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Die 68er und der Wertewandel

Auf den ersten Blick klingt es überzeugend: Studierendenproteste in ganz Europa und den USA mit dem Kulminationsjahr 1968 als Auslöser einer längerfristigen Pluralisierung von Normen, Werten und Lebensstilen – und zugleich als deren sichtbarster Ausdruck. Stehen die 68er und der Wertewandel also in einem kausalen Zusammenhang?

Bei näherem Hinsehen ist die Lage komplizierter. Da wäre zunächst die Frage nach den Begriffen und ihrer Reichweite. Gemeinsam ist beiden, dass sie eine transnationale, wenn nicht globale Gültigkeit beanspruchen und die These einer auf Fortschritt gerichteten Entwicklung beinhalten.

Die Zeitgeschichtsforschung hat herausgearbeitet, dass 1968 als Chiffre für ein Set von Ereignissen und Wandlungsprozessen in einer Phase von den späten 50er bis in die frühen 70er Jahre zu verstehen ist. Getragen wurden diese von unterschiedlichen Akteuren und Protestbewegungen, deren gemeinsamer Nenner eine Fundamentalkritik an den Machtstrukturen, Normen und Werten der Gesellschaft, in der sie lebten, war – erkennbar zumeist in der Form eines heftigen Generationenkonfliktes. Die Ziele waren so divers wie die Protestformen: In Westdeutschland beispielsweise verband die Generation der um 1940 Geborenen das Entsetzen über die NS-Verbrechen und die Reintegration der Täter in die Nachkriegsgesellschaft mit der Kritik an den Notstandsgesetzen von 1968, die Lektüre der Texte der »Frankfurter Schule« mit Sympathie für die postkolonialen Befreiungsbewegungen, die Proteste gegen den Vietnamkrieg mit der Forderung nach einer fundamentalen kulturellen Revolution, die Einsicht in die politische Bedeutung privater Entscheidungen (»the personal is the political«) mit einem Rückzug in eine spontane, kreative Gegenkultur (»counter culture«).

Zugleich hat die Forschung der letzten Jahrzehnte erwiesen, dass 68 und damit auch die Protestbewegungen der 60er Jahre als internationales Phänomen verstanden werden müssen – und dass deren höchst heterogene Trägergruppen sich selbst als Teil einer globalen Bewegung sahen. Dabei hatten insbesondere die Proteste der US-amerikanischen Bürgerrechts-, Studenten-, Frauen- und Antivietnamkriegsbewegung (und die vielfältigen Überschneidungen zwischen diesen) für die Protestbewegungen in den westeuropäischen Gesellschaften Vorbildcharakter, vor allem in der Bundesrepublik. Und doch sind bedeutende Unterschiede in den Bewegungen und Protestformen nicht zu übersehen: Wenn Tom Hayden vom US-amerikanischen SDS, den »Students for a Democratic Society«, bereits 1962 im Port Huron Statement erklärte: »We are people of this generation (…) looking uncomfortably to the world we inherit«, verlieh er einem transnationalen Unbehagen der jungen Generation an den Werten und der Lebensweise der Elterngeneration Ausdruck. Doch die jungen Amerikaner/innen bezogen sich auf weitgehend andere Problemfelder als etwa die westdeutschen Studierenden in Berlin: manifeste rassische Segregation der US-Gesellschaft, imperiale Politik der USA in der Welt, verbreitete Konsumfixiertheit und die Macht des »militärisch-industriellen Komplexes«. Die Studierenden in der Bonner Republik hatten es dagegen vor allem mit der nicht-thematisierten NS-Vergangenheit, den schweigenden »Nazi-Eltern« und der NS-Elitenkontinuität (deren Ausmaß sie jedoch nicht erkannten) zu tun – mit verkrusteten Autoritätsverhältnissen und Familienstrukturen.

Der Begriff »Wertewandel« zielte ebenfalls von Beginn an auf die Identifikation eines globalen Phänomens. 1977 hatte der amerikanische Politologe Ronald Inglehart in seiner Studie The Silent Revolution auf der Grundlage von Meinungsumfragen einen vermeintlichen Übergang von materialistischen zu post-materialistischen Werten in den westlichen Industriegesellschaften identifiziert und dies zur Diagnose eines globalen Wertewandels verdichtet: Der Zeitraum dieses Wandels sei die Zeitspanne zwischen Mitte der 60er und Mitte der 70er Jahre. In dieser Phase hätten die Befragten begonnen, Selbstverwirklichung und Individualismus gegenüber Sicherheit, materiellem Wohlstand, Gehorsam und Pflicht zu privilegieren. Die Zeitgeschichte hatte das Wertewandel-Paradigma insbesondere zur Beschreibung einer fundamentalen Veränderung der Normen und Werte ab Mitte der 60er Jahre verwandt – für die BRD auch unter den Schlagworten »Westernisierung« oder auch »Liberalisierung«. Doch Ingleharts Konzept des Wertewandels ist problematisch, beschreibt es doch eine lineare Entwicklung im Sinne von »Fortschritt« und »Modernisierung«, die im Postmaterialismus ihren vorläufigen Abschluss findet und keine Änderung der Werthaltungen der Individuen in späteren Lebensphasen oder aber eine Rückkehr zu stärker materiellen Werten vorsieht.

