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Die COVID-19-Pandemie und der Orientalismus

Corona beeinflusst unser Leben in vielerlei Hinsicht. Wir wissen nicht wirklich, wann diese Pandemie enden wird. Viele Gelehrte sagen jedoch, dass die Post-Corona-Gesellschaft eine grundsätzlich andere Gesellschaft sein wird. Ich frage mich, ob dies wahr ist. Mir scheint, dass die europäischen Länder, anstatt sich auf einige grundlegende Veränderungen vorzubereiten, eher wieder zu alten, tief verwurzelten Verhaltensmustern zurückkehren werden.

Südkorea war besonders erfolgreich darin, die Ausbreitung des COVID-19-Virus frühzeitig zu verhindern. Es tat dies, ohne strenge Restriktionen für die Öffentlichkeit und die Wirtschaft anzuordnen wie in China, Europa und den USA. Südkorea konnte die Ausbreitung von COVID-19 erfolgreich eindämmen, weil die Regierung schnell ein kohärentes Bündel von Maßnahmen ergriff.

Während der zweiten Welle Ende 2020 begannen die deutsche Öffentlichkeit und die Medien, die Strategien und die Maßnahmen der deutschen Regierung zu hinterfragen. In dieser Zeit verbesserte sich auch das Bewusstsein für die Leistungen der Regierungen in Ost- und Südostasien etwas. Es häuften sich nun Artikel, die sich mit den »Lehren aus Asien« und speziell den »Lehren aus Korea« befassten.

Hinsichtlich der Deutung gibt es hier eine seltsame Parallele zur Mitte der 90er Jahre, als die sogenannten Vier Tiger (Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan) ihre Fähigkeit zu einer dynamischen Entwicklung ihrer Volkswirtschaften unter Beweis stellten. Es wurde ein übliches Muster, diese Erfolge mit den sogenannten »asiatischen Werten« zu erklären – darunter Disziplin, Gehorsam und Kollektivismus. Die asiatischen Werte wurden zudem als Untergrabung der »westlichen Werte« wie Individualismus, Freiheit und Demokratie dargestellt.

Wenn westliche Medien heute die Corona-Strategien in Ostasien betrachten und zu erklären versuchen, greifen sie wieder auf diese asiatischen Werte zurück. Die Errungenschaften dieser Länder werden auf ihre angeblich autoritären und kollektivistischen Traditionen und Kulturen zurückgeführt. Tatsächlich haben sich solche Vorstellungen schon vor 300 Jahren durchgesetzt, zu der Zeit, als die Europäer begannen, Ostasien kennen zu lernen. Diese Art von Orientalismus gewinnt aber heute in den politischen Diskursen des Westens neue Kraft. Wie unschwer zu erkennen ist, wird auch die epidemische Bedrohung mit orientalistischen Augen gesehen. Daher gewinnt man den Eindruck, dass der »Seuchen-Orientalismus« auch in deutschen und anderen westlichen Diskursen zu einem wichtigen Bestandteil geworden ist.

Im Gegensatz zu diesen Diskursen zeigt ein unvoreingenommener Blick auf die COVID-19-Maßnahmen der koreanischen Regierung beispielsweise, dass sie ganz bodenständig agierte und einfach den in den WHO-Handbüchern ausgearbeiteten Empfehlungen folgte. Das Korean Center for Disease Control and Prevention (KCDC) überarbeitete, nachdem es von der Epidemie des Middle East Respiratory Syndrome (MERS) überrascht worden war, gründlich die Maßnahmen, die bei einem weiteren epidemischen Notfall zu ergreifen sind. Die notwendigen gesetzlichen Grundlagen wurden vorbereitet, während die Rolle der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen gestärkt und das Gesundheitspersonal geschult wurde, um mit verschiedenen Arten von Notfällen umgehen zu können. All dies geschah auf der Grundlage der Empfehlungen der WHO und in Zusammenarbeit mit der WHO.

Obwohl das KCDC fast täglich deutlich machte, dass es im Wesentlichen den WHO-Richtlinien folgte, zogen es deutsche Medien, Politiker und Intellektuelle erstaunlicherweise vor, die koreanische Erfolgsgeschichte mit der konfuzianischen Kultur zu erklären. Nicht nur das, dieses orientalistische Argument wurde dann umgedreht und zur Rechtfertigung dafür benutzt, dass westliche Länder wegen ihres angeblichen Respekts für persönliche Freiheit und Privatsphäre die Corona-Strategien nicht so effektiv umsetzen könnten wie Korea oder andere ost- und südostasiatische Länder. Das Argument lautet, dass Korea nur deshalb die Corona-Epidemie erfolgreich überwinden konnte, weil seine Kultur und Politik die Verletzung von Freiheit und Privatsphäre erlaubt. So wurde die Anerkennung dieser Leistung gleichbedeutend mit einer Herabwürdigung seiner Traditionen und politischen Kultur – und bestätigte ex negativo das tief verwurzelte westliche Überlegenheitsgefühl.

