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© Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Axel Schmidt

Zur Rolle der SPD nach der Bundestagwahl Die Brückenbauer-Partei

»Innerparteilicher Erneuerungswille, programmatisch-politischer Kompetenzerwerb und die persönliche Kooperationsbereitschaft der Spitzenpolitiker (müssen) ineinander verwoben sein, wenn man als Partei mehrheitsfähig werden und das Mandat zur Regierungsführung erhalten will.« So beschrieb der Historiker Klaus Schönhoven die Bedingungen für den Aufstieg der SPD in den 60er Jahren bis hin zur Regierungsübernahme durch Willy Brandt.

Historische Vergleiche hinken, fast immer. Und doch erinnert einiges aus den vergangenen Wochen und Monaten an die Beschreibung Schönhovens. Es ist der SPD gelungen, eine Sondersituation – dass die amtierende Kanzlerin nicht mehr zur Wahl antritt – in einen Wahlsieg zu verwandeln. Wichtig dafür waren gewiss die persönlichen Fehler und die massiven Schwächen bei Union und Grünen. Ohne die eigenen Stärken, die bisher in der öffentlichen Debatte so wenig beleuchtet wurden, wäre dieser sozialdemokratische Wahlsieg aber gleichwohl undenkbar gewesen.

Da ist die große Popularität des Spitzenkandidaten der Partei. Nicht nur seine Amtserfahrung, sondern auch die hohen Kompetenzzuschreibungen auf vielen Politikfeldern ließen Olaf Scholz als jemanden erscheinen, der einerseits Stabilität und Verlässlichkeit verkörpert, und andererseits auch Wandel gestalten kann. Ohne die erfolgreiche Verkörperung einer politischen Position kann keine Partei Wahlen gewinnen.

Auch der Kernbegriff des Wahlkampfes war klug gewählt: Respekt! Respekt gegenüber jedermann und jederfrau, Respekt für die Lebensleistung der Menschen. Damit hat die SPD bewusst nicht den Eindruck erweckt, dass es bei sozialer Gerechtigkeit um die Alimentierung eines Teils der Gesellschaft geht, der nicht so glücklich, fleißig oder geschickt wie andere durchs Leben kommt, sondern dass jeder und jede Anerkennung verdient. Würde statt Hartz IV, so könnte man zuspitzen. Dass es sich dabei um mehr als ein geschicktes Spiel mit politischer Semantik handelte, belegen die konkreten Forderungen, die damit einhergingen: Bürgerversicherung, Bürgergeld, höhere Löhne und stärkere Tarifbindung.

In der mit Respekt verbundenen Erzählung konnten sich unterschiedlichste Gruppen der Bevölkerung wiederfinden. Der engagierte Selbstständige, der schon die zweite Insolvenz erlebt und nun Sozialleistungen beziehen muss, die pflegende Schwiegertochter, deren Leistung nicht gesehen wird, der Polizist, der bei seinem Streifengang beleidigt und angespuckt wird – all diejenigen und viele mehr wurden durch das Respekt-Narrativ angesprochen.

Diese breite Ansprache unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen war alles andere als selbstverständlich, schließlich gab es im Vorfeld der Wahl immer wieder Empfehlungen, sich doch auf diese oder jene Gruppe zu fokussieren. Man müsse nun endlich mehr auf die Kommunitaristen zugehen, so die einen, oder eher auf die Kosmopoliten, so die anderen. Ganz andere empfahlen, die »alten, weißen Männer« endlich mal zu vergessen, wieder andere betonten, dass es genau auf sie als verlässlichste Wählergruppe ankäme. Entgegen aller Ratschläge zur Selbstverzwergung hat die Kampagne eine breite Ansprache versucht. Respekt war der Schlüsselbegriff, der in unterschiedlichen Milieus verfing. Das war nicht nur wahlstrategisch erfolgreich, sondern wurde auch dem Anspruch einer Volkspartei gerecht. Die SPD war – neben der FDP auf niedrigerem Niveau – die einzige Partei, die in allen Teilen des Landes gleichermaßen gewählt wurde.

