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Deutschland – eine Klassengesellschaft

Die Spaltung der Gesellschaft in Deutschland erfüllt viele Menschen mit Sorge. Jetzt hat der Kölner Armutsforscher und ehemalige Bundespräsidentschaftskandidat der Linkspartei Christoph Butterwegge ein Buch mit dem Titel Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland vorgelegt. Doch was zerreißt die Republik? Neben der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit sind es die neuen politischen Spannungen zwischen West- und Ostdeutschland angesichts des Aufstiegs der AfD, was auch einen Konflikt zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus einschließt. Allerdings: Ungleichheit spaltet zwar sicher die Gesellschaft, aber zerreißt kaum die Republik – im Gegensatz zur Auseinandersetzung zwischen rechten bzw. rechtsextremen und etablierten Parteien. Unter den bei Umfragen erhobenen Ängsten der deutschen Bevölkerung findet man die wirtschaftliche Ungleichheit bestenfalls in Form der Besorgnis um bezahlbaren Wohnraum oder um bezahlbare gute Pflege im Alter. Ansonsten dominieren die Themen Migration und Ost-West-Spaltung, die beide in Butterwegges Buch aber nur am Rande erwähnt werden. Von den im Untertitel genannten drei Ungleichheiten wird die politische ohnehin nur stiefmütterlich behandelt, auf gerade einmal knapp 20 der über 400 Seiten.

Im Zentrum des Buches steht somit die wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, welcher sich Butterwegge in sechs Abschnitten nähert. Dabei sind die Abschnitte zwei (»Theorien der westdeutschen Sozialstruktur«) und drei (»Entwicklung der Sozialstruktur«) in der zeitlichen Abgrenzung ihres Gegenstandes fast deckungsgleich. Beide behandeln die Entwicklung der Ungleichheit in (West-)Deutschland seit 1945, der erste als Revue makrosoziologischer Analysen von Helmut Schelsky über Ralf Dahrendorf, die kritische Linke, Ulrich Becks »Risikogesellschaft« bis zu neueren Arbeiten z. B. von Oliver Nachtwey. Der zweite folgt enger der tatsächlichen wirtschaftlichen Entwicklung von Währungsreform und Wirtschaftswunder über die Krisen der 70er Jahre bis zu den jüngsten Debatten, die vielleicht eine zu große Aufmerksamkeit bekommen, nur weil sie zum Zeitpunkt der Niederschrift in den Medien viel beachtet wurden. Heute sind sie jedoch schon wieder fast vergessen (Jens Spahns »Tafel«-Interview oder die Debatte um das Rezo-Video).

Butterwegges methodischer Zugang im gesamten Buch besteht im kommentierenden Resümieren zahlloser Publikationen zu dem jeweiligen Thema. Etwas zugespitzt kann man sagen: Er behandelt nicht den eigentlichen Gegenstand (die Ungleichheit) selbst, sondern nur die Metaebene seiner ökonomischen, soziologischen, politologischen oder philosophischen Aufarbeitung durch Hunderte von Fachleuten sowie gelegentlich auch durch Politik und Medien. In der Kommentierung der jeweiligen Analyse wird immer wieder seine persönliche Sichtweise deutlich. Er sympathisiert mit einer systemischen Analyse der Ungleichheit, die diese als notwendige Folge eines politisch immer weniger gezügelten Kapitalismus sieht, wovon andere Theorien bei allen partiellen Einsichten und Verdiensten im Grunde nur verschleiernd ablenkten.

Fleißarbeit mit Mut zur Lücke

Dabei kann die gigantische Lese- und Schreibleistung des Kölner Armutsforschers die Leserinnen und Leser nur mit staunender Bewunderung erfüllen. Allein die Literaturauswahl im Anhang umfasst ca. 300 Titel. Allerdings sind darin auch mehrere Werke enthalten, die im Text selbst nicht erwähnt werden und wohl als Ergänzungslektüre empfohlen werden. Zusätzlich finden sich in den meisten der über 1.000 Fußnoten Hinweise auf mindestens einen Quelltext (oft mehrere). Also muss man in diesem Buch wohl auch so etwas wie die Zusammenfassung einer jahrelangen Leseleistung sehen, die umso imposanter wirkt, wenn man sie vor dem Hintergrund des hohen sonstigen Outputs Butterwegges sieht: So hat er – laut seiner eigenen Website – allein 2018 vier Bücher mit insgesamt über 1.100 Seiten und 15 Artikel geschrieben und daneben noch 25 Vorträge gehalten.