Wie wir sehen, werden außereuropäische Gesellschaften von den Europäern immer noch im Rahmen ihrer Selbstwahrnehmung anders bewertet. Wie Jürgen Habermas sagte, wird nun, da wir so genau wissen, dass wir nichts über den Corona-Virus wissen, die Angst vor dem, was wir nicht wissen, auf einen Außenseiter in Asien übertragen. Wie wir wissen, nimmt die Gewalt, die in der Ausgrenzung des Fremden latent vorhanden ist, zuweilen die Form von physischer Gewalt gegen Menschen an, die als Ostasiaten wahrgenommen werden. Ich selbst, als Ostasiatin, kann mich nicht über einen satirischen Kommentar im Magazin Der Spiegel amüsieren, der Anfang Februar 2020 über den Ausbruch des Corona-Virus in China sagt: »Ein wenig Rassismus geht schon in Ordnung«.

Die Art und Weise, wie Europa derzeit auf die Corona-Krise reagiert, unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von Reaktionen, die wir seit der Vormoderne kennen. Während des Schwarzen Todes richtete sich der Volkszorn gegen die jüdischen Minderheiten, die als Verursacher dieser Epidemie gesehen wurden. Gegenwärtig können wir beobachten, dass Humanität und Weltoffenheit von einem Wettbewerb zwischen den Ländern um den Impfstoff gegen das Corona-Virus überschattet werden. Die gegenwärtige Epidemie scheint nationalistischen Ansprüchen und konkurrierendem Nationalismus einen Schub gegeben zu haben. Wird das die neue Normalität sein?

Betrachtet man die reinen Zahlen, so fällt sofort auf, dass die ost- und südostasiatischen Länder weitaus erfolgreicher in ihrem Kampf um die Eindämmung des Virus waren. Sicherlich hätte es sich lohnen können, die Vorzüge und Defizite der von diesen Ländern angewandten Strategien zu verstehen. Doch überraschenderweise war selbst als die Zahl der Positiv-Fälle in Deutschland im letzten Herbst die 10.000er-Marke pro Tag erreichte, das vorherrschende Thema in den deutschen Medien, dass Deutschland im Kampf gegen das Corona-Virus erfolgreicher sei als andere Länder.

In diesen Diskursen wurde Ostasien als »Spiegel« benutzt, um die Exzellenz Deutschlands zu beweisen. Gleich nach dem COVID-19-Ausbruch in China im Januar 2020 wurde es als »China-Virus« bekannt. Die Gleichung Corona = China gab dem Narrativ, dass China noch kein zivilisiertes Land sei, frischen Wind. Die Wahrnehmung, dass das zivilisierte »Wir« von diesem unzivilisierten China-Virus bedroht sein könnte, schürte auch den Verdacht, dass in Deutschland lebende Chinesen ein Risikofaktor für die Verbreitung des Corona-Virus seien. In der Folge konnten wir beobachten, dass chinesisch und ostasiatisch aussehende Menschen zur Zielscheibe von Hasstiraden wurden. Gleichzeitig kritisierten die Medien, darunter auch die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender, mit großer Freude die »Diktatur« Chinas, weil sie angeblich so spät auf die Corona-Krise reagierte und ihre Fehler zu vertuschen versuchte. Es wird als selbstverständlich angesehen, dass sich das Virus nicht über Chinas Grenzen hinweg ausgebreitet hätte, wenn die chinesische Regierung schnell und angemessen reagiert hätte. Ebenso gibt es, so widersprüchlich es auch erscheinen mag, die Tendenz, China zu beschuldigen, überreagiert zu haben und viel zu radikale Maßnahmen zur Bekämpfung des Virus anzuwenden.

Vielleicht lässt sich eine direkte Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen dem »China-Bashing« der deutschen Medien und der steigenden Zahl von Gewalttaten gegen Menschen, die von ihren Angreifern als Ostasiaten wahrgenommen werden, nicht belegen. Doch ebenso wenig sicher ist, dass solche Vorfälle nichts damit zu tun haben.

Historisch gesehen wurden beim Auftreten von Epidemien oft Sündenböcke gefunden. Diese Sündenböcke, in der Regel Minderheiten wie die Juden, waren dann Diskriminierung und Hass ausgesetzt. Inhalt und Form des Hasses beruhen oft auf lange bestehenden Vorurteilen, die bei solchen Anlässen mobilisiert werden. In dem Hass und der Diskriminierung der Chinesen und Ostasiaten wurden offenbar längst bestehende Konzepte wie das der »gelben Gefahr« neu belebt.

Sobald das China = Corona-Narrativ Anfang 2020 entstanden war, begannen gewöhnliche Bürger, sich über Ostasiaten lustig zu machen, indem sie diese selbst als »Corona-Virus« titulierten. Solche Akte der verbalen Gewalt wurden toleriert. In der Berliner Innenstadt wurde sogar das Besprühen der Gesichter von Asiaten mit Desinfektionsmittel als unbedeutend angesehen. Der Protest gegen diese Übergriffe blieb praktisch unbeachtet. Paradoxerweise wurde sogar das Tragen von Masken als typisch asiatische Eigenschaft angesehen und zum Gegenstand von Karikaturen über die Fremdartigkeit von Ostasiaten.