Diese Leitidee des Wahlkampfes konnte auch deshalb ihre Kraft entfalten, weil sie auf einer weitgehend geklärten programmatischen Grundlage fußte. Nach Jahren des innerparteilichen Haderns, ob denn die Agenda nun richtig war oder nicht und des öffentlichen Fragens, wofür die SPD jetzt eigentlich steht, ist mit dem Sozialstaatsbeschluss der SPD im Dezember 2019 eine Neuaufstellung gelungen. »Eines der gehaltvollsten Papiere der SPD seit Godesberg« – so hat Heribert Prantl das Papier damals eingeordnet. Und diese Einordnung scheint nicht übertrieben, denn mit diesem Beschluss konnten tiefe Spaltungen, an denen sich die Partei bis zur völligen Erschöpfung aufgerieben hatte, überwunden werden.

Auch in vielen anderen Politikbereichen hat die SPD wieder spannende Debatten in ihrem intellektuellen Umfeld aufgesogen und in eine attraktive Programmatik übersetzt.

Innerparteiliche Geschlossenheit

Als weitere Erfolgsbedingung muss schließlich das hohe Maß an innerparteilicher Geschlossenheit genannt werden. Seit dem Wahlkampf 1998 war es nicht mehr gelungen, eine solche Kohärenz zu erzielen. Viel zu oft erschienen politische Debatten in der Partei wie Glaubenskriege, die nur in einem Schisma enden konnten. Und die süffisanten Hinweise ehemaliger Spitzenpolitiker der Partei, wie sie denn nun die aktuelle Situation besser meistern würden als ihre Nachfolgerinnen und Nachfolger, waren ebenso zahlreich wie unerträglich. All das schien ab dem Frühjahr 2021 überwunden. Damit hob sich die SPD nicht nur von ihrer jüngeren Vergangenheit, sondern auch von der politischen Konkurrenz ab. Diese Geschlossenheit lässt sich nur schwer verordnen, sondern beruht auf Kooperationsbereitschaft, gemeinsamen Interessen, Geduld und Vertrauen bei allen Beteiligten.

Kurz gesprochen: Es ist der SPD gelungen, Brücken zu bauen. Brücken zwischen unterschiedlichen Gruppen der Gesellschaft, Brücken zwischen unterschiedlichen programmatisch-politischen Positionen in der Partei und Brücken zwischen Akteuren von höchst unterschiedlichem Temperament, Positionen und Politikstil.

Und genau darauf wird es in den nächsten Monaten und Jahren ankommen: Brücken bauen, zunächst in koalitionsstrategischer Hinsicht. Es wird darum gehen, ein Bündnis zwischen drei durchaus unterschiedlichen Parteien zu bilden, das nicht nur eine arithmetische Mehrheit wird, sondern Grundlage für einen weitreichenden sozialökologischen Wandel bietet. Wer sind die Partner dabei?

»Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen« – Dieser Satz stammt nicht etwa aus dem aktuellen Wahlprogramm von SPD oder Grünen, sondern aus den Freiburger Thesen der FDP (1971). Es verweist auf eine Traditionslinie dieser Partei, die es wiederzuerwecken gilt. Vor der Lambsdorff-Wende Anfang der 80er Jahre gab es eine nicht immer dominante, aber oft präsente sozialliberale Strömung in der FDP. Die vergangenen vier Jahrzehnte Verengung des politischen Liberalismus in Deutschland auf Austeritätspolitik und Steuersenkungen haben davon abgelenkt, dass die umfassenden Reformprojekte der SPD-geführten Regierungen in den 70er Jahren ohne die FDP nicht möglich gewesen wären. Inzwischen gibt es einige – wenige – Stimmen auch in der gegenwärtigen FDP, die diese Traditionslinie wieder betonen. Wenn es gelingt, das Selbstverständnis der FDP vom reinen Steuersenkungsdogma zu einem echten Liberalismus weiterzuentwickeln, der gesellschaftliche Reformen, die dafür nötigen materiellen Grundlagen und auch den freiheitlichen Rahmen dafür in den Blick nimmt, gäbe es Anknüpfungspunkte für gesellschaftlichen Wandel.

Aufseiten und im Umfeld der Grünen wird es darum gehen zu realisieren, dass zwar der Klimawandel ein existenziell drängendes Thema ist, aber dass zugleich das wichtigste Thema bei der Wahlentscheidung aus der Perspektive der Bürgerinnen und Bürger die »soziale Gerechtigkeit« war. Die Wahrnehmung, die in den Hochtagen der Fridays-for-Future-Demonstrationen entstanden sein mag, dass es eine riesige gesellschaftliche Trägerschicht gibt, die sofort einen radikalen Wandel aller Lebensverhältnisse will, um die Klimaerwärmung zu stoppen, hat sich zumindest nicht bis zur Wahlurne getragen. Augenscheinlich gibt es viele Menschen, die dringendere Sorgen und Nöte für sich oder die Gesellschaft sehen.