Der herausragende Nutzen dieses Werkes liegt in diesem kritischen Überblick über Theorien, Analysen und Diskurse, der potenziell viel eigene Lesearbeit erspart, aber nur einen indirekten Blick auf die reale Ungleichheit gewährt. So mag es schon überraschen, dass man im gesamten Buch keine einzige Tabelle findet, die etwa die Entwicklung des Gini-Koeffizienten (oder irgendeines anderen Indikators der Einkommensverteilung) seit 1945 oder wenigstens seit 1990 zeigen würde. Einen einzigen etwas ausführlicheren statistischen Überblick gibt es an einer Stelle über die Armutsrisikoquoten von 2005–2017, um eine Behauptung der CDU zu widerlegen. Auch zur Höhe der Sozialausgaben gibt es keinen Überblick – vielleicht, weil in deren fast stetem Wachstum kaum ein Abbau des Wohlfahrtsstaates sichtbar wird. Für eine aktuelle Analyse fehlt auch eine Auseinandersetzung mit den Einkommensexplosionen in der digitalen Ökonomie, deren Netzwerkeffekte und Null-Grenzkosten (Jeremy Rifkin) die Ungleichheit ankurbeln.

Aber selbst in der überwältigenden Literaturparade vermisst man einige Autorinnen und Autoren. So tauchen im Eingangskapitel des Abschnitts über maßgebliche Theoretiker zwar Karl Marx, Max Weber und Theodor Geiger auf, aber weder David Ricardo noch Vilfredo Pareto und überhaupt wenig Ökonomen (z. B. Nicholas Kaldor, Michał Kalecki, John Bates Clark), deren Arbeiten zu den Standardwerken der Verteilungstheorie zählen. So taucht etwa die Grenzproduktivitätstheorie, die zentrale liberale Legitimation von unterschiedlichen Faktoreinkommen, gar nicht auf – ebenso wenig wie die Unterscheidung zwischen Markteinkommen und verfügbaren Einkommen, die sich durch die staatliche Umverteilung unterscheiden. Der – allerdings einseitig vorbelastete – Rezensent findet da insgesamt die wirtschaftswissenschaftliche Diskussion von Ungleichheit und deren Kritik ziemlich unterbelichtet.

Die überraschendste Lücke ist jedoch das Fehlen zweier Sozialwissenschaftler, ohne die die Agenda 2010, derentwegen Butterwegge aus der SPD austrat und die er ansonsten ausführlich behandelt, kaum zu verstehen ist: die beiden früheren Direktoren des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Fritz W. Scharpf und Wolfgang Streeck. Beide Vordenker im SPD-Umfeld, die angesichts struktureller Massenarbeitslosigkeit einen Niedriglohnsektor forderten (zwischen 1995 und 2002), wenn auch mit Einkommenskompensation. Auch Hans-Werner Sinn, dessen Buch Ist Deutschland noch zu retten? die wohl einflussreichste Arbeit zur Rechtfertigung von tief greifenden Reformen des Sozialstaates und der Arbeitsmarktordnung war, taucht nur mit zwei späteren kleineren Aufsätzen auf. Man vermisst auch Peter Bofinger, bis Ende Februar 2018 »linker« Vertreter im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und prominenter Agenda-kritischer Ökonom. Die Agendapolitik erfährt damit eine relativ einseitige Bewertung. Die massiven ökonomischen Probleme der Republik nach der Wiedervereinigung werden ebenso ausgeblendet wie die Frage, inwieweit die Agendapolitik für die relativen Erfolge der deutschen Wirtschaft in den letzten zehn Jahren verantwortlich war. Eine genauere Betrachtung hätte ja nicht in eine Befürwortung der Hartz-Reformen enden müssen, sondern in einer besser begründeten und damit überzeugenderen Kritik. Gerade Streeck, der in den letzten Jahren einen radikalen kapitalismuskritischen Kurs vertreten hat, wäre ein Kronzeuge für Butterwegges Position.

Als Gesamteindruck bleibt dann doch eher der einer – sicher außerordentlich umfänglich recherchierten – Kampfschrift, die den Kämpferinnen und Kämpfern gegen Ungleichheit sicher viele Argumente liefert. Aber auch diese Argumente wären hilfreicher, wenn sie die Gegenposition nicht so oft vorschnell verurteilten oder ignorierten und ökonomisch und statistisch besser belegt und begründet wären. Das Buch wird also insgesamt seinem Untertitel kaum gerecht. Dieser würde besser »Deutschland – eine Klassengesellschaft« lauten, um die Erwartungen der Leserschaft angemessener zu erfüllen.

Christoph Butterwegge: Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland. Beltz Juventa, Weinheim 2019, 414 S., 24,95 €.

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