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Lotte Laserstein und das kulturelle Gedächtnis Die bekannte Unbekannte

Aleida und Jan Assmann, denen am 14. Oktober in der Frankfurter Paulskirche der diesjährige Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, gehören zu den weltweit führenden »Gedächtnisforschern«. Die Literaturwissenschaftlerin und der Ägyptologe haben mit ihren Arbeiten zu den individuellen und kollektiven Formen von Erinnerung und Gedächtnis diese Fähigkeit des Menschen und die Frage der Traditionsbildung überhaupt erst als Forschungsgegenstand etabliert. Auch in ihrer Dankesrede beschäftigten sie sich kritisch mit diesem im Spannungsfeld von Wahrheit und Lüge hochaktuellen Thema. Denn Erinnerungen sind nicht nur äußerst trügerisch und unzuverlässig, sondern vor allem manipulierbar. Was erinnert, vergessen oder auch ins kollektive Gedächtnis eingeht, hängt von vielen Faktoren und Interessen ab.

Das patriarchale Vergessen

»Staunend, überwältigt, berührt« läuft der Journalist Alexander Jürgs vom Freitag nach eigenem Bekunden durch das Frankfurter Städel: »Was für ein Werk«. Aber die Ausstellung mit Gemälden und Zeichnungen von Lotte Laserstein ist keineswegs die »erste große Retrospektive der Künstlerin«, wie er meint. Gleich mehrfach in ihrem langen Leben von 1898 bis 1993 wurde die großartige »Menschen-Malerin« vergessen – und dann wiederentdeckt. Wie konnte sie aber nur in Vergessenheit geraten?

Als Linda Nochlin und Ann Sutherland 1976 in Los Angeles die Ausstellung Women Artists: 1550–1950 eröffneten, setzten sie damit einen epochalen Prozess in Gang. Zeigte die Schau mit Werken von 84 Künstlerinnen aus vier Jahrhunderten doch erstmals einen umfassenden Überblick über die Geschichte der Kunst von Frauen. Erklärtes Ziel war sowohl die Künstlerinnen der Vergessenheit zu entreißen, als auch die lange Tradition weiblichen Kunstschaffens sichtbar zu machen. Denn viele der zu Lebzeiten anerkannten und erfolgreichen Künstlerinnen der frühen Neuzeit waren spätestens im 19. Jahrhundert in Vergessenheit geraten, manche so, als hätten sie nie existiert. Ihre Namen und Werke fanden weder Eingang in die sich etablierenden, patriarchal strukturierten Museen noch in die Kunstwissenschaft. Es bestand kein Interesse, Erinnerungen an Künstlerinnen wachzuhalten oder Traditionen aufzuzeigen. Beispielhaft zeigte die Ausstellung von 1976, dass es nicht nachlassender, kontinuierlicher Anstrengungen bedarf, um Leben und Werk von kreativen Frauen im kollektiven Gedächtnis zu bewahren. »Denn ein kulturelles Gedächtnis, so unsere These, ist das Ergebnis unablässiger kultureller Arbeit.« Wie sehr diese von Aleida und Jan Assmann in der Paulskirchen-Rede formulierte, allgemeingültige These insbesondere und immer noch auch auf Künstlerinnen zutrifft, bezeugt das Werk von Lotte Laserstein exemplarisch. Das kollektiv zu Erinnernde muss immer wieder durch aktive Formen der Aneignung reaktiviert werden, wobei in der bildenden Kunst von den Medien des Gedächtnisses – Sprache, Schrift und Bild – vor allem die visuelle Erinnerung der stetigen Erneuerung bedarf: durch Fotos, Filme, Abbildungen in Büchern, bebilderte Biografien und natürlich durch Ausstellungen.