Hier spätestens kommt die SPD ins Spiel: Ihre Aufgabe in der Dreier-Konstellation wird auch sein, diejenigen in einem gesellschaftlichen Reformbündnis zu repräsentieren, die einem Wandel kritisch gegenüberstehen, weil sie viel zu oft die Erfahrung gemacht haben, dass es ihnen nach diesem Wandel schlechter geht als vorher. Es wird darum gehen, deren Sicherheitsbedürfnis ernst zu nehmen und zugleich ihre Expertise für den Wandel zu nutzen. Dem Osten Deutschlands wird dabei eine besondere Bedeutung zukommen.

Die Rolle der SPD geht aber weit darüber hinaus: Ihre Aufgabe wird es sein, in einem Bündnis aus unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Kräften einen sozialökologischen Transformationsprozess zu gestalten und eine möglichst radikale Reformpolitik zu entwickeln.

Wie kann das gelingen? Es lohnt sich, für diese Aufgabe in die reich gefüllte Schatztruhe sozialdemokratischer Theoriegeschichte zu schauen. Denn vor etwas mehr als 100 Jahren hat die SPD schon einmal darüber diskutiert, wie gesellschaftlicher Wandel gelingen kann. In die Geschichte der Partei ist das als Revisionismusdebatte eingegangen.

Der maßgebliche Akteur in dieser Debatte war Eduard Bernstein. Ein Mensch von unauffälliger Gestalt, Wegbegleiter und Nachlassverwalter von Friedrich Engels, später Reichstagsabgeordneter. Ein eher mittelmäßiger Redner, aber ein blitzgescheiter Denker. Er hat sich gegen jede Form von gesellschaftlichem Wandel durch Revolution ausgesprochen. Ein radikaler Bruch hin zu etwas total Anderem, dem die SPD damals zumindest noch parteioffiziell anhing, das schien ihm aus verschiedenen Gründen gefährlich und falsch. Zwei seiner Argumente sind auch für die Organisation von gesellschaftlichem Wandel heute wichtig:

Erstens ist in komplexen und hochgradig ausdifferenzierten Industriegesellschaften kaum vorstellbar, dass von heute auf morgen ihre Funktionsweise – oder ein wichtiger Bestandteil dessen wie der Produktionsmodus – durch eine ganz andere, alternative Funktionsweise ersetzt werden könnte. Millionen von Wirtschaftsakteuren können nicht von heute auf morgen umgepolt werden.

Zweitens beruht Bernsteins Skepsis gegenüber einem radikalen Umbruch auch auf einem realistischen Blick auf die Veränderungsbereitschaft bei den Trägerinnen und Trägern des Wandels. Er ging nicht davon aus, dass ein »unter kapitalistischen Bedingungen sozialisiertes Proletariat« sich unmittelbar für eine alternative Gesellschaftsform entscheiden werde. Und wer die Selbstbestimmungsrechte der gesellschaftlichen Individuen ernst nimmt und Wandel nicht durch eine Elite verordnen will, der kann realistischerweise nur einen graduellen Wandel erwarten.

Eine solche Reformpolitik in kleinen Schritten erscheint nicht besonders weitreichend und mag zu klein wirken, angesichts der großen und drängenden Herausforderungen. Tatsächlich aber ist sie radikal in dem Sinne, dass sie rasch so weit geht, wie die demokratisch ausgehandelte Bereitschaft dafür in der Gesellschaft trägt.

Die wichtigste Aufgabe der SPD wird also sein, mithilfe einer Koalition Brücken im Sinne eines breiten gesellschaftlichen Reformbündnisses zu bauen und so die sozial-ökologische Transformation entscheidend voranzutreiben.

Damit sind bei Weitem noch nicht alle Aufgaben benannt. Es wird neben vielem anderen auch darum gehen, die Brücken zwischen den unterschiedlichen Strömungen der Partei weiter auszubauen und Brücken zwischen Regierung und Partei zu schlagen. Einiges zu tun also für die Brückenbauer-Partei.

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