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Das Kyiv Symphony Orchestra gastiert in Deutschland. © picture alliance/dpa | Robert Michael

Timothy Snyders Lektionen für den Widerstand Die demokratischen Immunkräfte von kultureller Soft Power

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder legte 2017 unter dem bestürzenden Eindruck der Trump-Administration einen Essay vor, der sich als Katechismus gegen Tyrannei erweist: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. Lektionen, die der Autor aus der Unrechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts ableitet und zu scharfen Appellen anspitzt – etwa die erste Lektion: »Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam«. Oder etwa: »Setze ein Zeichen«, »Sei freundlich zu unserer Sprache«, »Nimm Blickkontakt auf und unterhalte dich mit anderen«.

Der Yale-Professor brachte damit Beobachtungen auf den Punkt, die er bereits in illuminierenden Untersuchungen über (ost-)europäische Geschichte niedergeschrieben hatte, etwa 2010 in Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin. In diesem Buch beschrieb Snyder den intellektuellen Niedergang in Deutschland und Russland, also die geistige Verkommenheit, duckmäuserische Indifferenz und Verwahrlosung in breiten Teilen der Gesellschaft, die es totalitären Herrschaftsstrukturen erst ermöglichten, zum Beispiel absichtlich Hungersnöte herbeizuführen oder einen Massenmord in Konzentrationslagern zu organisieren.

Auch in seinem 2018 veröffentlichten Werk The Road to Unfreedom: Russia, Europe, America nahm Snyder die strategische Manipulation der öffentlichen Meinung durch Russland in den Blick und demonstrierte, wie auf nichtmilitärische Weise totalitäre Regime jahrelang nahezu unbehelligt Einfluss auf die Mentalitäten, Urteilskraft und Informationsökonomie in demokratischen Ländern nahmen und diese pervertierten. »Der Faschismus wie der Kommunismus« schreibt er im Prolog seiner Lektionen, »waren Reaktionen (…) auf die offenkundige Hilflosigkeit der Demokratien, etwas [gegen die unliebsamen Veränderungen der Realität] zu tun. Faschisten lehnten die Vernunft im Namen des Willens ab und sie leugneten die objektive Wahrheit zugunsten eines glorreichen Mythos, der von politischen Führern beschworen wurde.«

Timothy Snyder ist also weniger an den militärischen Mitteln interessiert, womit totalitäre Regime Gewalt ausüben, vielmehr richtet er immer einen glasklaren Blick auf die intellektuellen und psychologischen Dimensionen von Aggression und Gewalt, die von totalitären Regimen ausgeht und in Form von Soft Power gegen demokratische Gesellschaften eingesetzt wird – etwa durch das Engagement der chinesischen Konfuzius-Institute oder der russisch-oligarchischen Finanzierung des Odessa International Film Festivals.

Es steht viel auf dem Spiel, insbesondere aktuell, da wir uns fragen, wie man der grotesken Gewalt der russischen Aggression begegnen kann. Viel belächelt und tragisch klingen etliche der Antworten aus Teilen der Politik in dieser Zeitenwende. Trotzdem wäre es leichtsinnig bei jedem notwendigen Kurswechsel den pazifistischen Glauben an die Kräfte der menschlichen Vernunft, der Imagination und der Empathie über Bord zu werfen.

Wie sind die Widerstandskräfte der mutigen Ukrainer*innen gestärkt worden, mit welchen Hilfestellungen konnten diese kultiviert und ausgebildet werden? Man denke zum Beispiel auch an Hunderte international vernetzter Tätowierer*innen wie Liza Marchuk aus Lwiw oder Heorhii Lutyi aus Kiew, die imperfekte Zeichen der Rebellion und der nationalen Identität auf Körpern darstellten und gegenwärtig unter anderem auf Instagram immer neue Motive entwickeln, die sich als direkte Kommentare zu den Kriegsereignissen lesen lassen.

Mitschöpfer eines anderen Moments

Timothy Snyder operiert keineswegs auf der Basis jener wolkigen Vorstellung, wonach sich Geschichte wiederhole oder für zwanghafte Begründungen herhalten dürfe, die beispielsweise Kriege oder Invasionen rechtfertigen. Vielmehr untersucht er historische Ereignisse, um sich für die Gegenwart inspirieren zu lassen, um die ungute Dynamik von autoritären Tendenzen und Haltungen an- und durchschaubar zu machen und um aus der Geschichte zu lernen: »Wenn man einen Moment versteht, so erkennt man die Möglichkeit Mitschöpfer eines anderen Moments zu sein. Geschichte erlaubt uns, verantwortlich zu sein: nicht für alles, aber für etwas.«

Snyders Appelle stellen weitreichende Implikationen für kulturelles Engagement dar: »Die Symbole von heute ermöglichen die Realität von morgen. Achte auf die Hakenkreuze und die anderen Zeichen des Hasses. Schau nicht weg und gewöhne dich nicht daran. Entferne sie selbst und setze damit ein Beispiel für andere, das auch zu tun:« Dieser Appell beschreibt die vierte Lektion, die von der Ästhetik der Welt und der Umwelt handelt: »Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt.«

