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Gibt es Wege zur friedlichen Koexistenz der Systeme? Der westfälische Kompromiss

In der Ukraine, so heißt es, wird die Freiheit Europas verteidigt. Doch der Freiheitskampf im Osten Europas sei nur die erste von vielen Schlachten in der globalen Systemrivalität zwischen Demokratien und Autokratien. Im Globalen Süden findet dieses binäre Narrativ wenig Widerhall. Selbst vermeintliche Wertepartner wie die Demokratien Indien, Brasilien und Südafrika weigern sich, die Verurteilungen und Sanktionen gegen den Aggressor Russland mitzutragen.

Warum helfen die Demokratien des Globalen Südens nicht bei der Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten? Warum stehen verletzbare Nationalstaaten nicht dem Opfer einer neoimperialen Aggression bei?

»Die Frustration über die Doppelmoral des Westens ist im Globalen Süden allgegenwärtig.«

Um zu verstehen, warum das Narrativ der Systemrivalität zwischen Demokratie und Autokratie in weiten Teilen des Globalen Südens so wenig Widerhall erfährt, müssen wir zunächst dekonstruieren, wie es dort gelesen wird. In der Ära der »humanitären Interventionen« war die Verteidigung von Demokratie und Menschenrechten oft nicht mehr als ein Vorwand für die Durchsetzung geostrategischer Interessen des Westens. Nach Jahrzehnten der Strukturanpassungen, Rohstoffausbeutung und des Impfnationalismus ist die Frustration über die Doppelmoral des Westens allgegenwärtig. China und Russland verzichten dagegen weitgehend auf moralisch verbrämtes Dekor, und bieten Infrastruktur, Investitionen, Handel und Waffen an. Die Bereitschaft, mit Moskau oder Peking zusammenzuarbeiten, hat also weniger mit der Attraktivität autokratischer Regime zu tun als mit der Frustration über die postkolonialen Praktiken des Westens.

Doch auch im Globalen Süden dämmert es einigen, dass auch Russen und Chinesen nicht ihr bestes Interesse im Sinn haben. Auf dem großen Schachbrett der Geopolitik ermöglichen diese Ängste den Amerikanern die Gelegenheit zum Gegenzug.

Im Indopazifik wurde dem Ausgreifen Chinas eine quadrilaterale Quasiallianz mit Australien, Japan und Indien gegenübergestellt. Die Systemrivalität zwischen Demokratie und Autokratie bildet den ideologischen Überbau für die Zusammenarbeit zwischen diesen Demokratien. Umworben werden auch Südkorea und Indonesien.

Vor dem Showdown um Taiwan

Im Südchinesischen Meer bereitet das Narrativ von der Verteidigung von Demokratie und Freiheit diskursiv den Boden für den Showdown mit China um Taiwan. Anders als bei der eindeutig völkerrechtswidrigen Verletzung der territorialen Integrität des souveränen Staates Ukraine ist die Rechtslage im Falle einer Invasion Taiwans nämlich weniger eindeutig.

Im Rahmen der Ein-China-Politik erkennen schließlich auch die Vereinigten Staaten Taiwan als Teil Chinas an. Pekings sogenannte Wolfskrieger-Diplomaten – der Name leitet sich von einer gleichnamigen Actionfilmserie ab, in der die chinesische Version eines Rambos die Volksrepublik im Alleingang gegen ausländische Mächte verteidigt – verbitten sich daher regelmäßig jede »äußere Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas«. Im Gegenzug kritisieren die USA und ihre Verbündeten Japan und Südkorea die Menschenrechtslage in China, und stärken die Zusammenarbeit mit der chinesischen Modelldemokratie auf Taiwan.

Global soll die Hegemonie des Westens gegenüber der chinesisch-russischen »Achse der Autokratien« durch eine »Allianz der Demokratien« gesichert werden. Im Ukrainekrieg zeigt sich aber, dass das Narrativ von der Verteidigung von Demokratie und Freiheit im Globalen Süden wenig Anklang findet. Selbst die Demokratien Brasilien und Südafrika bevorzugen allen Umwerbungsversuchen zum Trotz die Zusammenarbeit mit China und Russland im BRICS-Format. Präsident Joe Biden hat daher mittlerweile den Versuch, mittels »Demokratie-Gipfeln« eine Allianz der Demokratien zu bilden, für gescheitert erklärt.

