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Die Bürgerversicherung bleibt auf der Tagesordnung

Während der Sondierungsgespräche mit der Union über eine Fortführung der Großen Koalition rückte die Bürgerversicherung ins Zentrum der Diskussion. Diese Debatte kam unvorbereitet: Im Wahlkampf war sie eher ein Randthema gewesen. Wie sich zeigte, waren wichtige Details, die die Debatte und schließlich die Akzeptanz einer Bürgerversicherung entscheidend beeinflussen würden, nicht ausreichend geklärt. Was bei jeder politischen Maßnahme zutrifft, gilt in besonderem Maße bei einer solch fundamentalen Reform der Finanzierung des Gesundheitswesens – die Umsetzung muss jederzeit mitgedacht werden.

Die große Mehrheit der Bevölkerung hält das Nebeneinander eines privaten und eines gesetzlichen Krankenversicherungssystems im Grunde für ungerecht. Welche tief greifende Ungerechtigkeit hinter diesem System steckt, lässt sich leicht an zwei Szenen verdeutlichen. Man stelle sich vor, jemand bittet bei einem niedergelassenen Facharzt um einen Termin und wird gefragt, ob er ein Mann oder eine Frau sei. Da er sagt, er sei ein Mann, bekommt er einen Termin am nächsten Tag; für eine Frau hätte es erst in drei Wochen einen Termin gegeben. Oder etwas drastischer: Ein weißer Mann nimmt in einem separaten, leeren Wartezimmer Platz, in dem Getränke bereitstehen, während sein schwarzer Nachbar in einem überfüllten, schlecht möblierten Zimmer auf den Arztkontakt wartet. Nichts anderes passiert im deutschen Gesundheitssystem, nur dass eben nicht Geschlecht oder Hautfarbe das Merkmal sind, anhand dessen unterschieden wird, sondern das Einkommen. Und im Kern ist diese Diskriminierung nur schwer mit einer medizinischen Ethik vereinbar, die besagt, dass jeder ungeachtet seiner Person in Belangen der Gesundheit gleich behandelt werden soll.

Das Projekt der Bürgerversicherung ist jedoch gefährdet, wenn nicht zwei Punkte vorab umfassend geklärt sind, die für die Akzeptanz zentral sein werden.

Zum einen betrifft dies die Höhe der Vergütung, die Krankenhäusern und Arztpraxen zur Verfügung steht. Dies wird über die Honorare und somit die Möglichkeit der Abrechnung medizinischer Leistungen geregelt. Medizinische Leistungen bestehen nicht nur aus dem, was von Ärzten erbracht wird, sondern beinhalten auch die Arbeit des Pflegepersonals oder der medizinischen Fachangestellten in den Praxen. Ein wichtiger Teil der Umsätze im Gesundheitssystem stammt aus den Abrechnungen mit Privatversicherten. Der Umstand, dass bei Privatversicherten für die gleiche Arbeit mehr Geld verlangt werden kann, ist der Grund für die Ungleichbehandlung der Patienten/innen. Jeder sollte einmal ehrlich zu sich sein und fragen, wie man sich selbst verhalten würde, wenn man für die gleiche Arbeit unterschiedlich bezahlt würde. Für welche Arbeit würde man sich eher entscheiden? Sicherlich für die, die besser bezahlt ist. Deswegen muss es mit einer Bürgerversicherung so sein, dass für die gleiche medizinische Leistung das gleiche Honorar abgerechnet werden kann. Was aber nicht funktionieren wird, wenn die Akzeptanz erhalten werden soll, ist, die Vergütung – mithin also die Preise – auf dem jetzigen Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung zu belassen und auf alle Versicherten zu übertragen. Es wird nicht gehen, dass die Einführung der Bürgerversicherung genutzt wird, um Kosten für medizinische Leistungen im ambulanten und stationären Bereich zu sparen. Dies wird eben nicht nur Ärzte/innen in den Praxen treffen, sondern auch deren Angestellte sowie die gesamte Krankenhauslandschaft mit den angestellten Ärzten/innen und dem Pflegepersonal. Die Summe, die für die Patientenversorgung zur Verfügung steht, wird nicht abnehmen können. Im Gegenteil: Es könnte sogar am Ende mehr kosten. Die Honorarordnung wird also mit Einführung der Bürgerversicherung neu zu beraten sein. Dies bietet aber endlich die große Chance, Kosten für einzelne Leistungen besser abzubilden, als dies derzeit der Fall ist.

Zum anderen muss geklärt sein, was mit denjenigen passiert, die weiterhin privat versichert sein werden. Es muss die Frage beantwortet werden, wie mit den Rückstellungen umgegangen werden soll. Und es muss ein Szenario für den Fall geben, dass private Krankenversicherungen ihren Betrieb einstellen, weil ihnen die Versicherten fehlen. Auch steigende und damit untragbare Beitragssätze könnten ein zunehmendes Problem werden, zumal in der Rente.