Ich hatte 2019 die Freude, das 26. Book Forum in Lwiw zu besuchen. Es war meine erste Reise als Schriftsteller dorthin. Was mich als Autor, der vertraut war mit der Frankfurter Buchmesse, überraschte, war die intensive Modernität des Festivals. Schon lange vor der durch COVID-19 erzwungenen digitalen Wende praktizierten hier Kulturvermittler*innen, Kulturschaffende, aber auch Journalist*innen qualitativ exzellente Formate und kulturelle Kommunikation, die sowohl analog als auch digital daherkam.

Wer die Presse-Hubs auf Buchmessen wie Frankfurt kennt, wird überrascht sein, wie ungestüm in Lwiw Video- und Print-Journalist*innen auf Blogs, Vlogs, aber auch Magazinen und Zeitungen über jedes Detail der größten Buchmesse in Osteuropa mit großer Kreativität berichteten und wieder berichten werden.

Auch die Kulturlandschaft im heutigen Baltikum, wo Hochtechnologie und Kultur enge Verbündete sind, ist so strukturiert, was unter anderem viele Exponate auf dem Campus der Tal-Tech (der Technischen Universität) in Tallinn zeigen, aber auch die konzeptstarken Co-Working-Spaces der Stadt (etwa Lift99, der Tehnopol Startup Incubator, der Telliskivi Creative City) beweisen. In einigen Regionen Osteuropas entwickelte sich aus einer glücklichen Mischung lokaler Initiativen eine Kulturlandschaft, die durch unternehmerische Energie, intelligente Förderprogramme und programmatischer Selbstbestimmung geprägt ist.

Die Buchmesse Lwiw samt ihrem Kulturprogramm war jedenfalls ein Anlass für diesen journalistischen Dienst, war Exerzitium: Die vielen Journalist*innen übten ihre Berichterstattung in improvisierten Redaktionsräumen aus. Sie übten, wie alle digitalen Ressourcen, Video- und Foto-Fähigkeiten, Reportage und Berichte zusammengeführt werden können: Sie berichteten über das, was sie liebten – nämlich die Literatur und die Buchkunst –, um zu begreifen, dass sie essenzielle kommunikative Kompetenzen trainierten, die im Chaos und der Vernichtung der etablierten Institutionen von Presse und Rundfunk die Gestaltung des öffentlichen Bewusstseins weiterhin gestatten.

Kulturarbeit besitzt daher direkt und unmittelbar auch einen strategischen Sinn. Sie bildet die Immunkräfte aus, die für eine informationelle und kulturelle Selbstbestimmung unabdingbar sind. Sie wirkt gegen Manipulation. Ohne die Pflege der Medien- und einer ästhetischen Ausdrucksvielfalt, ohne eine chaotische und mäandernde Kulturlandschaft, wie sie über Jahrzehnte nach der ukrainischen Unabhängigkeit mit dem Vorzeichen der demokratischen Offenheit und Freiheitlichkeit auf- und ausgebaut worden ist, kein Sieg für die Demokratie.

Hierzu zählen aber nicht nur, wie erwähnt, häufig eher bräsige Veranstaltungen und Initiativen von ausländischen Kulturanstalten, sondern gut geplante Förderprogramme, die lokalen Akteuren ermöglichen, Projekte und Institutionen zu konzipieren und aufzubauen. Ein markantes Beispiel hierfür wäre das von Evgenia Lopata kuratierte Internationale Lyrikfestival »Meridian Czernowitz«, das seit 2010 Tausenden von Autor*innen aus der ganzen Welt unter anderem auch einen Zugang zum kulturellen Leben der Ukraine ermöglichte, sowie – ganz wesentlich – Freundschaften, Vertrauen und ein intellektuelles Band zwischen diesen Schreibenden stiftete.

Zudem ist bei der personellen Besetzung und Ausrichtung von kulturellen Institutionen und Initiativen die wechselseitige internationale Durchmischung wichtig. So hat etwa die ukrainische Filmemacherin Julia Sinkevych eine tragende Rolle beim französischen Literaturfestival Series Mania in Lille, wodurch ungeahnte und vielfältige Rückkoppelungen an die Filmhochschule in Kiew und die weitere Filmszene in der Ukraine entstehen konnten.

Kurzum, überall, wo man hinschaut spielen ukrainische Künstler*innen, Kulturvermittler*innen, Journalist*innen und Intellektuelle tragende Rollen in lokalen, aber auch internationalen Projekten und Institutionen. Auch deshalb siegt dort gerade die Demokratie. Daher ist es unabdinglich, dass die Ukraine auch heute mit allen Mitteln unterstützt wird: »Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt«, so lautet die vierte Lektion bei Snyder.

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