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© Felipe Tofani/flickr (lizenziert unter CC BY 2.0)

Mit Rammstein an die Schoah erinnern? »Deutschland, Deutschland über allen«

Bereits eine Woche nach der Veröffentlichung Ende März 2019 gehörte das Lied Deutschland von Rammstein mit 31 Millionen Klicks auf Youtube zu den meistaufgerufenen Musikvideos der Band. Die Reaktionen, insbesondere auf die Veröffentlichung des Teasers, ähneln denen von 1998, als der Song Stripped und das zugehörige Video auch kontroverse Diskussionen über den Umgang der Band mit dem Nationalsozialismus auslösten. Es ist ebenso nicht neu, dass von Historikerinnen und Historikern kaum Äußerungen in diesem Zusammenhang in die Öffentlichkeit dringen.

In Deutschland unternimmt die Band einen Ritt durch die deutsche Geschichte, der auch als historischer Schnelldurchlauf durch die Debatte um die Frage nach der deutschen Identität bezeichnet werden könnte. Hierbei verwenden Rammstein fast eineinhalb Minuten darauf, die Schoah als Teil der deutschen Geschichte darzustellen. Werden historische Zusammenhänge aber derart ästhetisiert, dann bedarf das Dargestellte Erklärungen, denn durch diese De- und Rekonstruktion entsteht ein spezifisches Bild von Geschichte. Dabei handelt es sich nicht um einen faktischen Abgleich mit der Vergangenheit, sondern um eine zu hinterfragende Interpretation. Die Geschichtskultur fragt, wo und warum Geschichte abweichend zu den historischen Fakten dargestellt wird und was das bedeutet.

Eine Szene mit Luxuskarosse der 30er Jahre, darin die Bandmitglieder als Nazi-Chargen verkleidet, führt in den 30 Sekunden langen Hauptabschnitt ein, zu dem das eher lapidare erste Wort der zweiten Strophe ertönt: »Überheblich«. Dabei stehen dahinter allerlei komplexe Fragestellungen: Wie konnte es zum beispiellosen systematischen Massenmord an den Juden kommen? Warum hatten 43,9 % der Wahlberechtigten bei der letzten Reichstagswahl der Weimarer Republik am 5. März 1933 die NSDAP gewählt? Wie schaffte der NS-Staat die erste deutsche Demokratie ab? Was machte den Kern der NS-Ideologie aus und wie wollten die Nazis ihren Plan vom »judenreinen« und »Tausendjährigen« Reich umsetzen? Weder die Charakterisierung der Nationalsozialisten als überheblich, noch die Bildgebung können diese Fragen beantworten. Einmal abgesehen davon, dass »Überheblichkeit« keine historische Kategorie ist, genügt eine Zuschreibung von Adjektiven allein nicht, um ein historisches Ereignis zu erklären.

Zum zweiten Wort der Strophe, »überlegen«, erscheinen in einem industriellen Setting zunächst die Göttin Germania im Herrscherantlitz und dann drei Artillerie-Raketen des Typs Aggregat 4, die Joseph Goebbels 1944 zur Vergeltungswaffe 2 erklärt hatte. Im Zusammenhang mit den später gezeigten Opfern der Nationalsozialisten lässt dies vermuten, dass das KZ Mittelbau-Dora, ein Außenlager des KZ Buchenwald, als Schauplatz dienen soll. Die Anordnung von Bild und Ton suggeriert, dass der systematische Mord an den europäischen Juden auf dem Territorium von Nazi-Deutschland stattgefunden habe. Die meisten starben jedoch aus Gründen der Geheimhaltung vor internationaler Presseberichterstattung sowie aus Gründen der Legitimität vor dem deutschen Volk in den von den Nazis widerrechtlich annektierten Gebieten oder auf dem Territorium der Bündnispartner. Die Ermordung der Juden diente der Absicherung von Macht und Plänen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Sollte das KZ Mittelbau-Dora als Synonym für den Ort stehen, an dem der Massenmord stattfand, dann entspricht es nicht der historischen Wahrheit. Die Aussage, dass die V2 in der NS‑Propaganda als Wunderwaffe galt und die deutsche Überlegenheit im Zusammenhang mit dem propagierten »Endsieg« demonstrieren sollte, ist dann zutreffend, wenn das Wort »überlegen« in diesen Sinnzusammenhang gestellt wird. Es kann demnach nicht eindeutig festgestellt werden, ob die Band an dieser Stelle der Aufzählung meint, dass die Nationalsozialisten tatsächlich überlegen waren oder ob sie das entgegen der Faktenlage und auf dem Rücken von Millionen von Opfern lediglich propagierten.

