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Bücher über die Zerrissenheit der jungen ukrainischen Generation Die Chance, etwas ehrlicher zu schreiben

Die Schriftstellerin und Übersetzerin Haska Shyyan ist im westukrainischen Lwiw (dem früheren Lemberg) geboren und studierte klassische Philologie. Für ihren zweiten Roman »Im Rücken« erhielt sie 2019 den European Prize for Literature sowie den renommierten ukrainischen Lit-Accent Award. Der Roman präsentiert ein faszinierendes Panorama der heutigen Ukraine, eines osteuropäischen Staates, der auf einer intellektuellen und emotionalen Reise zu sich selbst ist. Shyyan entwickelt ein vielschichtiges und sympathisches Ensemble von Lebensentwürfen und Lebenswegen junger Ukrainerinnen und Ukrainern zwischen kriegerischer Zerrissenheit und dem Streben nach Selbstbewusstsein.

Paul-Henri Campbell: Haska, Deinen ersten Roman hast du während der Maidan-Revolution 2014 begonnen und warst dabei selbst in einer Art persönlichem Kriegsnebel, nicht wahr?

Haska Shyyan: 2014 und zu Beginn des Krieges ging es drunter und drüber. Es war hektisch und verwirrend. Für viele Menschen in diesem Land war es schwierig, überhaupt zu begreifen, was vor sich geht. Ich war in dieser Zeit mit einer schweren Meningitis ins Krankenhaus eingewiesen worden. Inmitten dieser Ereignisse fing ich an, den ersten Roman auf meinem Smartphone zu tippen. In der Rückschau wirkt das alles surreal und absurd.

Campbell: Weil die Welt um Dich herum ins Wanken geriet und Du Dich im Krankenhaus auskurieren musstest?

Shyyan: Ich versuchte über die Form der Angst nachzudenken, die einen ereilt, wenn solche Ereignisse plötzlich um einen herum passieren. Wir waren ja in keiner Weise darauf vorbereitet, denn unmittelbar davor war die Ukraine ein mehr oder weniger wohlhabendes Land und auf einem guten Weg: Die jungen Leute hatten Perspektiven, konnten nach Belieben Auslandsreisen machen oder gründeten hier ihre eigenen Unternehmen. Man konnte eigentlich ganz gut verdienen und viele neue Geschäfte machten auf. Du weißt ja selbst, wie angenehm und schön die Stadt Lwiw ist.

Campbell: 2014 fühlte sich ganz anders an als die Ereignisse von 2004.

Shyyan: Bei der Kastanienrevolution 2004 war ich 24 Jahre alt. Es war so viel Leidenschaft in der Sache. Es fühlte sich wie ein gewaltiges Woodstock an. Es gab viele Rockkonzerte. Es fühlte sich wirklich nach einer Revolution an, wenn auch einer sehr festlichen Revolution. Ich hatte das Gefühl, es werde alles gut ausgehen und die Zukunft könnte nur besser werden. Ich dachte, nichts Schlimmes könne je passieren, niemand würde jemanden anderen töten, ich dachte, das Leben sei unzerstörbar.

Campbell: 2014 vollzog sich etwas Dunkleres? Was davor florierte, war plötzlich überschattet und aufgehoben.

Shyyan: Plötzlich war alles riskant. Es bestand die Gefahr, dass ein Krieg ausbricht, der dann eskaliert. Weißt du, als der Krieg dann begann, wusste doch niemand, ob er sich auf den Osten des Landes beschränken würde oder ob die Russen weiter gehen würden. Vielleicht würden sie am nächsten Tag Kiew bombardieren, vielleicht würden sie Terroranschläge in Lwiw orchestrieren. Man hatte ständig den Eindruck, der Grund und Boden selbst sei nicht mehr sicher. Besonders nach der Annexion der Krim und den selbsterklärten »Republiken« von Luhansk und Donetsk beschlich uns das Gefühl, dass jemand unsere Leben einfach auf den Kopf stellt und unseren Zukunftsplänen einen Strich durch die Rechnung macht. Die rapide Entwertung unserer Währung verschärfte dies noch zusätzlich.

Campbell: Wie haben die Leute um Dich herum darauf reagiert?

