Berlin-Mitte im Frühherbst 2021: Eine trotz verlorener Wahl entspannte Noch-Kanzlerin, neben ihr zwei katholische Kirchenvertreter, der Limburger Bischof Georg Bätzing, zugleich Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, und Prälat Karl Jüsten als Leiter des Katholischen Büros – der Kontaktstelle der Kirche in die Politik. Es ist der traditionelle Sankt Michaelsempfang, bei dem sich das politische Berlin gerne ein Stelldichein gibt.
Im Folgejahr zeigt sich ein ganz anderes Bild: Niemand aus der ersten Reihe der Bundesregierung hat den Weg zu dem Empfang gefunden. Kein Kanzler, keine Minister oder Ministerin, kein Bundespräsident. Das ist für diese Veranstaltung ein Novum. Sind der Ampel die Religionsgemeinschaften nicht so wichtig? Eine Bestandsaufnahme.
Das Verhältnis zwischen Staat und Religionsgemeinschaften – hier sollen besonders die Kirchen im Fokus stehen – ist in Deutschland von jeher ungewöhnlich: Auf der einen Seite besteht grundsätzlich eine Trennung, auf der anderen Seite gibt es in vielen Bereichen eine Zusammenarbeit, Juristen sprechen oft von »hinkender Trennung«, andere von einem »getrennten Miteinander«. So gibt es etwa auch an staatlichen Schulen Religionsunterricht, der Staat zieht die Kirchensteuer ein, dazu kommen Seelsorge in der Bundeswehr, in Krankenhäusern und Gefängnissen und vieles mehr.
Im Umgang miteinander hat sich in Zeiten fortschreitender Säkularisierung auf beiden Seiten in den vergangenen Jahrzehnten viel geändert. Lange vorbei sind die Zeiten, als Pfarrer vor Wahlen das Kirchenvolk aufriefen, das Kreuz bei den C-Parteien zu setzen, oder Ordensmänner wie der Dominikanerpater Basilius Streithofen die Kanzler berieten.
Vorbei aber auch die Zeit, in der die Kirchen außerhalb von Union und SPD kaum Kontakte zu anderen Parteien pflegten. Schon lange ist das berühmte Tischtuch zwischen der katholischen Kirche und den Grünen nicht mehr zerschnitten, wie es in den 80er Jahren mal formuliert wurde. So ist an vielen Stellen die Ideologie auf beiden Seiten einem gewissen Pragmatismus gewichen.
Dazu kommt ein rein quantitativer Bedeutungsverlust der Kirchen: Erstmals sind weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland Christen. Dazu haben Ansehen und Glaubwürdigkeit – vor allem der katholischen Kirche – durch Bekanntwerden und Umgang mit Missbrauchsfällen stark gelitten.
Bei der Ampelregierung manifestiert sich die veränderte Wahrnehmung schon beim ersten Blick in den Koalitionsvertrag: Bezeichneten Union und SPD die Kirchen und Religionsgemeinschaften noch als »Partner des Staates« und wurde die »christliche Prägung unseres Landes« hervorgehoben, liest sich das im Vertrag der Ampel ganz anders. Dort heißt es lediglich: »Kirchen und Religionsgemeinschaften sind ein wichtiger Teil unseres Gemeinwesens und leisten einen wertvollen Beitrag für das Zusammenleben und die Wertevermittlung in der Gesellschaft.« Und: »Wir schätzen und achten ihr Wirken«. Vom geschätzten Partner zum bloßen Vermittler von Werten also?
Die Zusammensetzung des Kabinetts scheint den Eindruck zu bestätigen: Mit dem SPD-Politiker Olaf Scholz hat die Bundesrepublik den ersten konfessionslosen Kanzler, der zwar protestantisch getauft wurde, seiner Kirche aber schon vor etlichen Jahren den Rücken kehrte. Etwa die Hälfte der Ampelregierung legte ihren Amtseid ohne die Formel »So wahr mir Gott helfe!« ab. Dazu kamen im ersten Jahr Vorkommnisse, die nicht nur christliche Kritiker als kirchenfeindlich interpretierten wie das abgehängte Kreuz im Münsteraner Friedenssaal beim G7-Treffen der Außenminister im vergangenen Herbst.
