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Deutsche Kultur – gähnende Leere oder wirksame Orientierung?

Am 14. Mai dieses Jahres konnte man im Berliner Tagesspiegel lesen: eine »spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar«. Stattdessen gäbe es eine »kulturelle Vielfalt«, nicht irgendwie Einheitliches oder Übergreifendes, das als Leitkultur im Umgang mit dieser Vielfalt ins Spiel gebracht werden könnte. Man könnte mit einem Achselzucken über diese steile These hinweggehen, käme sie nicht von der im Range einer Ministerin stehenden Integrationsbeauftragten des Bundes, von Aydan Özoğuz, SPD-Mitglied.

Wie soll man sich dazu verhalten? Werde ich in meiner Identität als Deutscher als kulturlos abgestempelt? Das provoziert mich natürlich, und das erst recht, weil ich mir ein halbes Jahrhundert lang als Hochschullehrer im Bereich der Geschichte große Mühe gegeben habe, mit meinen Studierenden an einem differenzierten und zukunftsfähigen Verhältnis zu unserer historischen Identität zu arbeiten.

Ich sehe in der Äußerung der Ministerin ein Symptom dafür, dass es um das Selbstverständnis der Bundesrepublik, um ihre historische Identität, schlecht bestellt ist. Dafür steht auch die Tatsache, dass es keine bemerkenswerte öffentliche Debatte über diese These der Kulturlosigkeit der Deutschen gegeben hat, die mit den Kontroversen um das kulturelle Selbstverständnis Deutschlands und um seinen Ort in der Geschichte vergleichbar wäre. Ich denke beispielsweise an die Fischer-Kontroverse, also die Auseinandersetzung über die politische Strategie des Deutschen Kaiserreiches vor und im Ersten Weltkrieg, den Historikerstreit, die Kontroverse um Ignatz Bubis und Martin Walser 1998, bei der Bubis in Walsers Friedenspreisrede mit Blick auf den Nationalsozialismus eine »Schlussstrichmentalität« ausmachte, und die Auseinandersetzungen um das Holocaust-Mahnmal in Berlin. Warum entzündet sich an der Behauptung von Özoğuz kein neuer Streit? Wo bleiben die Stellungnahmen seitens derjenigen, die sich für die deutsche Kultur einsetzen, ja, für diese Kultur in ihrer Lebendigkeit und Zukunftsfähigkeit einstehen? Gibt es wirklich keine deutsche Kultur mehr, die die Vielfalt unterschiedlicher kultureller Orientierungen in unserem Lande umgreift, ihr zugrunde liegt und uns als Deutsche von anderen Nationen, den Engländern, Franzosen, Italienern, Russen, Amerikanern und vielen anderen, unterscheidet? Diese Unterschiedlichkeit lässt sich wohl schlecht bestreiten. Sie muss auf den Begriff »Kultur« gebracht werden, wenn man sie verstehen und sich in ihr zurechtfinden will.

Was ist Kultur? Damit ist zunächst einmal das Gegenteil von Natur bezeichnet, also die geistige Hervorbringung des Menschen, alles das, was die Menschen selber schaffen. Dieser Kulturbegriff trifft aber die Sache nicht, um die es hier geht. In einem engeren Sinne ist Kultur eine menschliche Lebensform neben anderen (wie Wirtschaft, Politik, Gesellschaft). Hier ist sie eine sprachlich vermittelte Verständigung des Menschen über sich selbst, über sein Verhältnis zu anderen Menschen und zur Natur und allen Umständen seines Lebens. Diese Kultur ist dadurch definiert, dass sie dem menschlichen Leben in allen seinen Formen Sinn gibt. Dieser Sinn schlägt sich in objektiver Gestaltung nieder, z. B. in einer bestimmten Ausprägung des Geschlechterverhältnisses, im Verständnis von Geschichte, in Kunst, Wissenschaft und Religion etc.

