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Hannah Arendt und Dolf Sternberger im Briefwechsel »Deutschland hat den gesunden Menschenverstand nie gehabt«

Das Briefgeheimnis gehört zum Selbstverständnis moderner Staatlichkeit. Während ein Preuße im 18. Jahrhundert für unbefugtes Öffnen fremder Post mit Körperstrafen oder einer Anklage wegen Meineids rechnen musste, spielte der von Neugier Übermannte im Frankreich jener Jahre gar mit dem Tod. Spätestens seit der Französischen Revolution wurde das Briefgeheimnis in vielen Ländern zu einer rechtlich verbürgten Selbstverständlichkeit. Nicht zuletzt deshalb erfreuen sich veröffentlichte Briefwechsel besonderer Beliebtheit – ermöglicht dieser Zweig der Literatur doch jedem, sich der Sensationslust bis hin zum Voyeurismus in juristisch untadeliger Form hinzugeben. Jedenfalls sorgen selbst äußerst umsichtig edierte Briefwechsel oft für Überraschungen.

Im Falle Hannah Arendts und Dolf Sternbergers, die sich seit dem Studium bei Karl Jaspers in Heidelberg kannten und zeitlebens in Freundschaft verbunden blieben, taucht die Überraschung im letzten Drittel des vorliegenden Buches auf. Da muss der Leser erstaunt feststellen, dass den Korrespondenzpartnern auch nach 40 Jahren Bekanntschaft und 20 Jahren Briefwechsel nicht einmal das Geburtsdatum des anderen bekannt war. Im Oktober 1966 schreibt Sternberger an Arendt, ihm sei zu Ohren gekommen, dass sie Geburtstag habe (immerhin ihr 60.), und im Antwortschreiben Arendts heißt es: »Lass mich wissen, wann der Deine ist (…)«. Aber selbst diese Episode vermag den freundschaftlichen Ernst, der den Briefwechsel insgesamt kennzeichnet, nicht zu schmälern, sie hebt ihn in paradoxer Form eher hervor.

Es war Sternberger, der ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs den Kontakt zu der in die USA emigrierten Philosophin wieder aufnahm, um sie für eine regelmäßige Mitarbeit an seiner – gemeinsam mit Karl Jaspers, Werner Krauss und Alfred Weber herausgegebenen – Zeitschrift Die Wandlung zu gewinnen. Dort war gerade Hannah Arendts in den letzten Kriegsmonaten entstandener Aufsatz Organisierte Schuld erschienen. Berührend in diesem ersten Brief Sternbergers sind seine Worte über die »umständlichen Verwirrungen«, die hinter ihnen lägen, und seine Freude darüber, dass sich ihre Wege nun wieder zu kreuzen begännen. Der mit einer Jüdin verheiratete Sternberger hatte in den letzten Jahren der Nazi-Herrschaft ein generelles Schreibverbot erhalten, und seine Frau hatte nur dank der Zivilcourage von Freunden, darunter Alexander Mitscherlich, überlebt. Hannah Arendt wiederum hatte nach verschiedenen Exilstationen in Europa, kurzzeitiger Internierung in Frankreich und der Emigration in die USA nicht nur ihr Heimatland, sondern auch ihre sprachliche Heimat verloren. Zwar fließen diese persönlichen Erfahrungen nur äußerst selten direkt in die Briefe ein, aber auf ihnen beruht von Anfang an die innere Spannung dieses brieflichen Austauschs.

Seine journalistische Tätigkeit, die Sternberger nach dem Krieg mit der Zeitschrift DieWandlung wieder aufnahm, stand ganz im Zeichen der zurückliegenden Schreckensjahre. Seine Glossen, in denen er sich mit der Sprache des NS-Regimes auseinandersetzte, später mit Texten von Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind veröffentlicht unter dem Titel Aus dem Wörterbuch des Unmenschen, bilden eine lesenswerte Ergänzung zu Victor Klemperers Studie LTI über die Sprache des Dritten Reiches. Heute scheint Sternbergers Vermächtnis hauptsächlich in der griffigen, durch ritualisierte Wiederholung bereits entkernten Formel vom Verfassungspatriotismus zu bestehen. Dabei gewinnen seine Studien über die Tücken des Verhältniswahlrechts immer mehr an Aktualität, und das gilt besonders für seine Rede über die Rolle der Sozialdemokratie, gehalten 1963 zum 100-jährigen Jubiläum der ältesten politischen Partei Deutschlands. Jedenfalls verdiente Sternberger – der Briefwechsel mit Hannah Arendt belegt es eindrucksvoll – heute deutlich mehr Aufmerksamkeit.