Shyyan: Einige entwickelten diesen krassen Patriotismus und sie waren stark genug, um fortzugehen und sich freiwillig bei der Armee zu melden. Sie waren bereit, alles andere hintan zu stellen, um dieses Opfer zu bringen. Doch mit der Zeit tauchten zunehmend Geschichten über Schicksale von Frauen auf, die zu Hause geblieben waren. Sie waren freiwillig, manchmal auch unfreiwillig zurückgeblieben, z. B. weil sie Kinder hatten. Meine eigene Tochter war zu dem Zeitpunkt sechs oder sieben Monate alt. Natürlich will man, dass die eigenen Kinder eine behütete, friedliche und angenehme Kindheit durchleben. Sogar solche Menschen, die sich in dieser Situation ganz in ihr Familienleben zurückgezogen hatten und es ehrlich damit meinten, hatten Schuldgefühle und fragten sich, ob sie angesichts der äußeren Bedrohung genug zur Selbstbehauptung des Landes beitrugen.

Campbell: Dein zweiter Roman erkundet solche Lebensverläufe, also Biografien, die sich in den Marginalien des Krieges einschreiben. Da gibt es Figuren und Figurenpaare, die sich in der »neuen Normalität« eingerichtet haben, und die Handlung des Romans führt all diese unterschiedlichen Lebensentwürfe zusammen. Die Geschichte spielt in der Westukraine, nur eine kurze Autofahrt entfernt von der polnischen oder rumänischen Grenze. Der Konflikt trägt sich 1.500 Kilometer entfernt auf der anderen Seite des Landes zu. Es gibt also eine Ungleichzeitigkeit.

Shyyan: Ja, genau. Natürlich gab es auch solche Leute, die sich in einen Eskapismus flüchteten. Solche, die sich sagten: »Okay, das passiert mir gerade nicht. Ich habe nichts damit zu tun. Es gehört nicht zu meiner Geschichte. Ich will einfach weg. Ich fühle mich in meiner Blase sehr wohl, die ich für mich erschaffen habe und will in ihr weiterleben. Lasst mich damit einfach in Ruhe. Ich werde diese Haltung so lange wie möglich aufrecht halten.« Das ist – grob umrissen – die Haltung der Hauptfigur in meinem Roman.

Campbell: Du nennst sie Martha. Du hast in dieser Figur viele Haltungen eines bestimmten Menschentyps zusammengeführt. Kannst Du das etwas näher ausführen?

Shyyan: Es gibt für sie natürlich keinen Prototypen, aber sie entspricht dem, was eine bestimmte Generation zusammengenommen empfindet. Sie gehört zu den Menschen, die in den postsowjetischen 90er Jahren aufgewachsen waren. Ihre Eltern arbeiteten im Ausland und waren daher kaum präsent. Es gab ja dieses Phänomen der Skype-Familien: Wenn die Eltern z. B. in Italien arbeiteten und Geld nach Hause schickten und ihre Kinder keine Möglichkeit hatten, ein Gespür für so etwas wie ein Zuhause oder eine Familie zu entwickeln. Gleichzeitig gibt es in der Westukraine sehr traditionelle Haltungen. Die Familie spielt eine wichtige Rolle, die Religion auch. Und die Kinder dieser Generation wuchsen heran und mussten selbstständig sein, wie eben auch meine Protagonistin Martha.

Campbell: Unternimmt sie mit ihrem Leben einen Aufbau, einen artifiziellen Wiederaufbau?

Shyyan: Martha hat für sich eine wohlige Blase geschaffen. Sie arbeitet im IT-Bereich. Sie verdient ganz gut. Ihre Freunde sind urbane Menschen, die viel reisen. Sie sieht eine Welt der Möglichkeiten um sich herum. Sie möchte nicht, dass dieser Krieg ein Teil ihres Lebens ist.

Campbell: Aber Du rüttelst an ihrem Käfig und führst ein paar andere Figuren ein. Weil der soziale Druck, selbst wenn Krieg ist, ja nie aufhört, oder?

