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© picture alliance / Markus C. Hurek | Markus C. Hurek

Über das lange Leben der Stereotype Deutschlandbilder

Im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine erscheint es nahezu selbstverständlich, sich die Russlandbilder und die Ukrainebilder der völkerrechtlich nicht beteiligten Staaten anzuschauen. Wieso aber sollte man sich über das Deutschlandbild Gedanken machen? Wie sich zeigen wird, lohnt es sich aber sehr wohl, in diesem Zusammenhang darüber nachzudenken, in welchem Ausmaß sich die Deutschlandbilder, also die Steretype von Deutschland beziehungsweisen von den Deutschen sowohl der in- wie der ausländischen Publizistik verändert haben.

Zahlreiche Stimmen in den Debatten des Jahres 2022 unterstellen ein deutsch-russisches Sonderverhältnis. Zufällig traf der Kriegsausbruch in der Ukraine fast mit einem als bedeutsam angesehenen Jahrestag zusammen: Etwa ein Jahrhundert zuvor, am 16. April 1922 (einem Ostersonntag), wurde in dem italienischen Badeort Rapallo – ohne Wissen der damaligen Westalliierten England und Frankreich – der deutsch-sowjetische Vertrag zur Normalisierung der Beziehungen zwischen den beiden als Außenseiter des damaligen Staatensystems angesehenen Mächten abgeschlossen.

Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass sich im Frühjahr 2022 viele europäische Nachbarn daran erinnerten. Sowohl in Frankreich und England als auch in Polen wurde damals und wird historisch bis heute die antipolnische Spitze des Rapallo-Abkommens betont. Nicht zu leugnen ist, dass es 1922 einige interne deutsche Quellen gab, die eine solche Motivation der Vertragspartner bestätigten.

Der Rapallo-Komplex

Rapallo ist seitdem zu einer Metapher für deutsch-russische Sonderbeziehungen geworden, mit der Unterstellung, dies geschehe immer zum Schaden anderer. Anlässlich des Hitler-Stalin-Pakts 1939, Adenauers Moskaureise 1955 und Willy Brandts Ostpolitik tauchte immer wieder Rapallo als Metapher auf, sowohl bei innenpolitischen Gegnern der jeweiligen Russlandpolitik (etwa Franz-Josef Strauß) als auch bei misstrauischen Beobachtern von außen.

So wundert es kaum, dass darauf auch in den letzten Monaten häufig zurückgegriffen wurde. Einen Rapallo-Komplex gab und gibt es also in fast allen europäischen Ländern. Dabei ist nicht zu leugnen, dass es preußisch-russische und seit 1871 auch deutsch-russische Verständigungen und Beziehungen gegeben hat, die gelegentlich zum Schaden anderer intentioniert waren und sich in konkreten Situationen auch auswirkten, besonders eklatant in den Teilungen Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Das ist heutigen Politikern auch bekannt, und gerade im Dialog Gerhard Schröders mit Wladimir Putin während der Jahrtausendwende vor 20 Jahren ist mehrfach betont worden, dass man eben nicht eine sprengende Sonderbeziehung konstruieren wolle, sondern es um die europäische Einbindung einer deutsch-russischen Verständigung gehe. Dahinter steht natürlich auch, dass Entspannungspolitik niemals eine deutsche Erfindung war und ist, sondern auch schon in den 60er Jahren in einen gesamteuropäischen Prozess einzuordnen war.

Rapallo wird zwar als Metapher missbraucht, ist aber weder ein Klischee noch ein Stereotyp. Damit ist nicht gemeint, dass Letztere nicht ständig in der publizistischen Aufgeregtheit des Jahres 2022 benutzt würden. Denn schließlich spielen Selbstbilder, also Autostereotype, und Fremdbilder, also Heterostereotype, in politischen Debatten um das eigene politische Selbstverständnis einer Gesellschaft und einer politischen Elite meist eine erhebliche Rolle, ja es besteht oft ein enger Zusammenhang zwischen »Fremd« und »Selbst«.

