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© picture alliance / PantherMedia | Dimitris Skordopoulos

Vom Kampf der Kulturen zum Dialog Die alte und die neue Weltordnung

Putins Krieg gegen die Ukraine und dessen Charakterisierung als völkerrechtswidriges Verbrechen kann durch berechtigte Hinweise auch auf gravierende Versäumnisse des »Westens« um keinen Deut relativiert werden. Er hat der Suche nach einer neuen Weltordnung neue Herausforderungen hinzugefügt. Es geht um die heikle Frage, durch was die von den USA begründete und – wo sie es für angebracht hielt – mit überlegener Militär- und Finanzmacht zusammengehaltene »liberale Weltordnung« ersetzt werden soll.

Die offensichtlichen Schwächen der westlichen Führungsmacht mit ihren inneren und weltpolitischen Verschleißerscheinungen, zuletzt beim Krieg in Afghanistan und dem Putschversuch ihres amtierenden Präsidenten gegen die eigene Verfassungsordnung im Januar 2021, befeuern diese Suche und halten sie gleichzeitig offen. Trotz der vorübergehenden Neubelebung der alten Führungsrolle der USA durch Putins Krieg steht die Demokratie des Landes am Abgrund und damit auch seine einstige globale soft power. Ohne diese kann die Weltmacht aber nicht länger als geachtete Autorität verlässlich wirken. Die EU andererseits, die das erkannt hat, ringt trotz ihres momentanen Zusammenrückens gegen das aggressive Putin-Russland weiterhin ergebnisoffen um weltpolitische »Autonomie«.

Putins auch für harte »Realisten« erschreckend brutale und riskante Kriegspolitik mit ihrer revisionistischen Zielsetzung, die Friedensgrenzen in Europa mit Waffengewalt neu zu ziehen, wirft schwierige Fragen auf. Da ist zum einen der mit drohendem Nachdruck erhobene Anspruch Russlands als gleichrangige dritte Weltmacht neben den USA und China respektiert zu werden, mit der indirekten Drohung, dafür notfalls auch künftig auf das Völkerrecht zu pfeifen.

Diese Motivation wird kompliziert durch Putins facettenreiches Spiel mit einer kultur-fundamentalistischen Rechtfertigung seiner Gewaltpolitik im Inneren und nach außen mit Hinweis auf seine allem Recht übergeordnete »heilige historische Verantwortung« für die wesenhafte Einheit der »russischen Welt« diesseits und jenseits aller bestehenden Grenzen. Diesem geostrategisch instrumentalisierten Wahn scheint, wie Insider meinen, sogar der beispiellose Zivilisationsbruch einer Auslöschung der Ukraine nicht fremd. Und schließlich stellt Putins Versuch eines Schulterschlusses mit dem mächtigen China die Frage nach dem Charakter der zu erwartenden globalen Hauptkonflikte der Zukunft und der Chancen ihrer Regelung ganz neu.

Eine neue Ordnung verlangt aber trotz alledem gemeinsame Antworten auf diese Fragen weit über den Problemdruck und die Empörung des Augenblicks hinaus. Joe Bidens Versuch, den moralischen Bankrott Putin-Russlands für eine Reparatur der brüchig gewordenen »liberalen« Ordnung zu nutzen, erscheint im Lichte der Veränderungen im Selbstverständnis, in der Machtbasis und der Interessenlage der vier geostrategischen Hauptakteure USA, China, Russland und Europäische Union aussichtslos.

Entgegen der momentanen Stimmung bleibt für vernunftbestimmte Weltpolitik die entspannungspolitische Einsicht Willy Brandts maßgeblich, dass eine haltbare Weltfriedensordnung nur von allen Beteiligten gemeinsam geschaffen werden kann. Das Ziel muss weiterhin gemeinsame Sicherheit für alle heißen. Putins fundamentale Zertrümmerung aller Regeln widerlegt das nicht, präzisiert aber die Voraussetzungen.

Als ein mögliches Hindernis auf dem notwendigen Weg dazu dürfte sich der auf beiden Seiten der Frontlinie erwachende neue »McCarthyismus«, der böse Geist des ersten Kalten Krieges, erweisen. Er folgt dem erbarmungslosen Grundgesetz, dass jede vom »Gleichdenk« des härtesten Mainstreams abweichende Meinungsäußerung in einem der Lager nichts anderes sein kann als ein Angriff der »Fünften Kolonne«. Putin führt das soeben im Extrem vor, indem er diesen Vorwurf offen gegen jeden Kritiker im eigenen Land erhebt und alle Zweifler an seinem Krieg und seinen grotesken Sprachregelungen als »Handlanger des Feindes« brandmarkt, die vom Volk, »den Unsrigen«, »ausgespuckt«, »ausgeschwitzt« werden müssen. Dieses brutale Freund-Feind-Denken betrachtet offene Informationen und Meinungsäußerungen nur noch als Krankheit am »Volkskörper«. Es verstetigt die Bereitschaft zum Zivilisationsbruch.