Grundlinien einer Reform des Gesundheitssystems

Die Diskussion um die Bürgerversicherung offenbart aber ein weiteres, grundsätzliches Problem der gesundheitspolitischen Debatte: Es wird immer nur über die Finanzierung gesprochen. Die Fokussierung darauf engt aber die Diskussion unnötig ein und verschließt den Blick vor anderen wichtigen Fragen. Die Debatte um die Bürgerversicherung sollte genutzt werden, um auch über eine Reform des Gesundheitssystems insgesamt zu sprechen. Drei Punkte sollten hier einbezogen werden:

Eine Frage ist, warum es überhaupt möglich sein soll, dass ein Krankenhaus als ein gewinnorientiertes Unternehmen angesehen wird. Damit verbunden ist die Frage, ob es angemessen ist, mit der Gesundheit – gar dem Leben – von Menschen, einen übermäßigen Profit zu erwirtschaften. Dies bedeutet nicht, dass mit Ressourcen nicht mit Bedacht umgegangen und dass nicht auch Geld erwirtschaftet werden soll, um zum Beispiel neue Medizintechnik anzuschaffen oder mehr Pflegekräfte einzustellen. Aber es erscheint schon merkwürdig, dass mit der Gesundheit von Menschen individuelles Gewinnstreben befriedigt werden soll. Viele Kaufleute, die in der sogenannten »Gesundheitswirtschaft« tätig sind, meinen, man könne ein Krankenhaus wie eine Automobilfabrik betreiben. Dies fasst aber auch intellektuell zu kurz, weil es zwei wesentliche Dinge übersieht. Auf der einen Seite ist der Mensch keine Maschine, die beliebig optimierbar und berechenbar ist. Auf der anderen Seite ist ein Patient kein Kunde. Wenn jemand krank ist, sucht er sich das nicht bewusst aus; es passiert ihm. Dass er medizinische Hilfe braucht, ist keine willentliche Konsumentscheidung. Kurz: Ein Krankenhaus kann kein Kaufhaus sein. Daraus ergibt sich die Frage, ob es überhaupt angemessen ist, Krankenhäuser als gewinnorientierte Kapitalgesellschaften zu organisieren. Sollten Krankhäuser nicht gemeinnützig und insofern Non-Profit-Organisationen sein? Diese Frage stellt sich insbesondere für die Universitätskliniken, die den gesellschaftlichen Auftrag haben, überregional die Bevölkerung maximal zu versorgen.

Dass Krankenhäuser keine Kaufhäuser sind, sollte aber auch jeder berücksichtigen, der das Gesundheitssystem in Anspruch nimmt. Man kann zunehmend beobachten, dass allgemeines Konsumverhalten auf den Gesundheitsbereich übertragen wird. Dies wird auch dadurch erleichtert, dass – wie bei jedem Onlineversand – medizinische Hilfe rund um die Uhr an jedem Tag des Jahres zur Verfügung steht. Wenn man nach Feierabend oder bequem am Wochenende online shoppen kann, warum sollte man nicht auch seine Besuche beim Arzt so organisieren können? Dies führt dazu, dass am Wochenende Notaufnahmen von Krankenhäusern aufgesucht werden, um eine Gesundheitsvorsorge machen zu lassen. Oder eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens, die schon seit Wochen besteht, wird um Mitternacht zum Notfall deklariert. Diejenigen, die sich so verhalten, nehmen viel Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch, die dann für echte Notfälle fehlt. Man kann auch zunehmend beobachten, dass der Rettungswagen als Taxi missbraucht wird. Fahren spätabends die Busse nicht mehr und möchte man nicht die Kosten für eine echte Taxifahrt bezahlen, so scheint ein Notruf eine Alternative zu sein. Der Rettungswagen ist aber nur für die wirklich lebensbedrohlichen Notfälle gedacht und steht, wenn er denn wegen eines Infektes der oberen Luftwege gerufen wird, für eben diese Aufgabe nicht mehr zur Verfügung. Eine Maßnahme gegen diese Art von Fehlnutzung – wenn nicht gar Missbrauch – des Systems, wäre eine Beteiligung an den Kosten. Wer zum Beispiel den Rettungswagen als Fahrdienst verwendet, sollte dies dann auch wie einen Fahrdienst bezahlen müssen.

Der dritte Punkt ist die Frage nach einem Betreuungsschlüssel im Gesundheitssystem. Der Druck, Kosten zu reduzieren, um Gewinne zu optimieren, hat auch dazu geführt, dass weniger Personal mehr Patienten/innen versorgen muss. So kommen immer mehr Patienten/innen auf immer weniger Pflegepersonal oder Ärzte/innen, die in unmittelbarem Kontakt mit den Patienten/innen stehen. Die Zitrone aber ist mehr als ausgepresst. Die anfallende Arbeit ist unter diesen Bedingungen nicht mehr zu schaffen; die Frage, wie gut die Arbeit noch gemacht werden kann, darf man sich darüber nicht mehr stellen. Während man als niedergelassene Ärztin bzw. niedergelassener Arzt die Zahl der Patienten/innen, die man in seiner Praxis ambulant betreut, durch Einschränkung der Terminvergabe einigermaßen selbst steuern kann, ist dies Krankenhäusern der Regelversorgung nicht möglich. Was hier notwendig ist, ist ein Betreuungsschlüssel für medizinische Versorgung. Es muss nicht nur festgelegt sein, wie viel Pflegepersonal auf wie viele Patienten/innen kommen darf, sondern auch, wie viele Ärzte/innen für eine gute Versorgung notwendig sind. Dies wird auf einer Intensivstation einer Universitätsklinik anders sein als in einer Rehabilitationsklinik. Wenn aber die im Gesundheitssystem Tätigen ihre Arbeit gut machen sollen, dann geht es ohne einen Betreuungsschlüssel nicht. Und überhaupt: Warum soll das, was für Schulen und Kindertagesstätten gilt, nicht auch für Krankenhäuser gelten?

Die Bürgerversicherung könnte mehr soziale Gerechtigkeit in das Gesundheitssystem bringen. Die Diskussion lohnt also. Gleichzeitig sollte die Gelegenheit genutzt werden, über mehr als die Finanzierung zu sprechen. Nur so wird die Einführung der Bürgerversicherung auch die Chance bieten, das deutsche Gesundheitssystem insgesamt zu verbessern.

Kommentare (1)

  • Georg Bingel
    Georg Bingel
    am 15.09.2019
    Überdenkenswerte Ideen

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