Dem Zünden der V2 ist es geschuldet, dass die Bilder für die kommenden vier Worte wackeln. Die Kamera ist auf die KZ-Häftlinge gerichtet, wenn die Worte »übernehmen« und »übergeben« ertönen. Einem Häftling liegt die Schlinge bereits um den Hals, die V2 wird gestartet und es ertönt »überraschen«. Beim nächsten Wort »überfallen« betritt ein Wehrmachtsoffizier die Bühne. Hier wird der lineare Erzählstrang zugunsten der Kraft eines Bildes aufgegeben. Die V2 wurde erst ab 1942 eingesetzt, Überfälle von Nazi-Deutschland auf andere Länder gab es bereits vorher. Das anachronistische Erzählen wird in der letzten Zeile der Strophe fortgesetzt, die dem Zuschauer ein bizarres Bild-Ton-Gemisch bietet: Zu »Deutschland, Deutschland über allen« wird ihm eine Bildertrilogie vorgelegt, in der der Frontsänger Till Lindemann zuerst einen Amateurkämpfer mit Schlagring aus der Zeit der Weimarer Republik, dann ein RAF-Mitglied im Gefängnis und schließlich einen Häftling im KZ Mittelbau-Dora mimt. In dieser Verkürzung liegt der Versuch einer Abstrahierung: Ganz gleich, aus welcher politischen Richtung heraus Gewalt angewendet wird, Opfer resultieren aus der politischen Rechten und Linken. Dieser Gedanke führt uns in die 90er Jahre, die im Zuge der Wiedervereinigung die Frage der nationalen Identität ins Zentrum des Diskurses stellen. In dieser Zeit werden nicht selten die deutschen Diktaturerfahrungen im Nationalsozialismus und Kommunismus nivelliert. Folglich leidet die Binnendifferenzierung und die Gefahr der Verharmlosung steigt. Indem Rammstein in diesen Diskurs einsteigt, begibt sich die Band in gefährliches Fahrwasser. Der Kurs dieser Fahrt wird unmissverständlich markiert, wenn der erste Vers des Deutschlandliedes leicht abgewandelt präsentiert wird. Die Nationalsozialisten haben das Lied missbraucht, indem sie die Hymne derart modifizierten, dass die erste Strophe gesungen wurde und dann das Horst-Wessel-Lied. Die Band nimmt es also in Kauf, ein Identitätsangebot zu unterbreiten, in dem Juden keine Deutschen sein können und Deutsche unter der scheinbar politisch verordneten Erinnerung leiden. Der Refrain setzt ein, das polyphone »Deutschland« ertönt und der KZ-Häftling, der jetzt erstmals als Jude erkennbar wird, wird gehenkt.

In der dritten Strophe wird die Schoah lediglich an der Stelle »Wir (wer hoch steigt, der wird tief fallen)« thematisiert. Und hier geschieht etwas Entscheidendes: Es wird auf die in Strophe zwei vorgenommene Merkmalszuschreibung der Nazis als »überheblich« Bezug genommen, um bei dieser Erzählstelle die Moral der Geschichte bedienen zu können. Indem die Häftlinge zu den Waffen greifen und sie auf die Nazis richten, wird der Versuch unternommen, erstere als Täter und letztere als Opfer darzustellen. Diese Szene wird im anschließenden Refrain fortgesetzt. Dort ertönt wieder ein polyphones »Deutschland«, zu dem ein KZ-Häftling seine Waffe in die Kamera richtet und dann drei Schüsse auf Repräsentanten der Waffen-SS fallen. Streng genommen müsste man folgende polemische Frage an diese relativierende Erzählung stellen: Mussten die Nazis sterben, weil sie überheblich waren? Eine Umkehr der Rollen, wie sie Rammstein erzählen, fand nicht statt und Schuldige sind nicht die Nazis, sondern die Deutschen. Die Deutschen wurden von den Alliierten nach der Schwere ihrer Taten klassifiziert, diejenigen, die sich des Mordes schuldig gemacht hatten, wurden vor Gericht gestellt und verurteilt, andere aus dem Staatsdienst entlassen. Die erste eigene Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld in Form juristischer Aufarbeitung begann 1963 auf Initiative von Fritz Bauer in den Auschwitz-Prozessen. Nach einer kurzen Unterbrechung endet das Erinnern an die Schoah: Till Lindemann singt »dir nicht geben« in die Kamera und eine Träne kullert aus seinem rechten Auge. Gemeint ist die Liebe, die er Deutschland nicht geben könne.