Shyyan: Ich habe daher zwei Figuren geschaffen, die den Gegenpart zu Marthas Lebensentwurf darstellen. Viele Menschen gründen früh Familien. So auch diese beiden Frauen. Sie sind beide Ende 20 und habe bereits Kinder im Schulalter. Eine der Frauen ist, wie Martha, erfolgreiche Unternehmerin; ihr Mann geht später an die Front, kehrt aber bald wieder zurück. Sie geben ein typisches Bild einer idyllischen galizischen Familie ab. Die andere Frau ist Lehrerin. Sie hat drei Kinder und ihr Mann ist ein leidenschaftlicher Patriot, der gleich zu Beginn des Krieges an die Front geht. Jetzt muss diese Zurückgebliebene das tägliche Leben mit den Kindern alleine stemmen. Sie unterstützt aber auch ehrenamtlich die Armee. Sooft sich Martha mit diesen beiden Frauen vergleicht, fühlt sie sich schwach. Sie fühlt sich minderwertig. Sie begreift nicht, woher die beiden Frauen die Energie hernehmen, um all diesen Stress und diese Lasten auf sich zu nehmen. Martha hingegen hat einen Freund. Sie haben keine Kinder und keine Verpflichtungen. Und dann habe ich noch ein weiteres Paar in die Geschichte eingebracht: ein charismatisches aus der Ostukraine.

Campbell: Diese sind Binnenflüchtlinge aus dem Osten, richtig? Du erweiterst nun das soziale Panorama.

Shyyan: Genau. Dieses Paar ist sehr charismatisch. Es war mir wichtig, auch solche Menschen zu zeigen. Denn als die erste Welle von Inlandsflüchtlingen aus der Ost- in der Westukraine kam, begegnete man ihnen mit einer Art Hassliebe. Auf der einen Seite waren es Menschen, die Vieles verloren und Schlimmes erlebt hatten; sie brauchten unsere Hilfe. Gleichzeitig aber gab es Leute, die sagten, »Wir Westukrainer schicken unsere jungen Menschen in den Osten, um für unser Land zu kämpfen und diese Feiglinge kommen hier her, wo es sicher ist, und ducken sich weg.« Es gab auch Vorurteile gegenüber Menschen im Osten. Man hielt sie für schlecht gebildet und verblendet, machte sie dafür verantwortlich, dass es überhaupt so weit kommen konnte. Deshalb wollte ich mein ostukrainisches Paar nicht entsprechend diesem Stereotyp gestalten, sondern inszenierte sie als kosmopolitische und gebildete Menschen.

Campbell: Es gibt in Deinem Roman zahlreiche Rückblenden und Residuen, die aus einer sowjetischen Identität übriggeblieben sind und sich heute noch unter älteren Menschen in der Ukraine halten. Es ist also auch eine Milieustudie. Es gibt z. B. eine witzige Szene, in der sich ältere Frauen im Fitnessstudio über Scham- und Körperbehaarung unterhalten.

Shyyan: Die älteren Frauen vergleichen das Fitnessstudio mit dem sowjetischen Volkssport (»Bereit zu Arbeit und Verteidigung«). Es ist eine Generation von Frauen, die sich nach den alten Tagen sehnen. Vielleicht merkten sie nicht, wie sehr in der Sowjetunion Sexualität tabuisiert war. Die Sowjetunion führte das religiöse Tabu einfach fort. So wie die Kirche keinen Sinn für menschliche Sexualität hatte, hatte auch der kommunistische Staat keinen Sinn für die Komplexität der menschlichen, besonders auch der weiblichen Sexualität. Es gibt ja diese Anekdote, wonach junge Menschen in den 80er Jahren aufgefordert worden waren, über Sexualität zu sprechen und eine junge Frau aufstand und sagte, »In der UdSSR gibt es keinen Sex.« Sexualität war auf Reproduktion beschränkt. Man sprach kaum darüber. Es gab auch nirgends Verhütungsmittel oder Hygieneartikel für Frauen. Viele ältere Leserinnen meines Romans erzählen mir, dass sie nie wirklich Sexualkunde hatten, sich nicht darüber austauschten und dass dies auch heute ihre sexuelle Identität bestimmt. Das ändert sich erst allmählich. Es gab einen entzückenden Augenblick während einer Buchpräsentation. Im Anschluss kamen zwei Damen über 60 zu mir. Die eine sagte: »Weißt Du, deine Martha, das bin ich.« Und die andere sagte: »Nein, ich bin viel mehr Martha als Du.« Diese Begegnung bestätigte mir, dass ich an dieser Stelle nicht übertreibe, sondern es tatsächlich einer Gefühlsprägung entspricht. Es ist ja einfach wirklich wichtig, dass sich insbesondere auch Frauen äußern können zu dem, was sie wollen und was nicht.