Die meisten in Deutschland lebenden »Ostasiaten« müssen ziemlich verblüfft gewesen sein, als Anfang 2020 einige deutsche Epidemie-Experten betonten, dass das Tragen von Masken nicht zur Verhinderung von Corona-Infektionen beitrage. Außerdem sei es moralisch korrekt, dass die Allgemeinheit keine Masken kaufe, um die Versorgung der medizinischen Einrichtungen mit Masken nicht zu stören. Das Tragen einer Maske wurde als eine Art »psychologischer Selbstbetrug« und bei gesunden Menschen ohne medizinische Indikation als unvernünftiges und beschämendes Verhalten dargestellt.

Als Südkorea als ein exemplarischer Fall unter anderen für eine erfolgreich umgesetzte Corona-Strategie internationale Aufmerksamkeit erlangte, wurde das Argument, Deutschland könne aufgrund kultureller Unterschiede nicht von den südkoreanischen Erfahrungen lernen bzw. ihnen nacheifern, noch stärker ins Feld geführt. Prominente Politiker, Experten und Journalisten bezeichnen Südkorea als einen autoritären oder gar totalitären Staat. Sie behaupten, dass in Südkorea mithilfe von Handy-Apps jede Bewegung des Volkes überprüft werde und der Staat die so gesammelten Informationen außerhalb demokratischer Kontrollen nutzen könne. Außerdem wird argumentiert, dass das vermeintliche »Überwachungssystem« ohne großen Widerstand der Bürger funktioniere. Wenig überraschend wird dann behauptet, dass ein solches System in einem demokratischen und freiheitsliebenden Land wie Deutschland nicht etabliert werden könnte und sollte. Solche unbewiesenen und lächerlichen Behauptungen wurden durch die Medien als selbstverständliche Wahrheiten ausgegeben.

Der Ostasien-Korrespondent einer der einflussreichsten deutschen Tageszeitungen, der FAZ, stellte unverblümt fest, dass Korea in Bezug auf den Schutz der Privatsphäre ein Alptraum sei, der durch eine digitale Infrastruktur im Dienste der Regierung unterstützt werde.

Andererseits soll die deutsche Corona-App im Gegensatz zu Korea, wie behauptet wird, die Privatsphäre der Nutzer vollständig schützen. Das muss für das deutsche Ego eine gute Sache sein. Auch wenn mittlerweile klar ist, dass diese App eher nutzlos ist. Aber das ist ein anderes Thema. Solange sie die Privatsphäre der Menschen schützt, muss sie als Erfolg gewertet werden.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die von der südkoreanischen Regierung gewählten Quarantänemethoden die individuellen Rechte weit mehr schützen und weit weniger in die individuellen Rechte eingreifen als die in Deutschland und anderen europäischen Ländern gewählten. Einfach ausgedrückt: Die strengen Abriegelungsmaßnahmen, die in Europa gewählt wurden, beinhalten ganz klar schwere Verletzungen der politischen Freiheiten und der individuellen Rechte. Die Europäer, die in dem Denkmuster »Ostasien = konfuzianische Kultur = Autoritarismus« feststecken, finden es jedoch ziemlich schwierig, sich den offensichtlichen Widersprüchen zwischen ihren erklärten politischen Werten und den Ergebnissen ihres Handelns zu stellen. Stattdessen finden sie Erleichterung darin, anderen die Schuld zu geben.

Europäer folgen bei ihrem Blick auf Ostasien immer noch einer Sichtweise von »moderner und demokratischer europäischer Gesellschaft« versus »ostasiatischer Gesellschaft, die von kollektivistischem und konfuzianischem Autoritarismus dominiert wird«. Die Ansicht, dass Europa nichts von Ostasien zu lernen hat, ist immer noch vorherrschend. Im Zuge der Reaktion auf die Corona-Krise wurde dieses orientalistische Vorurteil erneut offengelegt. Es ist zu befürchten, dass sich diese Vorurteile auch nach Corona weiter durchsetzen werden.

In Europa kritisieren nur wenige Menschen die kulturalistischen Vorurteile und die Arroganz, die Deutschland und die europäischen Länder im Laufe der modernen Geschichte gegenüber Ostasien und dem Rest der Welt an den Tag gelegt haben. Leider schützt die Kritik der Wenigen nicht die Anderen, die in ihrem täglichen Leben immer noch Rassismus und Hass ausgesetzt sind. Deshalb bin ich als Ostasiatin, die in Europa lebt, ein wenig besorgt darüber, was für eine »neue Normalität« wir, die Anderen, bekommen werden, wenn die COVID-19-Pandemie besiegt ist.

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