Kritik am Verhalten der deutschen Regierung, vor allem an Details der Waffenlieferungen an die Ukraine, ist aktuell relativ häufig zu vernehmen. Welche Realität dem auch immer zugrundeliegen mag, so stellt sich doch für den Stereotypehistoriker die Frage, ob dahinter etwa das Stereotyp des »hässlichen Deutschen« steckt, das immerhin sogar in Wikipedia als aus dem Ersten Weltkrieg stammendes »deutschenfeindliches Klischeebild« bezeichnet wird. Hier ist diese beliebte Wissensquelle zunächst einmal zu korrigieren: Der »hässliche Deutsche« taucht keineswegs nur in den Diskursen unfreundlicher Nachbarn auf, sondern gehört offensichtlich ebenfalls wörtlich oder sinngemäß zu den häufig benutzten deutschen Selbstbildern. Diesem Umstand wird oft wenig Aufmerksamkeit geschenkt.

Selbstkritik hat Tradition

Ohnehin befasst sich die deutsche Literatur weitaus mehr mit angeblich deutschfeindlichen Klischees von außen als mit negativen deutschen Heterostereotype über andere Völker wie Russen, Franzosen, Polen oder Tschechen. Man mag es als kollektive Selbstfrustration verstehen, wenn allenthalben festzustellen ist, dass selbstkritische Urteile im deutschen Schrifttum schon seit dem 16. Jahrhundert recht verbreitet waren. Sie sind also keineswegs lediglich eine Folge der Auseinandersetzung deutscher Intellektueller mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust. Denn was auch immer das internationale Erinnern an den deutschen Judenmord angeht, die deutsche Elite brauchte Selbstkritik nicht erst nach 1945 aus dem Ausland zu lernen, sondern es lag in der Tradition des deutschen Diskurses seit Ulrich von Hutten, also seit der Renaissance.

Allerdings – die Breitenwirkung, die diese Debatte in den 60er und 70er Jahren zeitigte, war doch etwas Neues, da sie sich nicht mehr auf die Elite beschränkte. Insofern passte die sogenannte Vergangenheitsbewältigung auch nicht mehr allein in die diskursive Tradition des negativen Selbstbildes vom »hässlichen Deutschen«. Und schon gar nicht in das entsprechende negative Fremdbild.

Der militaristische Deutsche (= Preuße) mit Drill und Kadavergehorsam, das deutsche Diktat (beispielsweise in der Eurokrise), die rücksichtslose wirtschaftliche Übermacht, die ihre quantitative Überzahl unter den europäischen Nationen bedenkenlos ausnutzt, der deutsche Oberlehrer, der bei allen Weltfragen glaubt, die beste (= klügste) Lösung anbieten zu können – all diese Deutschen-Stereotype unserer Nachbarn sind zwar in unterschiedlichen Situationen entstanden, beschränken sich aber keineswegs nur auf das 20. Jahrhundert.

Es gibt keinen Grund, warum es sie nicht mehr geben sollte; schließlich werden die traditionellen negativen Fremdbilder in Deutschland – wie die von der »polnischen Wirtschaft«, den »leichtlebigen Franzosen« oder den »brutalen Russen« – ebenfalls weiterhin verwendet. Politische Allianzen und Versöhnungsprozesse haben noch kaum zum Verschwinden von Klischees geführt – man vergleiche nur die in England verbreiteten Franzosen-Stereotype.

Allerdings entsprechen die im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg benutzten Deutschlandbilder nur wenig dem traditionellen Deutschenbild. Hier ist einiges zu beachten. Zunächst einmal steckt hinter dem Drängen, die Tradition deutsch-russischer Entspannungspolitik als einen schon immer begangenen Fehler, als ein grundsätzlich bedauerliches Verhalten anzusehen, offensichtlich ein negatives Russlandbild, also ein antirussisches Heterostereotyp, denn die Ermahnung spricht sich ja nicht generell gegen jegliche Versöhnung aus, sondern nur gegen eine mit einem bestimmten Partner.