Einbeziehung der Interessen aller

Auch hierzulande gehen, wenn auch in schwächerer Dosierung, Einflussjournalisten dazu über, schon das Beharren auf Dialog als einzigem Weg zum Frieden und die Rücksicht auf die Interessen der Anderen mit der Floskel zu denunzieren: »Moskau lässt grüßen«. Ohne Dialog und Einbeziehung der Sichtweisen der Anderen, soviel sollten wir aus dem ersten Kalten Krieg gelernt haben, kann es aber keine gemeinsam respektierte internationale Ordnung geben.

Sie kann nur auf der Gleichachtung und das heißt eben Einbeziehung der Interessen aller hervorgehen. Besonders die USA haben in dieser Hinsicht enormen Lernbedarf. Putins Verletzung der elementaren Lebensinteressen von vielen Millionen Menschen in Europa und die Verheerung seines Nachbarlandes hat dem brandtschen Grundsatz aber nun die zusätzliche Betonung seiner Ergänzung durch Helmut Schmidt hinzugefügt: Dialog mit Respekt vor der Sicht des Anderen bleibt das Wichtigste, aber beglaubigt durch eigene Stärke.

In diesem Sinn darf uns die unzweideutige Rolle Putins als Aggressor mit wechselnden Begründungen nicht davon abhalten, die zwiespältigen politischen Motive seines Handelns und seine Sicht der russischen Interessen zunächst einmal zu »verstehen«, also zu »begreifen« im Gegensatz zu »billigen«. Daran erinnern mehrere der klügsten außenpolitischen Analytiker der USA, die zugleich loyale Berater der Regierung ihres Landes waren. Sie verweisen auf die Verletzung von »Kerninteressen« Russlands (so Putin) durch eine unbedachte NATO-Osterweiterung.

Selbst der »Erfinder« der »Containment«-Politik des ersten Kalten Krieges, der hochgeachtete Russlandkenner George F. Kennan fand schon 1997 in der New York Times drastische Worte: Eine Erweiterung der NATO bis and die russische Grenze wäre »der verhängnisvollste Fehler der gesamten Nachkriegszeit« und würde statt irgendwelcher Vorteile nur neue Gegnerschaft und erneuten Kalten Krieg mit sich bringen. Dem ehrenwerten Argument, niemand im Westen könne doch den nunmehr souveränen neuen Grenzländern Russlands, auch der Ukraine oder Georgien, vorschreiben, ob sie der NATO zugehören wollen, hat soeben eine andere einflussreiche Koryphäe der amerikanischen Außenpolitik, John Mearsheimer, die berechtigte Rückfrage entgegengestellt: Wie würden wohl die USA reagieren, wenn an ihrer kanadischen Grenze plötzlich chinesische Truppen stationiert würden und an ihrer mexikanischen Grenze russische Geschütze?

Unter Präsident George W. Bush gewann durch den ideologischen Einfluss der neo-konservativen »Weltrevolutionäre« eine Deutung Einfluss auf die amerikanische Politik, die der »liberalen Weltordnung« stillschweigend die Mission unterschob, überall auf der Welt möglichst auch im Inneren aller Länder die »liberale Ordnung« amerikanischen Stils durchzusetzen. Das spielte auch bei ihrer Politik der offensiven Osterweiterung der NATO verbunden mit häufigen Militärmanövern vor Russlands Haustür sowie dem einseitigen Ausstieg aus sensiblen Teilen der Rüstungskontrollpolitik eine Rolle.

An die Stelle vertrauensbildender Rücksichtnahme auf die Sicht des Anderen trat der ungehemmte Triumphalismus der selbstgekrönten »Sieger im Kalten Krieg« mit seiner euphorischen Ankündigung eines liberalen Systemwechsels in den nicht-liberalen Staaten. Unterstrichen wurde das durch eine Reihe kriegerischer Exkursionen der USA selbst, aber auch der NATO, etwa in Afghanistan, Irak und Bosnien/Serbien, die alle lediglich die dauerhafte Destabilisierung der betroffenen Länder und gewaltige Flüchtlingsströme zur Folge hatten. Diese Kriege waren selbst Verletzungen der »regelbasierten internationalen Ordnung«, reich an zivilen Opfern und ohne überzeugende Legitimation. Regeln sind dauerhaft nur verlässlich, wenn sie auf Gleichachtung beruhen.

