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Deutsche Geschichte als Kampf um Freiheit und Einheit

Wer heutzutage eine Art Narrativ für die SPD, dessen Fehlen allseits beklagt wird, sucht oder wer überhaupt demokratischer Orientierung nachgeht, der muss wissen, woher die Sozialdemokratie kommt. Geschichtspolitik hat aber, seitdem sie nicht mehr im Kampf der Systeme gebraucht wird, mehr und mehr an Bedeutung verloren. Wohl auch gegen diesen Zeitgeist von Geschichtslosigkeit, der Zukunftslosigkeit bedingt, hat der Historiker Peter Brandt einen zweiteiligen Sammelband eigener Schriften vorgelegt, der 36 Aufsätze und Vortragstexte aus den Jahren 1981–2017 über die Geschichte des (langen) 19. Jahrhunderts – welches sich laut Eric Hobsbawm von 1789 bis 1914 erstreckte und die Phase des Weges in die Moderne umfasst – und des dagegen kurzen 20. Jahrhunderts vereint.

Hier wird ein epochaler Bogen gespannt von der kulturellen und politischen Herausbildung des deutschen Volkes bis zur nunmehr über 27 Jahre zurückliegenden Deutschen Einheit und zu aktuellen europäischen Herausforderungen. Man liest über frühliberale Aufklärer von 1813, die Revolution 1848/49, den janusköpfigen Charakter des preußischen Staates, die Sozialdemokratie August Bebels und die Entwicklung der Arbeiterbewegung, die deutsche Revolution von 1918/19, den antifaschistischen Widerstand, die Epochenzäsur von 1945, den Arbeiter- und Volksaufstand in der DDR 1953, die Studentenrevolte von 1968, die Demokratiebewegung der DDR 1989 – und über vieles mehr. Auch weniger Zentrales findet sich hier, etwa ein Text über die Presse in der Grafschaft Mark oder über den Staatsrechtler Hugo Preuß, der im Auftrag von Friedrich Ebert die Weimarer Verfassung entwarf.

Die Besonderheit aller Beiträge von Peter Brandt liegt darin, dass sie stets aus Sicht der demokratischen Linken grundsätzliche Interpretationen anbieten, größere geschichtliche Zusammenhänge entwerfen und politische Alternativen und Möglichkeiten diskutieren. Darin scheint er mehr engagierter Politikwissenschaftler als detailverliebter und affirmativ dem jeweiligen Status quo verfallener Historiker zu sein – womit sicherlich das Vorurteil eines Politologen über einen längst untergegangenen Typus von Geschichtswissenschaft zum Ausdruck gebracht ist. Wie auch immer: In Peter Brandts Texten tritt eine Gesamtschau offener Prozesse und vielfältiger Faktoren zutage, die gerade da, wo man ihnen nicht ganz zu folgen vermag, eine eigene Stellungnahme herausfordern. Nicht nur unter der heute populären Fragestellung, wie dies oder das von der Gegenwart aus betrachtet, einzuschätzen ist, sondern auch aus dem Blickwinkel eines Beteiligten: Wie hätte man das damals selber gesehen, wie sich verhalten, auf welche Seite hätte man sich geschlagen? Solche Fragen der Selbstverortung verweisen aber auf nichts anderes als auf erfolgreiche politische Bildung, auf die Einübung von demokratischem Denken.

Der Titel des Doppelbandes lautet Freiheit und Einheit – fast meint man damit das Buch zum umstrittenen nationalen Freiheits- und Einheitsdenkmal in Berlin, das der Bundestag bereits 2007 beschlossen hatte, in Händen zu halten – und der Band enthält tatsächlich ein Plädoyer für das Denkmal aus dem Jahre 2009. Vielleicht wird es ja 2019 endlich errichtet, dann gibt es das Buch zum Denkmal bereits.

