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Stefan Rebenichs Darstellung der Geschichte der Altertumswissenschaften Die Antike als Spiegel

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Das humanistische Gymnasium, einst die dominierende gymnasiale Schulform, fristet heute eine Randexistenz. In Bayern etwa sind nur noch 49 von 431 Gymnasien humanistisch, die Zahl der Schülerinnen und Schüler ist niedrig und von brüchiger Stabilität. Die klassische Bildung, die humanistische Gymnasien mit den verpflichtenden Fremdsprachen Latein und Altgriechisch vertreten, gilt als unpraktisch, lebensfern, nicht mehr zeitgemäß.

Dass diese Kritik an der Beschäftigung mit dem Altertum nicht so neu ist, wie sie scheint, zeigt das Buch Die Deutschen und ihre Antike von Stefan Rebenich. Dabei lautet der Untertitel des Bandes nicht umsonst »Eine wechselvolle Beziehung«: Der seit 2006 an der Universität Bern tätige Althistoriker zeichnet hier die Geschichte der Altertumswissenschaften vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart nach. Es ist in der Tat eine Geschichte voller Wechsel: Von Expansion und Krisen, von Verteidigung der Forschungsfreiheit und ideologischer Vereinnahmung und von der wechselseitigen Beeinflussung von Antike und Gegenwart.

Die Kapitel des Bandes, die ganz überwiegend auf früher erschienene und nun überarbeitete Aufsätze des Althistorikers zurückgehen, zeigen durch die an exemplarischen Einzelstudien zu Instituten und Akteuren entworfene Geschichte der Altertumswissenschaften hindurch auch, wie sich das Antikenbild in Deutschland gewandelt hat. Und obwohl der Entstehungsgeschichte von Die Deutschen und ihre Antike einige inhaltliche Dopplungen zwischen den Kapiteln geschuldet sind, gelingt hier doch, was in solchen Aufsatzsammlungen sonst oft misslingt: Die Einzelstudien greifen ineinander und ergeben so eine zusammenhängende Darstellung.

So erfährt man hier davon, dass der Grund für die abnehmende Konjunktur des Antikenideals bereits in ihrem Entstehen angelegt ist. Zeitlich fällt die beginnende Idealisierung der Antike in der bis heute vorzufindenden Form zusammen mit dem Aufkommen des Bürgertums als der gesellschaftlichen Schicht, die die frühere Gliederung der Gesellschaft in Stände auflöst. Das um 1800 entstehende Bürgertum ist sozial wie ökonomisch heterogen, die Einheit dieser nun zunehmend an Bedeutung gewinnenden Schicht wird deshalb hergestellt durch eine spezifische Form der Lebensführung, der Kultur und Mentalität.

Das Bürgertum wird zusammengehalten von einer geistigen Identität, deren Werte etwa im Glauben an Bildung, individuelle Freiheit, lebenslange Selbstveredelung, Gemeinwohl und der Autonomie der Künste bestehen. Eng verbunden sind diese Werte mit dem, was das Bürgertum im Wesentlichen ausmacht: Meritokratie. Nicht mehr der Stand entscheidet, ob man an Bildung teilhaben kann, sondern die Bildung entscheidet, ob man sozial aufsteigen und also welchen Stand man erlangen kann.

Ganz zentral für das nun entstehende Bürgertum und seine geistige Identität ist die Antike. Diese wird nämlich insbesondere durch Wilhelm von Humboldt, dem Rebenich ein eigenes Kapitel widmet, zum zentralen Inhalt der bürgerlichen Bildung – und damit: zum wesentlichen Inhalt des humanistischen Gymnasiums, das dem Bürgertum den Zugang zur Universität und damit zu sozialem Aufstieg sichert.

In die vornehmlich griechische Antike projizierte man im ausgehenden 18. Jahrhunderte all das, was der zerrissenen Gegenwart zu fehlen schien: Den Menschen der griechischen Antike sprach man zu, innere Einheit, Verbundenheit mit der Umwelt, Gleichgewicht, Erhabenheit erreicht, lebenslang nach Selbstveredelung gestrebt zu haben. Diese Form der Hinwendung zur Antike in Humboldts Bildungsprogramm war, wie Rebenich zeigt, in der Tat eine spezifisch bürgerliche, denn nun sah man sich den antiken Griechen verbunden, wo zuvor die französische Hofkultur stark an der lateinischen Antike orientiert war.

Jedoch wollte Humboldt die griechische Antike nicht einfach als zeitlose, sondern als beispielhafte geschichtliche Größe verstanden wissen, als ein besonders historisches Moment, das der Gegenwart in seiner Fremdheit als Vergleichspunkt dient. Im gleichen Moment, in dem die Antike so zum idealen Bezugspunkt bürgerlicher Identität, zum Ausgangspunkt seines Bildungsprogramms wurde, wurde sie auch schon als historisch gekennzeichnet und ihre normative Funktion eingeschränkt.