Was bedeutet das nun für die wertegeleitete deutsche Außenpolitik und ihre Versuche, Wertepartner jenseits des Westens zu umwerben? Vor allem in Asien fällt die deutsche Suche nach Partnern jenseits des Westens eigentlich auf fruchtbaren Boden. Um sich nicht zwischen der Wirtschaftslokomotive China und dem Sicherheitsgaranten USA entscheiden zu müssen, schauen viele Asiaten auf Europa. Hier wie dort hat kaum jemand ein Interesse an einer bipolaren Blockkonfrontation, technologischer Spaltung oder binären ideologischen Zuspitzungen. Auf der Basis dieser strategischen Interessenkonvergenz lassen sich Partnerschaften der Mitte bilden.

Allerdings sollte das Scheitern der in den frühen Nullerjahren begründeten »Strategischen Partnerschaften« bei ihrem ersten Stresstest als Mahnung dienen, die neuen Partnerschaften der Mitte auf einem belastbaren Fundament zu bauen. Denn die Interessen, Verwundbarkeiten und Pfadabhängigkeiten der potenziellen Partner überschneiden sich zwar mit denen Europas, sind aber weder mit Blick auf Russland noch auf China deckungsgleich.

Damit aus der Interessenkonvergenz eine belastbare Zusammenarbeit erwachsen kann, müssen jedoch die Europäer zunächst ihre Hausaufgaben machen. Die singapurische Strategin Lay Hwee Yeo spricht aus, was viele denken: »Europa muss endlich aufhören, emotional zu denken und lernen, seine Interessen zu definieren.«

»Der Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung als politisch stabilisierender Rahmen einer offenen Weltwirtschaft ist ein existenzielles Interesse Deutschlands und Europas.«

Was also sind die Interessen Europas? Die fragile Europäische Union kann in einer Wolfswelt, in der das Recht des Stärkeren die Stärke des Rechts bricht, nicht überleben. Und auch die europäischen Exportwirtschaften können keinen Wohlstand generieren, wenn sich Absatzmärkte verschließen und Lieferketten reißen. Der Erhalt der regelbasierten internationalen Ordnung als politisch stabilisierender Rahmen einer offenen Weltwirtschaft ist also ein existenzielles Interesse Deutschlands und Europas.

Um die regelbasierte internationale Ordnung zu erhalten, darf der Hegemoniewettkampf zwischen China und den USA nicht zu einem heißen Krieg eskalieren. Für Deutschland als festem Teil der transatlantischen Werte- und Verteidigungsgemeinschaft kann es in diesem Konflikt keine Äquidistanz geben. Die Europäer sollten jedoch nichts unversucht lassen, um die Eskalationsspirale zwischen den Supermächten zu entschärfen.

Die Biden-Regierung scheint durchaus gewillt, sinnvolle Ansätze der europäischen Verbündeten zu übernehmen, wie etwa das selektive De-Risking in verwundbaren Technologiesektoren statt einer vollständigen Entkopplung der Volkswirtschaften. Gemeinsam mit Partnern in der Mitte für das Management des strategischen Wettbewerbs zwischen den Supermächten zu werben, kann weiter deeskalierend wirken.

»Die Aufwertung des Globalen Südens wird zulasten der Europäer gehen.«

Ein gemeinsames Interesse zwischen Europa und den Partnern in der Mitte besteht am Erhalt der regelbasierten Ordnung. Allerdings fordern die aufstrebenden Mächte des Globalen Südens, die multilateralen Institutionen an die Kräfteverhältnisse des 21. Jahrhunderts anzupassen. Diese Aufwertung des Globalen Südens wird zulasten der Europäer gehen. Will Europa die regelbasierte Ordnung erhalten, wird es einen Gewichtsverlust in Kauf nehmen müssen.