Campbell: Wie erreicht Dein Buch sein Publikum? Als ich das BookForum in Lwiw besuchte, traf ich fast mehr Filmemacher/innen und Designer/innen als Autor/innen. Es scheint mir, dass die ukrainische Literatur den Wechsel in ein anderes Medium viel unkomplizierter hinbekommt als etwa die deutsche.

Shyyan: Naja. Vor der Covid-19-Pandemie gab es natürlich zahlreiche traditionelle Lesungen, doch diese wanderten sehr schnell ins Internet, wie ja überall. Wenn ich meinen Roman betrachte, ist es schon so, dass ich durch den European Union Prize for Literature eine stärkere Aufmerksamkeit erhalten habe. Ich bekam danach noch zwei wichtige ukrainische Literaturpreise, den Lit-Accent sowie den Publikumspreis eines nationalen Fernsehsenders. Der ukrainische Markt ist insgesamt relativ schwierig für Print, auch für Zeitschriften. Um sich eine kommerzielle Literaturzeitschrift leisten zu können, müsste man schon ein sehr großer Verlag sein. Ich glaube, das ist in der Ukraine unrealistisch. Es ist sehr schwierig solche Projekte zu finanzieren. Online-Medien machen das natürlich einfacher. Dort wurde mein Buch auch in vielen Formaten vorgestellt. Es gab Videos dazu sowie Besprechungen. Es gibt auch einen starken Trend in Richtung Illustration und Design. Viele Dichter/innen arbeiten in diesen hybriden Formen, einfach weil es ein größeres Publikum erreicht.

Campbell: In einem anderen Gespräch hast Du mir einmal erzählt, dass Du momentan ukrainische Literatur aus dem frühen 20. Jahrhundert liest. Du hast gesagt, Du findest darin viele Themen und Fragen, die auch jetzt noch relevant sind. Spürst Du aber auch Differenzen, einen Bruch? Ist jetzt etwas grundsätzlich anders als für frühere Generationen?

Shyyan: In der sowjetischen Periode – in der sowjetischen Tradition, wenn es so etwas überhaupt gab – war das Schreiben sehr stark an Propaganda orientiert. Sicherlich waren die Leute kreativ. Manchmal waren ihre Texte auch toll geschrieben. Aber sie versuchten im Großen und Ganzen die Zensur zu umgehen oder zu vermeiden, dass sie in den Knast wandern würden. Es gab nichts dazwischen. Um diesen Ton zu treffen, musstest Du die Propaganda verinnerlichen und Dinge sehr positiv beschreiben. So wie heute auf Instagram. Alles musste im rechten Licht erscheinen, alles musste positiv sein. Wer nicht der Ideologie entsprach, wurde als schlechter Charakter dargestellt. Für uns heute nach dem Ende dieser Ära kehrt die Möglichkeit zurück, ehrlich zu sein. Nachdem das Verbot, bestimmte Autor/innen zu lesen, aufgehoben worden ist, kamen wieder Texte zum Vorschein, in denen auch die menschliche Widersprüchlichkeit zum Ausdruck kommt. Es war einfach cool, etwa eine Geschichte zu lesen über einen echten Menschen, der durch ähnliche Verwandlungen geht, sich ähnliche Fragen stellt, ähnlichen gesellschaftlichen Zwängen ausgesetzt ist oder vor ähnlichen existenziellen Herausforderungen steht wie man selbst. Daher, denke ich, sobald die Propaganda vom Tisch genommen wird, erkennt man wieder jenes gemeinsame Band, das alle Menschen über Zeit und Raum zusammenhält.

(Aus dem Englischen von Paul-Henri Campbell.)

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