Die aus gutbürgerlichem Hause stammende, 1898 in Ostpreußen geborene Apothekertochter Lotte Laserstein wollte immer Malerin werden und selbstbestimmt von der Kunst leben. Beides verfolgte sie zielstrebig. In Berlin, wohin sie mit Mutter und Schwester 1912 gezogen war, begann sie 1918 zunächst Kunstgeschichte zu studieren, nahm privaten Kunstunterricht, beschäftigte sich mit Gebrauchsgrafik und

schrieb sich 1921 an der Akademischen Hochschule für die bildenden Künste ein, die nun auch Frauen aufnahm. Der Lehrer ihrer Wahl war der Maler und Zeichner Erich Wolfsfeld, ein Realist, bei dem sie mit viel Talent und großem Fleiß das künstlerische Handwerkszeug »von der Pike auf« erlernte. 1925 wurde sie für zwei Jahre seine Meisterschülerin. Beides, die meisterliche Beherrschung des Metiers und ein im 19. Jahrhundert gründender Realismus, würde Lotte Lasersteins Kunst prägen. Hinzu kam von Anfang an die Konzentration auf ein Thema: der Mensch, bevorzugt die Frau, im Porträt, Akt und Selbstbildnis. 1927 bezog die Künstlerin ihr erstes Atelier in Wilmersdorf und gründete eine Malschule. In den folgenden späten Jahren der Weimarer Republik entstand in ungeheurer Produktivität ein großartiges Werk, das in der Klassischen Moderne nicht nur seinesgleichen sucht, sondern den vielen Spielarten der figurativen, gegenständlichen Kunst eine ganz eigenständige, neue Facette hinzufügte, gekennzeichnet durch raffinierte Blickwechsel, Schattenspiele und Spiegel-Kompositionen, monumentale Gesichter und komplizierte Posen. Im traditionsreichen Gewand des Realismus erscheinen diese Bilder doch höchst zeitgemäß, voller Kraft und Vitalität.

Dieser Eindruck beruht zum großen Teil auch auf dem neuen, positiven Frauenbild der Künstlerin, das sie in vielen ihrer Werke visualisierte und das ihr »Lieblingsmodell«, die Fotografin und Freundin Traute Rose, kongenial verkörperte: in eleganten Porträts, intimen Akten, wie sie nie zuvor eine Künstlerin malte, oder anrührenden Malerin-Modell-Varianten. Lotte Lasersteins junge, sportlich-schlanke Frauen waren erklärtermaßen berufstätig, selbstbewusst und unabhängig, hochprofessionell und erfolgreich und auch in Hosen sehr weiblich. Mit ihrer Malerei ganz im Hier und Jetzt wurzelnd, registrierte die Künstlerin die gewaltigen Umbrüche in der Weimarer Republik mit Sorge, denn spätestens 1929 waren mit der Weltwirtschaftskrise die sogenannten Goldenen Zwanziger und mit ihnen der Furor der Avantgarden beendet. Sensibel und fast unmerklich veränderte sich Lotte Lasersteins Kunst, Posen verkrampften, Körper versteinerten, leer und in sich gekehrt wurden die Blicke, eine ahnungsvoll-verhaltene Melancholie breitete sich aus. Dafür steht wie kein anderes Bild ihr 1930 auf eine zwei Meter lange Holztafel gemaltes Hauptwerk Abend über Potsdam, das nicht zufällig an Darstellungen vom letzten Abendmahl erinnert.