Auch die ersten Vorhaben der Koalition vor allem im gesellschaftspolitischen Bereich kann man als Zeichen einer Entfremdung deuten: Bereits in seinem ersten Interview als Bundesjustizminister kündigte Marco Buschmann an, zügig den Paragrafen 219a zu streichen, das sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen. Noch vor der Sommerpause beschloss der Bundestag die Abschaffung.
Der Protest von Kirchenvertretern, dass damit ein Schwangerschaftsabbruch zu einer normalen Dienstleistung werde, verhallte. Viele befürchten nun, dass damit der in den 90er Jahren mühsam ausgehandelte Kompromiss zur Abtreibung generell aufgeweicht werden könnte. Nicht ganz unberechtigt: In allen drei Ampelparteien gibt es große Teile, die es begrüßen würden, wenn der Abtreibungsparagraf 218 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen würde. Der Koalitionsvertrag sieht zumindest eine Prüfung der derzeitigen Gesetzeslage vor. Dazu soll eine Kommission mit Experten und Expertinnen eingerichtet werden, die – so ist aus den Ministerien zu hören – aus dem juristischen, soziologischen, medizinischen und ethischen Bereich kommen. Von kirchlichen Vertretern, die etwa auch im Ethikrat sitzen, ist nicht die Rede.
Bislang hat sich das Gremium allerdings noch nicht konstituiert. Und vielen Äußerungen des FDP-Politikers Buschmann – einem bekennenden Katholiken – ist zu entnehmen, dass ihm nicht an einer Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch gelegen ist. Eine Abschaffung ist also auch innerhalb der Regierung keinesfalls eine beschlossene Sache.
Ein weiteres Vorhaben der Bundesregierung ist die Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen, zu denen die Bundesländer verpflichtet sind. Als Entschädigung für lange vergangene Enteignungen sind das derzeit rund 600 Millionen pro Jahr. Im Koalitionsvertrag heißt es dazu, dass der Bund im Dialog mit den Ländern und Kirchen einen »fairen Rahmen« für ihr Ende schaffen will. Gegen eine solche Regelung sperren sich aber auch die Kirchen nicht grundsätzlich und so verhandeln unter Federführung des Innenministeriums schon seit einigen Monaten Länder und Kirchen über eine angemessene Höhe der Entschädigung. Das Ende ist bislang offen.
Auch das besondere kirchliche Arbeitsrecht will die Koalition anpacken und es möglichst an das staatliche angleichen. Denn die Kirchen haben durch den sogenannten Dritten Weg das Recht, ein eigenes Arbeits- und Tarifrecht zu schaffen. In Kürze sollen auch hierzu unter Federführung des Arbeitsministeriums Gespräche mit den Kirchen beginnen.
Diese haben in den vergangenen Monaten selbst schon Veränderungen auf den Weg gebracht – nicht zuletzt auf Druck vieler Mitglieder. Besonders bei der katholischen Kirche standen die sehr weitreichenden Loyalitätspflichten in der Kritik. Bis dato mussten Mitarbeitende in katholischen Einrichtungen unterschreiben, dass sie die »Grundsätze der katholischen Glaubens- und Sittenlehre anerkennen und beachten«; Verstöße dagegen – etwa Scheidungen oder homosexuelle Partnerschaften – konnten zu Kündigungen führen. Nach den überarbeiteten Richtlinien gilt nun, dass alleine kirchenfeindliches Verhalten zu Entlassungen führen kann. Kirchlicherseits wird so betont, dass man den Gesprächen mit der Politik zuversichtlich entgegensehe.