Angestoßen wurde der Briefwechsel durch Hannah Arendts bereits erwähnten Aufsatz Organisierte Schuld. Es ist ein auf das Wesentliche beschränkter Text, der im Kern viele Grundgedanken ihres späteren Werks andeutet oder vorwegnimmt: Gedanken über Macht und Gewalt, die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, die Banalität des Bösen. Glücklicherweise ist dieser Text, in dem Arendt auf wenigen Seiten die ganze Spannweite ihres Denkens erkennen lässt, wie auch ihre analytische Strenge und unerschütterliche Humanität, dem Briefwechsel beigefügt worden. Es ist der darin sich öffnende historische Abgrund, der die tiefe Verbundenheit der Briefpartner besonders hell erstrahlen lässt. Seien es Sternbergers Dankesbriefe für Zigaretten und Lebensmittel, die Arendt aus Amerika schickt, oder die in fast jedem Brief ausgedrückte Hoffnung auf ein persönliches Wiedersehen. So schreibt Sternberger Ende April 1949 als Antwort : »daß Du mich manchmal vermisst, hör ich schrecklich gern: ich vermisse Dich immer«.

Dennoch war die Verbindung zwischen Arendt und Sternberger, wie der Herausgeber Udo Bermbach in seiner Einleitung schreibt, eine ungleiche Freundschaft. Die räumliche Trennung und der ungleiche berufliche Erfolg spielten dabei sicherlich eine Rolle. Auch der brieflich ausgetragene Streit über Martin Heidegger zeigt die Grenzen dieser Freundschaft. Der Konflikt entzündete sich, als Sternberger, der bereits 1934 eine kritische Dissertation über Heidegger veröffentlicht hatte, im August 1949 dessen Brief über den Humanismus Arendt zur Rezension anbot, um, wie er hinzufügte, »diese Sache beim Schopfe zu ergreifen und so von vornherein Position zu beziehen«. Als Arendt das Angebot wenige Tage später mit den Worten ablehnte, sie halte Heideggers Schrift für »echte Philosophie«, bei der Polemik »gar keinen Sinn« habe, hakte Sternberger nach: Er habe sie gar nicht für eine Polemik gewinnen wollen, aber nach abermaliger Lektüre des Heidegger-Textes sei es ihm schwer vorstellbar, »keine Satire zu schreiben«. Dass Arendt und Sternberger den Meisterdenker unterschiedlich beurteilten, liegt auf der Hand, aber deutlich wird auch, dass Sternberger von der verschlungenen Beziehung seiner Briefpartnerin mit dem Seins-Philosophen damals nicht wusste.

In den letzten Jahren wird der briefliche Austausch lockerer. Es sei nicht mehr »so viel Zeit übrig, daß man nach Laune damit schalten könne«, schreibt Sternberger Ende Dezember 1974, woraufhin Arendt ihm zuruft: »Wir werden halt alt und wollen unsere Ruhe haben.« Es sind dann der Kirchenlehrer Augustinus, über den Arendt ihre Promotion verfasst hatte, und der Staatstheoretiker Machiavelli, in den zu verlieben sie immer eine Neigung gehabt habe (so im Dezember 1973), die dem Briefwechsel gegen Ende eine besondere Intimität verleihen. Der letzte Brief Sternbergers an seine »liebste Denkerin« vom 10. Dezember 1975 blieb unbeantwortet – Arendt war wenige Tage zuvor gestorben. Ihr Briefwechsel ist ein Dokument der Menschlichkeit, das auf ebenso berührende wie bedrückende Weise auf vieles hinweist, was uns heute verloren zu gehen droht.

Hannah Arendt/Dolf Sternberger: »Ich bin Dir halt ein bißchen zu revolutionär«. Briefwechsel 1946 bis 1975 (herausgegeben von Udo Bermbach). Rowohlt, Berlin 2019, 480 S., 38 €.

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