Oder soll der deutschen Politik vorgeworfen werden, sie sei nicht anpassungsfähig, sie folge nicht schnell genug der Stimmung anderer westeuropäischer Gesellschaften und Staaten? Dass die Deutschen mental zu langsam seien, oder gar zu friedfertig, gehörte bisher nicht zu dem Bild des »hässlichen Deutschen«.

Im englischen Sprachgebrauch gibt es zwei komplementäre Deutschen-Stereotype: German Angst und German assertiveness als »charakteristisch empfundene, gesellschaftliche und politische, kollektive Verhaltensweisen der Deutschen – zwei Stereotype, die entweder als komplementär oder aber als widersprüchlich verstanden werden können und so auch je nach politischer Opportunität benutzt werden.

Deutsches Selbstbewusstsein wurde letztens kaum mehr thematisiert, wohingegen die German Angst gerade aktuell nicht selten angesprochen wird. Dieses englische Stereotyp, im 19. Jahrhundert aus der Lektüre der deutschen Romantik entnommen und auch in der französischen Publizistik zu finden, widersprach eigentlich dem damals vorherrschenden deutschen Selbstbild, wurde und wird aber gelegentlich in der deutschen Publizistik übernommen, zum Beispiel als Kritik an der Reaktion auf Fukushima oder auf die COVID-Pandemie, oder auch über die deutsche Aufgeregtheit, wenn von einer drohenden Inflation die Rede ist.

Stereotype im Wandel

Selbstbilder, Autostereotype sind Ausdruck eines »Wir«-Gefühls. Je stärker eine Gesellschaft ihre Gemeinsamkeit betont, um so eindeutiger kann sie die Selbstbilder malen, meist auf der Basis emotional aufgeladener Wertvorstellungen. Oft steckt dahinter die unausgesprochene Behauptung, durch letztere unterscheide man sich von »den Anderen«, den Nachbarn, unbeliebten Minderheiten, Gegnern.

Ähnlich funktionieren auch die Fremdbilder, die in einer Gesellschaft gepflegt werden. In konkreten Debatten ist festzustellen, dass Stereotype von der politischen Publizistik je nach der situativen Opportunität benutzt werden.

Allerdings darf man hier nicht einem Irrtum aufsitzen. Moderne Gesellschaften haben sich in den letzten 200 Jahren immer stärker differenziert – sozial, regional, kulturell und damit auch mental. Das betrifft auch die in ihren Diskursen benutzten Stereotype. Während 1990 bei manchen europäischen Nachbarn Ängste vor einer deutschen Übermacht herumgeisterten, lautet anscheinend heute der Vorwurf, dass »die Deutschen« zu wenig Führungskraft an den Tag legen würden – wobei dann seltsamerweise unter Führungskraft verstanden wird, sich dem derzeit negativen westlichen Russlandbild anzupassen.

Stereotype geben vor, auf einem kollektiven Konsens zu beruhen. Inden Debatten des Jahres 2022 kann man einen erheblichen Dissens sowohl innerhalb der deutschen Gesellschaft als auch zwischen den westlichen Regierungen und Gesellschaften feststellen. Dissens sollte eigentlich in demokratischen Gesellschaften, worauf sich ja »der Westen« beruft, als selbstverständlich gelten.

Stereotype sollen nach allgemeiner Ansicht recht langlebig sein. Das trifft auf viele emotionale Wertezuschreibungen zu, auch wenn empirisch häufig festzustellen ist, wie wandlungsfähig sie in der Praxis sein können. Gerade in Deutschland gehörte es nach 1945 zum guten Ton, angesichts des Zweiten Weltkriegs die eigene Wandlungsfähigkeit zu betonen. Hier ist eine gewisse Widersprüchlichkeit festzustellen – weder die deutsch-französische noch die deutsch-polnische Aussöhnung haben zu einem Verschwinden der deutschen Frankreich- und Polen-Stereotype geführt. Von den deutschen Russen-Stereotype ganz zu schweigen, trotz Rapallo.

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