Weitere gesellschaftspolitische Vorhaben der Ampel sind das Selbstbestimmungsgesetz, das das Transsexuellengesetz ablösen soll und bei dem transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen die Möglichkeit haben sollen, ihren Geschlechtseintrag im Personenstandsregister durch eine einfache Erklärung beim Standesamt ändern zu lassen. Ein anderes ist die Einführung einer Verantwortungsgemeinschaft als einem weiteren Rechtsinstitut neben der Ehe. Beides beobachten die Kirchen kritisch, aber nicht von vorneherein ablehnend: Es komme da auf die genaue Ausgestaltung an, so meinen Vertreter und Vertreterinnen aus kirchlichen Verbänden.
So erklärte der Familienbund der Katholiken (FdK), er könne sich die Etablierung einer Verantwortungsgemeinschaft durchaus vorstellen. Unter bestimmten Vorzeichen sei diese positiv, etwa wenn sich Senioren in Wohngemeinschaften dadurch absichern könnten, so FdK-Präsident Ulrich Hoffmann. Derzeit sei noch »ziemlich unklar, wohin die Reise bei der Verantwortungsgemeinschaft tatsächlich geht«.
Bei der »Reise« werden die Kirchen die Politik begleiten. Denn wie andere gesellschaftlich relevante Organisationen können sie zu den Gesetzentwürfen Stellung nehmen und werden zu Anhörungen eingeladen. Sie sind auch bei Parteitagen und anderen größeren Veranstaltungen präsent. Und auch bei informellen Treffen nutzen die Kirchen ihrerseits Möglichkeiten zu »lobbyieren«.
Neben Schatten auch viel Licht
Besonders bei ethisch relevanten Themen ist ihre Einschätzung bei der Regierung, aber auch bei Parlamentariern gefragt, so berichteten die Mitarbeitenden des Katholischen Büros. Aktuelles Beispiel ist die Neuregelung der Sterbehilfe, die das Bundesverfassungsgericht der Politik aufgetragen hat. Hierzu suchten immer mal wieder Abgeordnete unterschiedlicher Fraktionen das Gespräch.
Auch seelsorglich sind Kirchenvertreter und Kirchenvertreterinnen im Bundestag aktiv und bieten in Krisen Gespräche an. Die Leiter der kirchlichen Büros – neben Karl Jüsten auf katholischer ist das auf evangelischer Seite Prälatin Anne Gidion – laden regelmäßig Abgeordnete zu Gottesdiensten ein, im Bundestag gibt es sogar einen Andachtsraum.
Inhaltlich werden die Kirchen mit Blick auf den aktuellen Koalitionsvertrag nicht müde zu betonen, dass es »neben Schatten auch viel Licht« gibt. Bei vielen Themen im Bereich Soziales, Migrations- und Klimapolitik gebe es große Schnittmengen, vielleicht sogar größere als bei der Vorgängerregierung. Nicht vergessen ist etwa, dass es unter dem Innenminister Thomas de Maizière – CDU-Politiker und Protestant – zu einem Konflikt beim Kirchenasyl kam, der erst nach etlichen Gesprächen beigelegt werden konnte. Auch dass die Regierung unter Angela Merkel im ersten Lockdown während der Coronapandemie zunächst ein resolutes Gottesdienstverbot verhängte, bis das Bundesverfassungsgericht klarstellte, dass dies einen schweren Eingriff in das Grundrecht der Religionsfreiheit darstelle, haben die Kirchen, aber auch jüdische und muslimische Gemeinden mehr als irritiert.
Und so kommt man zu einem differenzierten Ergebnis bei der Frage, wie es die Ampel mit der Religion hält. Und es gibt zum eingangs erwähnten Beispiel auch andere Begebenheiten: So besuchten etliche Bundesminister und -ministerinnen zwar nicht den Sankt Michaelsempfang, aber doch den Katholikentag im vergangenen Jahr, auch Kanzler Scholz sprach dort. Und im Januar war das Erstaunen groß, als die obersten Vertreter aller Verfassungsorgane zur Trauerfeier des deutschen Papstes Benedikt nach Rom reisten.
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