Diese Ausprägung hat unterschiedliche Reichweiten und Tiefen: personale, kommunale, regionale, nationale, transnational-zivilisatorische und allgemein-menschliche. Quer dazu liegen andere Dimensionen der sinnhaften menschlichen Lebensgestaltung, u. a. die geschlechtliche und die generationelle. Diese Reichweiten oder Dimensionen überschneiden sich und sind in ständigem Wandel begriffen. Kann es sein, dass dabei die Dimension verschwindet, um die es in der Integration geht, mit der Frau Özoğuz befasst ist? Sie behauptet, die Deutschen hätten in der nationalen Reichweite und Ausprägung von Kultur nur das Alleinstellungsmerkmal der Sprache und sonst nur Vielfalt, also Unterschiedliches und nichts gemeinsam sinnhaft (kulturell) Verbindliches aufzuweisen. Stimmt das?

Immerhin erwähnt sie, wie üblich, wenn es um Integration geht, das Grundgesetz. Das steht nun da wie ein Fels in der Brandung. Dass es nur Teil einer politischen Kultur ist, die die Bundesrepublik als Staat prägt, wird nicht erwogen. Das Grundgesetz lebt aber von kulturellen Voraussetzungen, die es selber gar nicht setzen kann. Wenn man diese Voraussetzungen ignoriert, also nicht in den Tiefen der menschlichen Subjektivität in ihrer sozialen Verfassung und der generationenübergreifenden Erfahrung und Befindlichkeit verankert, bleibt Integration eine äußerliche Angelegenheit. Innerlich bleiben die Betreffenden ihrer deutschen Nachbarschaft fremd und fern.

Eng verwandt mit der politischen ist die Geschichtskultur. Gibt es hier nur Vielfalt und Divergenz? In der Tat gehört der öffentliche Streit um die historische Verortung der Bundesrepublik zu ihren hervorstechenden kulturellen Merkmalen. Das aber heißt nicht, dass in allem Streit keine Grundzüge einer Geschichtskultur sichtbar werden, die als solche nicht strittig sind. Die Integration des Holocaust in das historische Selbstbild der Deutschen ist zum Beispiel eine Leistung, die international Beachtung und Anerkennung gefunden hat. Hier liegt sicher ein schweres Hindernis für die Integration eines Teils der türkischstämmigen Einwanderer, der zumeist etwas Vergleichbares mit dem Völkermord an den Armeniern nicht schafft. Kann man dieses geschichtskulturelle Alleinstellungsmerkmal in der Divergenz historischer Multiperspektivität verschwinden lassen? Bisher ist das nicht der Fall gewesen, und es wird auch nicht durch die Negation einer spezifisch deutschen Kultur geschehen.

Um bei der Geschichtskultur zu bleiben: Gibt es keine gemeinschaftsbildenden Traditionen in Deutschland? Natürlich gibt es sie, nicht nur die der Ablehnung des Nationalsozialismus. So kristallisiert sich etwa an der Gestalt Martin Luthers ein ambivalentes, aber nichtsdestoweniger wirksames Traditionsverständnis im Umgang mit einer Persönlichkeit, die unbestreitbar zur kulturellen Tradition Deutschlands gehört. Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, mehr oder weniger ambivalente, aber unbestreitbar aufgenommen ins deutsche kulturelle Gedächtnis.

Ähnlich wie in der Geschichtskultur gibt es traditionsbildende zukunftsträchtige Größen in allen Bereichen der kulturellen Sinnbildung. Ich erwähne hinsichtlich der Wirtschaftskultur die soziale Komponente des Kapitalismus (»Rheinischer Kapitalismus«). Sie mag schwach sein, aber wirksam und konsensfähig ist sie doch. In der Wissenschaftskultur verdienen die Ideen von Alexander von Humboldt und Friedrich Schleiermacher über die Bildungsfunktion der wissenschaftlichen Erkenntnis mehr als nur gewohnheitsmäßige Anerkennung. Ihre Zukunftsträchtigkeit stellen entsprechende Anstrengungen nicht weniger deutscher Hochschulen unter Beweis.

