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Genese und Geschichte eines Jahrhundertbuchs Dialektik der Aufklärung

»Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie« – mit der Konsequenz, dass Mythologie bestehende gesellschaftliche Verhältnisse weiterhin als notwendig darstellt und, wie es bei Adorno und Horkheimer heißt, den Einzelnen gegenüber ökonomischen Mächten »vollends annulliert«. Es sind geradezu Stakkatosätze, die auf die Leserinnen und Leser der Dialektik der Aufklärung niederprasseln.

Das berühmte Buch, das Theodor W. Adorno (1903–1969) und Max Horkheimer (1895–1973) in den Jahren 1942 bis 1944 im amerikanischen Exil schrieben, zählt heute zu den Klassikern der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Den Autoren ging es um »die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt« – eine Fragestellung, die bis heute aktuell erscheint.

Dem relativ schmalen Band war die weltweite Resonanz nicht in die Wiege gelegt worden. Wie der Untertitel »Philosophische Fragmente« andeutet, war es eigentlich nur eine Sammlung einzelner Essays, die Keimzellen späterer Arbeiten sein sollten. 1947 erschien das Buch in kleiner Auflage und wurde lange kaum beachtet; dann erkannten kritische Geister in den 60er Jahren, dass hier ein Buch von enormer Sprengkraft zu entdecken war. Es erschienen Raubdrucke, die der S. Fischer Verlag juristisch zu verhindern suchte, bis das Buch 1969, Adornos Todesjahr, erneut aufgelegt wurde.

Jetzt hat der Literaturwissenschaftler Martin Mittelmeier, Jahrgang 1971, diesem »Jahrhundertbuch« eine rundum lesenswerte Darstellung gewidmet. Dabei holt er weit aus, geht nicht nur auf das Buch selbst ein, sondern beschreibt auch den Lebensweg der beiden Autoren, die Geschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, seine intellektuellen Verästelungen in Deutschland bis 1933 und im amerikanischen Exil, hier vor allem das intellektuelle und gesellschaftliche Leben an der Westküste nahe San Francisco, wo Adorno und Horkheimer seit Anfang der 40er Jahre in der Nachbarschaft anderer namhafter Emigranten lebten

Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und das Institut für Sozialforschung, in ihrer Nachfolge auch Jürgen Habermas – sie alle stehen für die Kritische Theorie, eine ursprünglich stark marxistisch inspirierte radikale Gesellschaftskritik. Das Frankfurter Institut war 1924 mittels einer privaten Spende gegründet und der jungen Frankfurter Universität angegliedert worden; nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wich es zuerst nach Genf und Paris, 1934 nach New York aus.

Horkheimer verstand Sozialforschung im weitesten Sinn, womit Mitarbeiter wie Herbert Marcuse (Geschichte), Erich Fromm (Psychologie), Leo Löwenthal (Literatur) und Horkheimers lebenslanger Freund Friedrich Pollock (Ökonomie) gewonnen wurden. Zur längsten und intensivsten Zusammenarbeit aber kam es mit Adorno, der 1938 in die USA kam und für Horkheimer bald unentbehrlich wurde. Ihn bat er dann auch um die gemeinsame Arbeit, was, so Adorno später, dazu führte, dass sie »fast Satz für Satz« gemeinsam schrieben.

Die Dialektik der Aufklärung umfasst drei größere Kapitel und zwei Exkurse. Mittelmeier geht auf alle fünf Abschnitte in ausführlichen Analysen ein und fügt mithilfe späterer Argumente und Einsichten behutsame Wertungen hinzu, die zu größerem Verständnis des nicht leicht lesbaren Textes verhelfen. Schon das zentrale Motiv, die eingangs erwähnte »Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos« zitiert Mittelmeier ausführlich, um sie der Leserschaft besser zu erschließen: »Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Sie will dem Prozess von Schicksal und Vergeltung sich entziehen, indem sie an ihm selbst Vergeltung übt.«

Aufklärung kommt also nicht von dem los, was sie abschaffen möchte. Es bedarf dieser Einsicht, um den Teufelskreis zu durchbrechen; erst dann, so argumentiert Mittelmeier unter Hinweis auf eine andere Passage des Buches, könne Geschichte und damit gesellschaftlicher Fortschritt beginnen.

Das berühmteste Kapitel heißt »Kulturindustrie – Aufklärung als Massenbetrug« und ist, wie Mittelmeier schreibt, »ein Edelstein dunkelster Kulturkritik«. Die allein auf Profit ausgerichtete Kulturindustrie, die sich für beide Autoren vor allem im Kinofilm manifestierte, mache mit ihrer auf bloßen Konsum getrimmten Massenware die Menschen zu gedankenlosen Konsumenten und stelle deswegen, wie schon die Kapitelüberschrift ankündigt, einen Massenbetrug dar. Kultur werde zu einer Ware wie jede andere. Ausgerechnet aus dem Schlusskapitel über den Antisemitismus zitiert Mittelmeier dann den von Adorno und Horkheimer für möglich gehaltenen Umschlag vom menschengemachten Schrecken zur menschenwürdigen Gesellschaft. Zu jenem Zeitpunkt war das ganze Ausmaß des Holocausts noch nicht bekannt.

Exerzitium der Selbstbesinnung

Die zitierten Passagen aus Mittelmeiers Buch könnten vermuten lassen, es sei eine nicht weniger schwere Kost als die Dialektik der Aufklärung selbst. Aber dieser Eindruck trügt. Dem Autor gelingt das Kunststück einer über weite Strecken unterhaltsamen, teilweise heiteren Darstellung. Fast jedes Kapitel beginnt mit anekdotischen Berichten und Geschichten über die Protagonisten: gesellige Abende mit Bertolt Brecht, den der Philosophiebetrieb nebenan amüsiert, Hanns Eisler und dessen mühsame Jobsuche in Hollywood, Leo Löwenthal, der in New York als »Mädchen für alles« agiert, hübsche Frauen, denen Adorno zu Füßen liegt oder ein Geburtstagsfest bei Arnold Schönberg, zu dem das Verhältnis trotz aller Wertschätzung gespannt bleibt.

Besonders aufschlussreich sind die Passagen über Thomas Mann, der sich für Adornos musiksoziologische Texte interessierte und ihren Autor als Helfer und Ratgeber für seinen Roman Doktor Faustus heranzog. Einige Passagen Adornos hat er fast wörtlich in die Lebensbeschreibung seines Protagonisten, des »deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn«, übernommen.

Mittelmeiers ebenso geistreiches wie informatives Buch ist eine Anregung, die Dialektik der Aufklärung erneut oder auch zum ersten Mal zur Hand zu nehmen. Der Leser müsse sich davon nicht einschüchtern lassen: »Egal, wie wenig er versteht, das Eine zumindest versteht er – er ist gemeint. Der Text möchte ihn erschrecken, zu seinem Besseren. Die ›Dialektik der Aufklärung‹ zu lesen, ist ein Exerzitium der Selbstbesinnung.«

Martin Mittelmeier: Freiheit und Finsternis. Wie die »Dialektik der Aufklärung« zum Jahrhundertbuch wurde. Siedler , München 2021, 320 S., 24 €.

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