Erst seit Kürzerem hat eine historische Wertewandelforschung damit begonnen, die Pluralisierungs- und Liberalisierungsprozesse in den westlichen Industriegesellschaften (teilweise auch im transnationalen Vergleich) in einer längeren Zeitperspektive zu untersuchen und kommt zu einer deutlich differenzierteren Einschätzung: Unbestritten pluralisierten sich in den Industriegesellschaften des Westens, darüber hinaus aber auch in vielen Staaten Süd- oder Osteuropas, in einem Zeitraum zwischen den 50er und 70er Jahren gesellschaftliche Werte: Familienwerte und Geschlechternormen, Generationenbeziehungen und Partizipationschancen, Sexualmoral und Kulturbegriff sowie der Stellenwert des Individuums und die Anerkennung der Rechte bislang aus ethnischen, sozialen oder moralischen Gründen marginalisierten und unterdrückten Gruppen. Dies zeigen nachhaltige Veränderungen auf so unterschiedlichen Feldern wie Reproduktion (Scheidungs- und Abtreibungsrecht, Sexualnormen), gesellschaftliche Teilhabe (Bürgerrechts- und Gleichberechtigungsgesetze), Bildung (Koedukation, Ausweitung des Bildungszugangs und Liberalisierung der Unterrichtspraxis), Populärkultur (Medialisierung, Ausweitung der Formate und medialen Praktiken), Konsum- und Freizeitverhalten, Familie (Erziehungsstile, Partnerschaftskonzepte) sowie schließlich der Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit. Unbestritten sind dabei auch die Rollen sozialer Protestbewegungen, der Bürgerrechtsbewegung (in den USA), der Studenten- und Frauenbewegungen, später der Homosexuellen- und Umweltbewegungen. Aber die genannten Pluralisierungsprozesse verliefen weder linear, noch waren sie alleiniges Resultat der 60er Jahre. Im Gegenteil: Wellen des Wertewandels kennzeichneten bereits die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und Wertewandelprozesse forderten auch nach den 60er Jahren ausgesprochen heftige Gegenbewegungen heraus.

Dass soziale Protestbewegungen in transnationalem Kontext gedacht werden müssen und dass Wertewandelprozesse wellenförmig verlaufen, zeigt sich anschaulich auf dem Feld der Familie und der Geschlechternormen: Zwar erscheinen die 60er und frühen 70er Jahre zunächst als bedeutsame Transformationsphase (Gleichberechtigungspostulat, hormonelle Verhütung und Reform des Abtreibungsrechts, Liberalisierung der Ehescheidung). Gleichzeitig lassen sich auch bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts entscheidende Liberalisierungsprozesse festmachen, z. B. in den Debatten um die Anerkennung der Ehescheidung in den USA, um die Eheberatungsstellen in der Weimarer Republik und die Entwicklung der Familienplanung in den USA der 20er/30er Jahre. Auch die 50er Jahre weisen progressive Neuaushandlungen aus, beispielsweise die Entdeckung der Frau als Konsumentin und die Durchsetzung der Teilzeitarbeit für Frauen. Selbst in den 80er Jahren lassen sich in den USA während der konservativen Reagan-Ära Effekte der sozialen Bewegungen feststellen, sowie in der Frauengesundheitsbewegung, im Black Feminism/Chicana Feminism und in der Liberalisierung des im Fernsehen visualisierten Familienideals. In Westdeutschland dagegen eskalierte der Streit um den Paragraphen 218 als Resultat einer zunehmend radikaleren Frauenbewegung. Gleichzeitig zeigen sich auch in den 60er/70er Jahren Ansätze der (Re-)Biologisierung von Geschlechterrollen, was die Annahme eines linearen Wertewandels verbietet. In den USA geschah dies zum einen durch radikale Interventionen in vermeintlich defizitäre Familien durch Eugenik und soziale Sterilisationen, aber eben auch innerhalb der Black-Power-Bewegung, welche afroamerikanische Frauen auf ihre Rolle als Mütter neuer Mitglieder der Bewegung festlegen wollte.

In der Weigerung, egalitäre Gendernormen zu akzeptieren, lag eine ganz spezifische Begrenzung gerade der Studenten- und Bürgerrechtsbewegung der 60er Jahre. Dies hatten die Frauen in den USA früh erkannt, es führte sie unter anderem zu polemischen und plakativen Protesten gegen die Misswahlen in Atlantic City 1968. In der Bundesrepublik hielt dagegen Helke Sander im gleichen Jahr SDS-Mitgliedern vor, dass der »SDS innerhalb seiner Organisation ein Spiegelbild gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse« sei. Daraus resultiere, dass »das spezifische Ausbeutungsverhältnis, unter dem die Frauen stehen, verdrängt wird, wodurch gewährleistet wird, dass die Männer ihre alte, durch das Patriarchat gewonnene Identität noch nicht aufgeben müssen«. Es folgte die Selbstorganisation zur Frauenbewegung der 70er Jahre – wie Alice Schwarzer diagnostiziert hat, erst aus dem Protest gegen die Linke.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sowohl 1968 als auch der Wertewandel Containerbegriffe sind, die erstens der historischen Kontextualisierung und Präzisierung bedürfen und zweitens in keinem simplen Kausalitätsverhältnis stehen. Unbestritten sind die Protestbewegungen der 60er Jahre Ausdruck und Motor eines gesellschaftlichen Wertewandels zugleich. Aus der Langzeitperspektive stellt der sich aber keineswegs so linear dar, wie lange angenommen. Mit ins Bild gehören dabei auch die jeweils antiliberalen Elemente (z. B. die Anwendung von Gewalt) der höchst heterogenen Protestbewegungen.

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