Eine Ordnung der Gleichachtung und Diversität

Natürlich kann die eine Verletzung der internationalen Ordnung nicht die andere rechtfertigen, aber es verdient Beachtung, dass der russische Imperator seine aktuellen Gewaltakte, wo es sich anbietet, auf zynische Weise als bloßes Gleichziehen mit vergangenen Übergriffen der NATO oder der USA inszeniert, so etwa den Beginn seines Angriffs auf Kiew mit der Bombardierung des Funkturms zur Erinnerung an die Belgrader Ereignisse von 1999 und seine »Anerkennung« der ostukrainischen Minirepubliken als souveräne Staaten in Erinnerung an die Schaffung des Staates Kosovo gegen den Willen Serbiens.

Manch andere seiner Worte und Taten sind offenbar als eine Art ironische Erinnerung an die US-amerikanische Monroe-Doktrin gedacht, die doch auch ihren Anspruch gewaltsam durchsetzt, im eigenen geografischen Machtbereich keinerlei Einflussnahmen einer anderen Großmacht und oft noch nicht einmal USA-kritische Regierungen zu dulden. Im Vorfeld des Ringens um eine neue Weltordnung können folgenreiche Missverständnisse nur vermieden werden, wenn solche und weitere tatsächliche gravierende Ungleichheiten in der brüchigen »liberalen« Weltordnung beim Namen genannt werden, damit sie überwunden werden können.

Dazu gehört auch, dass die immer fragwürdiger werdende und mittlerweile innerhalb des Landes selbst fundamental angefochtene amerikanische Demokratie sich selbst zum Weltenrichter erhebt, der alle anderen Länder daraufhin prüfen darf, wie es mit Demokratie und Grundrechten bei ihnen steht, und gegebenenfalls schwere Sanktionen mit weltweitem Geltungsanspruch gegen sie verhängt, ohne sich selbst für schwere Vergehen wie in Vietnam, Afghanistan oder Guantanamo zur Rechenschaft ziehen zu lassen.

Das jedenfalls ist die nicht ganz unverständliche Sichtweise einer großen Anzahl von Mitgliedsländern der UNO, darunter auch Chinas, die darin nicht den Idealzustand einer »regelbasierten Ordnung« erkennen können, die keiner Korrektur mehr bedarf. Was Putins Vorstellungen nach seinem unverzeihlichen Sündenfall sind (oder hoffentlich die seiner Nachfolger), bedarf noch der Klärung. Von seiner Dämonisierung als »Neuer Hitler« ist jedenfalls abzuraten, sie würde, wie das Beispiel Saddam Hussein bis heute demonstriert, die »westliche« Politik blind und maßlos machen und die unausweichliche Nachkriegsordnung enorm behindern.

Eine neue »multilaterale« (demokratische) Weltordnung muss, was die Gleichachtung der Souveränität und der elementaren Interessen aller Länder betrifft, vor allem konsequent und glaubwürdig sein. Das ist sie heute nicht. Dazu bedarf die Verfassung der maßgeblichen Institutionen der UN selbst und vieler ihrer Unter- und Nebenorganisationen beträchtlicher Reformen.

»Liberal« darf sie nicht in der bisher oft stillschweigend untergeschobenen Lesart sein, dass der »westliche Liberalismus« mit seiner Spielart von Kapitalismus, seiner dominanten libertären, ressourcenvergeudenden Lebensweise und seiner oft instrumentell gehandhabten Menschenrechtspolitik als Goldstandard für die ganze Welt und mitunter sogar als Blankocheck für eigenmächtige Interventionen in souveräne Staaten gilt. Liberal muss die neue Weltordnung vielmehr im Hinblick auf eine von allen akzeptierte Verknüpfung von drei grundlegenden Normen sein: der souveränen Gleichheit aller Länder, dem Eigenrecht der regionalen Zivilisationen auf ihren eigenen Weg der Modernisierung und der weltweiten Geltung der Menschenrechte ohne doppelte Standards, aber vollständig (einschließlich der sozialen Rechte) und unter einer begründungspflichtigen Berücksichtigung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen jedes Landes.

Der zutreffende Kern des oft beschworenen Niedergangs des Westens besteht ja nicht in der Widerlegung der »westlichen« universellen Werte, sondern im Rückgang der historisch eingeübten Bereitschaft der anderen großen Weltzivilisationen, die seit der Kolonialzeit zur Gewohnheit gewordene Praxis der doppelten Standards als eine Art »natur-« oder gar »gottgegebenes« Vorrecht des Westens hinzunehmen.

Die normativen Grundlagen einer neuen Weltordnung im Zeitalter der Vielfalt der Zivilisationen wären am besten gesichert, wenn ihre universellen Werte und Rechte und damit auch die Grenzen des Eigenrechts der Zivilisationen gemeinsam begründet würden. Eine exemplarische Rolle spielt in dieser Hinsicht der zunehmende Rückgriff der chinesischen Politik auf die seit der »Achsenzeit« (800–200 v. d. Z. Karl Jaspers) eingespielte konfuzianische Tradition und die noch offene Frage, was diese im Hinblick auf die universellen Werte und Normen bedeutet.