Aufstieg und Fall

Die nun entstehenden Altertumswissenschaften erlebten zunächst einen beispiellosen Aufstieg: Rebenich zeichnet das Wachstum ihrer Disziplinen im 19. Jahrhundert nach, stellt zentrale Akteure wie Theodor Mommsen und Ulrich von Wilamowitz vor und entwirft so das Bild einer Altertumswissenschaft, die sich in ihrer Blütezeit zügig spezialisiert und gerade unter dem Einfluss von Mommsen und der entscheidenden Unterstützung der Berliner Akademie der Wissenschaften zu einem Großbetrieb anwächst. Darin wurden editorische Großprojekte von einer sehr großen Zahl von Mitarbeitern realisiert, die sich in die mühevolle Kleinarbeit des gemeinschaftlichen Projekts integrieren können mussten. In dieser Form gemeinschaftlichen Arbeitens wurden die Altertumswissenschaften, deren zentrale Bedeutung im 19. Jahrhundert noch niemand bestritten hätte, zum methodischen und organisatorischen Vorbild der damals noch eher marginalen Naturwissenschaften.

Das ändert sich mit dem Erstarken der letztgenannten: Nach und nach beginnen die Altertumswissenschaften Ideen der Naturwissenschaften zu übernehmen, etwa die Erkenntnisse Darwins. Die Popularisierung zunehmend spezialisierter Einzelerkenntnisse gelingt immer weniger, den Altertumswissenschaften wird bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert vorgeworfen, was man dem humanistischen Gymnasium heute vorwirft: Lebensferne. 1900 fällt das Monopol humanistischer Gymnasien darauf, den Zugang zur Hochschule zu ermöglichen. Die humboldtsche Idee gerät unter Konkurrenzdruck.

Trotz allem können Altertumswissenschaften ihre Vorrangstellung noch verteidigen. Im Strudel der Ereignisse des 20. Jahrhunderts jedoch mitunter um einen hohen Preis: Gerade diejenigen, die die Lebensferne der Erforschung der Antike überwinden wollen, idealisieren nun nicht mehr Athen, sondern Sparta. Die bürgerlichen Werte von Freiheit, Autonomie, Selbstveredelungen werden abgelöst von den dann nationalsozialistischen Werten des Gehorsams, der Abhärtung, des Nihilismus. Die Vertreter der Altertumswissenschaften, die sich nicht dem Zeitgeist anschließen, ergehen sich immer mehr in wissenschaftlichen Spezialfragen, mit dem Ziel, der ideologischen Lebensnähe zu entgehen.

Die Weltkriege sorgen dafür, dass Kontakte der deutschen Altertumswissenschaften zur internationalen Wissenschaftsgemeinschaft abbrechen, die Nationalsozialisten vertreiben die besten Köpfe. Die deutschen Altertumswissenschaften verlieren international ihre Vorrangstellung und können sie, trotz zügiger Wiederaufnahme internationaler Kontakte nach 1945, nicht wieder im selben Ausmaß erlangen.

Sie erstarren in konservativer Methodik und fehlender Auseinandersetzung mit Vergangenheit wie Gegenwart. Interessanterweise schlägt sich der Wunsch nach Westintegration in der Bundesrepublik nun in einem Betonen der europäischen Antike wieder – erneut passt sich also das Bild der Antike dem Standpunkt an, von dem aus sie betrachtet wird.

Die Altertumswissenschaften und mit ihnen das humanistische Gymnasium haben sich bis heute erhalten, wenn sie auch aufgrund der von Rebenich nachgezeichneten historischen Prozesse nicht mehr die einstige Vorrangstellung haben. Implizit wird aus den Studien Rebenichs deutlich, dass dies auch auf die zunehmende Bedeutung naturwissenschaftlicher Disziplinen zurückzuführen ist. Indem der Autor nachzeichnet, wie eng ein an der Antike orientiertes Bildungsideal mit der Schicht des Bürgertums verbunden ist, legt er nahe, dass die abnehmende Bedeutung des Antikenideals und damit der humanistischen Bildung auch auf den gesellschaftlichen Wandel Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts zurückzuführen sein könnte: Sowohl die bürgerliche Lebenskultur als auch ihre vom Antikenideal geprägte Bildung verlieren an Bedeutung.

Bürgerliche Lebensführung ist eine Lebensform unter vielen. Vielleicht gerade angesichts dessen plädiert Rebenich für eine nicht nur europäische, sondern globale Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Antike: Denn an ihr könne man bis heute die wichtige Erkenntnis gewinnen, dass Kultur aus dem Geist der Freiheit geboren wird.

Stefan Rebenich: Die Deutschen und ihre Antike. Eine wechselvolle Beziehung. Klett-Cotta, Stuttgart 2021, 496 S., 38 €.

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