»Freiheit« und »Einheit« – beide sind für den Autor paradigmatisch. Zunächst wird damit auf sein erkenntnisleitendes Interesse als einst radikalsozialistischen, jetzt sozialdemokratischen Linken verwiesen, den Freiheitskämpfen, Veränderungspotenzialen und Beharrungskräften in der deutschen Geschichte besonders nachzugehen. In historischer Perspektive seien Reform und Revolution sich keineswegs ausschließende Gegensätze, vielmehr hätten sich diese immer wieder in unterschiedlicher Weise aufeinander bezogen und kommen dabei selbst doch ganz unterschiedlich daher, z. B. als Revolution von oben oder durch die Volksmassen; als systemüberwindende und -verändernde, als systemerhaltende und -immanente Reformen, zudem mit unterschiedlichem Bezug: auf die Verfassungsordnung bzw. das politische System oder auf die sozioökonomische Großformation bezogen. Diese Dialektik von Reform und Revolution klingt im Vorwort durchaus wie ein politisches Bekenntnis: »Auch für eine angestrebte Ablösung des Kapitalismus wird seit Jahrzehnten eher an in der Form reformerische Veränderungen gedacht, deren Inhalt aber u. U. als revolutionär begriffen werden muss, als an den bewaffneten Aufstand oder eine Negation der demokratischen Legalität.«

Des Weiteren haben die Nation, das Nationale, der Nationalstaat, also die Einheit Deutschlands zwar einen ständigen Bedeutungswandel durchlebt, waren aber neben dem Ringen um politische und soziale Emanzipation in beiden Jahrhunderten immer wieder Bezugspunkte für die unterschiedlichsten Bewegungen, Parteien und Politiken. Das betrifft nicht nur das mit Rassismus, Autoritarismus, Feindbildern und Gewaltbereitschaft verbundene Gift des rechten Nationalismus, das heute aufs Neue verspritzt wird. Auch im Sozioökonomischen, in Emanzipationsbewegungen selbst, wie in internationalen und europäischen revolutionären Aufbrüchen zeigten sich immer wieder deutsche Spezifika. Die freiheitlich-demokratischen Traditionen der Nation, die eben nicht schematisch dem Internationalen gegenübergestellt werden sollten, sind eine wichtige Konstante im Denken von Peter Brandt. Er gehört zu denjenigen Linken, die bereits früh die Perspektive der Wiedervereinigung thematisierten. Die Linke und die nationale Frage – dieser von Peter Brandt und Herbert Ammon herausgegebene Rowohlt-Band von 1981 – wurde zu einem Standardwerk. Bereits seit den 70er Jahren war Brandt mit seinem demokratischen Einheitsstreben, wofür er aus dem DKP- und Stamokap-Spektrum heftig angefeindet wurde, gewissermaßen ein Vorreiter. Möglicherweise ist er es heute wieder.

Ein naiver Mittelstandskosmopolitismus, der Probleme der Zuwanderung gerade für die »kleinen Leute« nicht ernst nahm, die Utopie von den bald realisierten, Skeptiker ausschließenden Vereinigten Staaten von Europa: Die Krise der europäischen Sozialdemokraten hat wohl auch mit derartigen mentalen Überforderungen zu tun. Demgegenüber ist eher Peter Brandt zuzustimmen: »Es kann sich bei der Einigung Europas nicht darum handeln, die tradierten Nationen als soziale, Bewusstseins- und Gefühlsgemeinschaften in einem Schmelztiegel aufzulösen; sie werden auf absehbare Zeit weiter bestehen und sich kulturell gegenseitig befruchten, wenn es gelingt das Verhältnis zwischen den Völkern und Staaten Europas solidarisch zu organisieren. Überwunden werden sollen nicht die Nationen, sondern der absolute Souveränitätsanspruch der alten Nationalstaaten.«

Peter Brandt: »Freiheit und Einheit«. Bd. 1: Beiträge zu den deutschen Freiheits- und Einheitsbestrebungen während des langen 19. Jahrhunderts. 398 S. / Bd. 2: Beiträge zu Fortschritt und Reaktion in Deutschland während des 20. Jahrhunderts – das Nationale und das Universale. 402 S., beide: Edition bodoni, Neuruppin 2017, jeweils 24 €, zusammen 40 €.

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