Von den Nationalsozialisten in die Vergessenheit gedrängt

Nach dem Studium nutzte die Malerin sofort alle Möglichkeiten des Kulturbetriebs: Ausstellungsbeteiligungen, Wettbewerbe, Mitgliedschaften, Druckerzeugnisse. Sie fand Beachtung, wurde bekannt und gewürdigt. Um 1930 zählt sie mit Recht »zu den allerbesten der jungen Maler-Generation«. Die vielversprechende Karriere endete abrupt 1933 nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Als »Dreivierteljüdin« erhielt sie Ausstellungsverbot, ihre Malschule wurde geschlossen, ihr Name brutal gelöscht. 1937 emigriert Lotte Laserstein nach Schweden. Von der Stockholmer »Galerie Moderne« eingeladen, gelang es ihr, einen Großteil der Werke mitzunehmen. Sie baute sich eine neue Existenz als begehrte Porträtistin auf. Schweden wurde zur neuen Heimat. Nach Deutschland, wo ihre Mutter im KZ Ravensbrück ermordet wurde, kehrte die Künstlerin nie mehr zurück. Von den Nazis initiiert, verschwand sie hier für mehr als ein halbes Jahrhundert vollständig aus dem kulturellen Gedächtnis. Ihr neuer Realismus, der noch in der Weimarer Republik als ganz eigenständige Facette der Moderne wahrgenommen worden war, interessierte niemanden. Denn in den Nachkriegsjahren regierte in der Bundesrepublik die männlich dominierte abstrakte Kunst. Und Lotte Laserstein gehörte auch nicht zu den gegenständlich schaffenden Künstlern (und sehr wenigen Künstlerinnen) der Roaring Twenties, die dann ab den 60er Jahren gefeiert wurden. Mit ihrer Malerei lag sie sozusagen haarscharf neben dem, auf Verismus und Neue Sachlichkeit verengten, Zeitgeist: Das Schrille und Verruchte wie auch kalte Glatte fehlte ihren Bildern völlig.

Die Ehre ihrer internationalen Wiederentdeckung gebührt der Engländerin Ca-

roline Stroude, die 1987, angeregt von Linda Nochlins Künstlerinnen-Forschung, die hochbetagte Malerin in einer Londoner Ausstellung präsentierte.

Auch in Deutschland war es eine Frau, Anna-Carola Krausse, die Leben und Werk von Lotte Laserstein bekannt machte. Die Kunsthistorikerin sah Arbeiten von ihr während der Vorbereitung zu der großen Ausstellung über den Verein Berliner Künstlerinnen und war sofort elektrisiert. Die Schau zu dessen 125-jährigen Jubiläum fand 1992 statt und präsentierte erstmals in der Bundesrepublik zwei Gemälde der Malerin, die 1928 dem Verein beigetreten und zeitweilig auch im Vorstand aktiv war. Aber Lotte Laserstein blieb vergessen. Das änderte sich grundlegend erst 2003, als Anna-Carola Krausse ihre umfasende Forschungsarbeit veröffentlichte und die bedeutende Stellung von Lotte Laserstein im Gefüge der Weimarer Moderne zudem in einer gemeinsam mit dem Verborgenen Museum veranstalteten, sehr erfolgreichen Retrospektive im Berliner Stadtmuseum der Öffentlichkeit vor- und unter Beweis stellte.

Noch einmal sollten anderthalb Jahrzehnte vergehen, bevor die Künstlerin auch außerhalb Berlins angemessene museale Würdigung erfuhr. Konzentriert auf das im Jahrzehnt von 1925 bis zur Emigration in Berlin geschaffene Werk präsentiert das Frankfurter Städel Museum in der kleinen, aber sehr feinen, Ausstellung Von Angesicht zu Angesicht eine Auswahl von etwa 40 Arbeiten, darunter viele Hauptwerke. Die in ein Kunstkabinett verwandelten Räume der Graphischen Sammlung unterstreichen den intimen Charakter der Bilder und bringen die gedeckten Farben zum Leuchten.

Wie sagten Aleida und Jan Assmann doch: Das kulturelle Gedächtnis ist kein Selbstläufer, sondern das Ergebnis unablässiger kultureller Arbeit. Wie diese Ausstellung, die im April 2019 weiter nach Berlin wandert, damit Lotte Laserstein und ihr Werk in Erinnerung bleiben.

Die Ausstellung »Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht« ist noch bis zum 17. März 2019 im Städel Museum Frankfurt/Main und vom 5. April bis 12. August 2019 in der Berlinischen Galerie zu sehen. Der Katalog ist im Prestel Verlag erschienen und kostet 39,90 € (Museumsausgabe).

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