir dürfen der Zerstörung der Zuversicht durch Politiken der Angst nicht schweigend zusehen, sondern sollten uns daran machen, das Gespräch über den richtigen Umgang mit der aktuellen Herausforderung unseres Lebens und ihren Folgen gesellschaftlich zu führen. Es ist Aufgabe einer progressiven politischen Kraft wie der Sozialdemokratie in diesem Zusammenhang auch die Grundlagen dieses Gespräches zu sichern – und so Medien- und Kulturschaffenden den Schulterschluss zur Sicherung unserer Demokratie anzubieten. Denn der demokratische Diskurs braucht keinen Ausnahmezustand.

(Der Text beruht in Teilen auf Auszügen aus dem Buch »Ausnahme/Zustand. Notwendige Debatten nach Corona«, welches in Kürze bei Hoffmann & Campe erscheint.)

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