Es geht dabei vor allem um die Einbeziehung der sozialen Pflichten in das Verständnis der individuellen Freiheit, die Höherbewertung der Leistungen amtierender Regierungen für das Alltagsleben der Menschen und das Vertrauen des Volkes in die Regierung als Maßstab ihrer Legitimität. Im Übrigen ist der Code dieser Kultur strikt binnenzentriert und ohne Drang zum globalen Export einer Ideologie. In der Weltarena geht es dem Land um echte politische Gleichberechtigung und politisch-kulturelle Anerkennung.

Ein ganz anderer Fall ist der neuartige aggressive Kulturalismus der russischen Politik unter Wladimir Putin. Seine politisch zugespitzte Vorstellung einer »russischen Welt« mit religiös imprägnierten anti-westlichen, nämlich »eurasischen Werten« und eingebautem »Expansionsauftrag« trägt jüngst immer schärfer konturierte essentialistische Züge. Er sagt: Wo russisch gesprochen wird, leben russische Menschen als Teil einer homogenen und konstanten (»ewigen«) Gesamtkultur. Sie habe ihr historisch-natürliches Zentrum im Kreml, wo gleich neben den Hallen der Macht der orthodoxe Metropolit Kyrill residiert, der Putins Krieg vor den angetretenen Rekruten als eine »metaphysische« Mission segnet.

Russland sei heute vom westlichen Liberalismus und seiner Lebensart tödlich bedroht. Dieser wirke auf die »russische Identität« von innen als Zersetzung des Gemeinschaftsgeistes ein, vorangetrieben von »feindlichen Agenten« und von außen und als Aggression durch die Ausdehnung der NATO. Die Ukraine sei ein Vorposten der westlichen Zersetzung im Fleisch der russischen Welt. Es ist daher, wie Putin bei seinem Hausphilosophen Iwan Iljin (dessen Schriften er an die führenden Funktionäre seines Landes verteilen lässt) und bei dessen aktuellem faschismusnahem Anheizer Alexander Dugin bestätigt findet, seine eigene historische Mission und »heilige Pflicht«, alle westlichen Einflüsse schonungslos zu liquidieren.

Im Inneren folgt daraus eine hermetisch-gnadenlose, tendenziell »totalitäre« Diktatur, nach außen die Unterordnung aller russischsprachigen Gebiete unter seinen fragwürdigen »Schutz« und seine Letztverantwortung. Die Mittel dafür sind im Inneren die »Selbstreinigung des russischen Körpers« durch das vollständige Ersticken der öffentlichen Meinung und ein drakonisches Strafsystem, nach außen Krieg, wo die »historische Mission« ihn verlangt.

Angesichts dessen bedarf das »Eigenrecht der Zivilisationen« einer Klarstellung. Kulturelle Identität eignet sich in der modernen Welt in keinem Fall unmittelbar zur alleinigen Rechtfertigung politischer Herrschaft. In der Gegenwart sind faktisch alle größeren Kulturen/Zivilisationen offene, in sich widerspruchsvolle, daher auch umstrittene und dynamische Diskursräume, in denen konkurrierende soziale und politische Milieus um Deutungseinfluss ringen. Es gibt also, wie alle Forschung zeigt, in der modernen Welt keinen »Kampf der Kulturen«, sondern nur Kämpfe um die Dominanz von Deutungsrichtungen in den Kulturen (Amartya Sen).

Legitime politische Herrschaft muss sich dieser Offenheit stellen und nach Mehrheiten in den einflussreichen soziokulturellen Strömungen suchen. Gerade der Respekt vor der eigenen Kultur verlangt den Schutz der inneren Pluralität ihrer politischen Ausdrucksformen. Die gewaltsame Indienstnahme einer einzigen Deutungsvariante zur Rechtfertigung politischer Herrschaft kennzeichnet die Willkür des Fundamentalismus. Er ist nur als Abkehr von zentralen Menschenrechten möglich und vernichtet daher alle Ausdrucksformen des kulturellen Lebens, der verschiedenen, je eigenen Traditionen außer der einen, die gegen die übrigen mit Gewalt durchgesetzt wird. Ein solcher Missbrauch kultureller Tradition kann in der modernen Welt weder im eigenen Land noch in der Weltgemeinschaft Anerkennung finden. Ein Dialog der Kulturen, in dem sich das unweigerlich erweist und der der für alle Länder verbindlichen normativen Grundordnung neue Beglaubigung verschafft, wäre daher einer der wichtigsten Bausteine einer neuen Weltordnung, die ihren Namen verdient.

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