Noch schwieriger ist die Kompromissfindung im Bereich der Werte und Normen. Für die Europäer ist die Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten fester Bestandteil der liberalen Weltordnung. Aus dem Grauen zweier Weltkriege wurde die Lehre gezogen, dass den aggressiven Nationalismen souveräner Nationalstaaten rechtliche Grenzen gesetzt werden müssen. Die Nachkriegsordnung wurde daher auf einem universellen Wertefundament verankert und mit normsetzenden Institutionen überwölbt. Nach dem Wegfall der Blockade dieser liberalen Elemente im Kalten Krieg wurde der Schutz der Rechte der Individuen vor staatlichem Missbrauch durch Schutzverantwortung und Weltstrafjustiz weiter ausgebaut.

Hartnäckiger Widerstand

Gegen dieses Aufbrechen der staatlichen Souveränität – und damit der Gestaltungsfreiheit nationaler Demokratien – formiert sich im Globalen Süden, aber auch in Osteuropa, hartnäckiger Widerstand. Denn für weite Teile des Globalen Südens ist die innere Verfasstheit der Staaten kein zwingendes Ordnungsprinzip für das internationale System. Vor allem Asien ist ein »westfälischer Kontinent«. Hier werden die in der Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundwerte der Souveränität, territorialen Integrität und Nichteinmischung großgeschrieben.

Diese Organisationsprinzipien des internationalen Staatensystems gehen zurück auf den historischen Frieden von Westfalen, mit dem – wie man heute sagen würde – 30 Jahre Systemkonfrontation zwischen Weltanschauungen mit sich gegenseitig ausschließenden Wahrheitsansprüchen beendet wurde. Schon im Augsburger Religionsfrieden wurde für die friedliche Koexistenz zwischen konkurrierenden Ordnungsvorstellungen die Formel Cuius regio, eius religio (lateinisch für »wessen Gebiet, dessen Religion«) gefunden. Die Nichteinmischung in die innere Herrschaftsform eines souveränen Staates wurde so ein konstituierendes Prinzip des modernen Staatensystems (im Englischen spricht man daher von der Westphalian Order).

Ganz ähnliche Prinzipien lagen auch der Entspannungspolitik der 70er Jahre zugrunde, mit der die Systemkonkurrenz zwischen dem kommunistischen Osten und dem »freien Westen« zur friedlichen Koexistenz herunterreguliert wurde. Mit dem Prinzip der Nichteinmischung wurde im Kalten Krieg verhindert, dass die Krisen in Ungarn, Prag oder Kuba zu einem heißen Krieg zwischen den Blöcken eskalierten.

»In der diplomatischen Praxis ist die Rückbesinnung auf die westfälischen Prinzipien nicht zu übersehen.«

Im 21. Jahrhundert wird die chinesisch-amerikanische Systemrivalität im Zen­trum des entstehenden multipolaren Systems nur durch auf der Grundlage ähnlich agnostischer Prinzipien zu managen sein. In der diplomatischen Praxis ist die Rückbesinnung auf die westfälischen Prinzipien nicht zu übersehen. Als China die Demokratiebewegung in Hongkong – seit 1997 völkerrechtlicher Teil Chinas – unterdrückte, beschränkte sich der Westen auf rhetorische Verurteilungen.

Andererseits wurde der russische Versuch, mit Waffengewalt einen Regimewechsel in Kiew zu erzwingen, von der Mehrheit der Staaten verurteilt. Bemerkenswert daran ist, dass auch nichtdemokratische Staaten, die kein Interesse daran haben, in eine neue Systemkonfrontation zwischen Demokratien und Autokratien hineingezogen zu werden, die russische Verletzung der territorialen Integrität des souveränen Staates Ukraine verurteilen.

Um die regelbasierte internationale Ordnung zu erhalten, muss sie an die Kräfteverhältnisse des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Friedliche Koexistenz zwischen konkurrierenden Wahrheitsansprüchen und Ordnungsvorstellungen wird nur auf der Basis eines westfälischen Kompromisses gelingen.

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