Die Reihe der Beispiele wirksam gebliebener Traditionen ließe sich fortsetzen: Immanuel Kant, der deutsche Idealismus und die Hermeneutik in den Geisteswissenschaften, die eigentümliche Verschränkung von Säkularismus und öffentlicher Anerkennung der christlichen Kirchen; die Absage an reine Machtpolitik als Folge der Erfahrung zweier Weltkriege; die Europäisierung des Nationalen; Humanismus als Beitrag zur interkulturellen Kommunikation; Selbstkritik als Medium der Verständigung über kulturelle Differenzen und vieles andere mehr.

Ich finde, dass sich eine Integrationsbeauftragte mit der deutschen Kultur vertrauter machen oder sich besser beraten lassen sollte, als nur ihre Vielfältigkeit wahrzunehmen. Es zeichnen sich durchaus Züge der Gemeinsamkeit in der Vielfalt ab. Sie wahrzunehmen führt freilich in die Nähe einer Vorstellung von »Leitkultur«, und die scheint verpönt zu sein.

Was heißt eigentlich »Leitkultur«? Doch etwas ganz Einfaches: Es handelt sich um den Inbegriff derjenigen Regeln und mentalen Einstellungen, die Vielfalt und Pluralismus als Eigenschaft moderner Kultur friedlich lebbar machen. Wenn Vielfalt das letzte Wort wäre, was steht dann dafür, dass sich die in ihr notwendigerweise wirksam werdenden Divergenzen nicht gewalttätig austragen? Vielfalt braucht Regeln des Umgangs mit Divergenz und eine Kultur, die diese Regeln mental begründet und stärkt. Juristische Normen und das Gewaltmonopol des Staates sind dazu zwingend erforderlich. Aber sie reichen nicht: Es müssen zivilgesellschaftliche Lebensformen hinzukommen, wenn Vielfalt ein Gewinn an Menschlichkeit und kein Schreckgespenst einer verlorenen Kultur sein soll.

Warum wird in der Politik der Integration das Offensichtliche einer spezifisch deutschen Kultur ignoriert? Das lässt sich leicht erklären: Wenn es dieses nicht gibt, dann fällt ein wesentlicher Faktor der Integration weg, eben die Bezugsgröße »deutsch«. Die neuen Bürgerinnen und Bürger brauchen sich nicht an die Kultur anzupassen, die die Deutschen als ihre eigene ansehen und leben. Sie brauchen sich dann nur eine begrenzte Anzahl von Regeln zu eigen machen. Die Kultur, die sie mitbringen und die ihr Leben diesseits und jenseits der Regeln bestimmt, bleibt dann unangetastet. Im Gegenteil: Diese andere Kultur vermehrt nur die Vielfalt, die sie in Deutschland schon vorfinden. Die Divergenzen und Spannungen, die die mitgebrachte Kultur von derjenigen der Mehrheitsgesellschaft trennt, geraten außer Acht, und das gilt vor allem für das Konfliktpotenzial, das hier lauert (und dessen Gefährlichkeit inzwischen erkennbar ist).

Wer kann im Ernst bestreiten, dass es dieses Konfliktpotenzial nicht gibt? Wer es ignoriert, macht sich für die Probleme, für den Unfrieden, die aus diesem Potenzial erwachsen, mitschuldig. Man sollte stattdessen die Elemente und Faktoren der deutschen Kultur ins Spiel bringen, die eine Anerkennung kultureller Vielfalt auf der Basis einer Anthropologie der menschlichen Würde als wesentlich erachten. Dazu gehört zum Beispiel der deutsche Humanismus klassisch-moderner Ausbildung. Man sollte zusätzlich in dieser Tradition ebenfalls wirksame Gesichtspunkte der Kritik hervorheben und stärken, die jede Einschränkung dieser Würde (und sei es auch mit höchster religiöser Autorität) betrifft.

Aber solche umfassenden Kriterien und Gesichtspunkte kultureller Orientierung sollen ja »schlicht nicht identifizierbar« sein, wenn sie die Deutschen als Deutsche betreffen. Wirklich nicht?

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