Nazi sells?!

Geschichtskulturelle Fragestellungen beschäftigen sich neben der kognitiven auch mit der politischen und ästhetischen Seite eines solchen Phänomens. Die Liedvorschau erregte weltweite Aufmerksamkeit. Viele Kommentare stimmen darin überein, dass sich das Lied an Millionen von Opfern vergehe und deshalb politisch inakzeptabel sei. Doch was genau provoziert an dieser künstlerischen Darstellung und mit welchen Folgen?

Die rammsteinsche Erzählung ist achronologisch, fehlerhaft und relativierend. Verharmlost Deutschland nun aber auch die Schoah? Die Frage muss bejaht werden, denn Millionen von Juden sind nicht deshalb umgekommen, nur weil es überhebliche Charaktere unter den Nazis gegeben hat. Wenn es um die Frage geht, wie Rammstein an die Schoah erinnert, dann wird auf ästhetischer Ebene ein besonderes Element sichtbar, das sich mit der Fachwissenschaft nicht greifen lässt: Juden erschießen Nationalsozialisten. Die Geschichtswissenschaft benötigt hier andere Disziplinen, um das Wesen, hier den kontrafaktischen Rollentausch, erfassen zu können. Der Tausch passiert in der Bridge, womit in der Musik ein Verbindungselement in Liedern bezeichnet wird. Die KZ-Häftlinge richten ihre Waffen auf die von ihnen eingekreisten Nazis. Die Erzählung, die bisher einen Sachverhalt dargestellt hat, wird nun mit dem Teil verbunden, in dem das Vergangene eine retrospektive Wertung erfährt. Dieser Gegenwartsbezug wird wenig später deutlich, wenn Neonazis auf der Straße randalieren. Kurz darauf richtet Lindemann, der im Nazijargon als »politischer Jude« erkennbar sein soll, seine Waffe in die Kamera, anschließend werden drei Nazis erschossen. Ein interessantes Detail steckt im Figurenwechsel zwischen der Szene, in der die Waffen auf die Nazis gerichtet werden und der nächsten, in der Schüsse auf sie abgegeben werden. In der ersten ist Germania als Mitglied der Waffen-SS verkleidet die Zielscheibe, jedoch ist sie dies nicht mehr, wenn die Schüsse abgefeuert werden. Germania überlebt also und somit auch die Frage nach der nationalen Identität. Dieser Rollenwechsel von Opfern zu Tätern und vice versa ist ein markantes Zeichen der Groteske, die denen Macht gibt, die sie vorher nicht hatten. Ein starkes Mittel also, das es gleichzeitig vermag, die hässliche Fratze der menschenverachtenden Naziherrschaft zu entlarven und ihren Opfern die Macht zu geben, jene zu beenden. Die Groteske kann ihrem Wesen nach nicht respektvoll wirken, denn sie bringt dem Zuschauer das Unvorstellbare unmittelbar bei. In ihrer Wirkungsabsicht wiederum ist sie respektvoll, denn sie formuliert eine Antwort auf die Gegenwart und Zukunft gerichtete Ungerechtigkeit. Das Problem der Darstellung in diesem Lied und Video ist, dass es heute wie damals Deutsche sind, die bestimmen, wer Jude ist und wer nicht und damit, im Extremfall, über Leben und Tod.

Missglückter Rollenwechsel

Rammstein scheitert letztlich daran, mit Deutschland wahrheitsgemäß und respektvoll an die Schoah zu erinnern. Sie scheitern an der Groteske, die ihnen an der entscheidenden Stelle, nämlich im Übergang von der Analyse zur Interpretation, dazu hätte erstklassig dienen können, die Überbleibsel Nazideutschlands zu entlarven. Dazu gehört zum Beispiel die durch die Nationalsozialisten eingeführte Einteilung der Menschen in Deutschland in Deutsche und Juden. Ein Spiel mit diesen Kategorien oder eben mit den Rollen im Musikvideo hätte dies aufzeigen und durch seine unmittelbare Wirkung den Menschen als Problem bewusst werden lassen können. Doch der Rollenwechsel missglückt, denn die Kategorien der Nationalsozialisten bleiben nach wie vor intakt: Die Deutschen haben mit den Nazis von gestern nichts zu tun, es gibt nach wie vor Deutsche und es gibt Juden in Deutschland und die Erinnerung an die Schoah kommt nur noch in dafür eingerichteten Orten vor, wie KZ-Gedenkstätten, während der Antisemitismus immer offener in der breiten Gesellschaft zutage tritt.

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