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© Foto: picture alliance/dpa/MAXPPP | Pierre Teyssot

Die drohende Bildungskatastrophe

Seit über einem Jahr hält die Corona-Pandemie die Welt in Atem. Die ergriffenen Maßnahmen wirken nicht immer wie erhofft und ziehen Kollateralschäden nach sich, die nicht unbeachtet bleiben dürfen. Denn bei aller Dringlichkeit, die Gesundheit der Menschen zu schützen, Gesundheit umfasst neben der körperlichen Unversehrtheit auch eine psychische und soziale Komponente und alle drei bedingen einander. Gleiches gilt im übertragenen Sinn für Systeme, wie die Familie, die Wirtschaft oder die Schulen. Blickt man auf die zuletzt Genannten, so mehren sich die Hinweise, dass eine Bildungskatastrophe droht.

Die zunehmende Zahl an Studien zur Wirkung des ersten Lockdowns aus dem letzten Jahr belegt eindringlich, dass die Lernleistung von Kindern und Jugendlichen insgesamt zurückgegangen ist. Homeschooling hat weltweit nicht so funktioniert, wie man es anfänglich in einer Digitalisierungseuphorie erhofft hatte. Dies gilt flächendeckend, also sowohl für die leistungsstarken als auch für die leistungsschwachen Lernenden in den Kernfächern. Bei den Nebenfächern, wie Kunst, Musik und Sport, sieht es noch schlechter aus, denn sie wurden kurzerhand aus den Stundenplänen gestrichen. Schule ist vom Bildungsort zum Lernort verkümmert und nicht einmal dieser klappt wie erhofft.

Gleichzeitig warnen Schulpsychologinnen und -psychologen davor, dass auch das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern Schaden genommen hat. Denn bedingt durch soziale Vereinsamung und schulische Zwangsabstinenz hat der Medienkonsum derart zugenommen, dass viele das Lernen verlernt haben. Überspitzt gesprochen: Das Einzige, was viele in der Krise gelernt haben ist, nichts zu tun. Hält man sich vor Augen, dass Lernstrategien mit die wirksamsten Faktoren für Schulerfolg sind, dann ist es Zeit zu handeln. Immer mehr Lernende brauchen eine Beratung, um wieder zurück ins Lernen und manchmal sogar zurück ins Leben zu finden.

Beide Effekte schlagen sich besonders in bildungsfernen Milieus nieder: Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern, die ein geringes Einkommen haben oder selbst einen niedrigeren Bildungsabschluss, sind die großen Verlierer. Zweifelsfrei ist gerade in Deutschland die Bildungsschere immer schon beachtlich weit geöffnet, was nicht zuletzt mit der Vielfalt der kulturellen Prägung in den Elternhäusern zu tun hat. Aber die schulischen Maßnahmen, die zur Eindämmung der Corona-Pandemie ergriffen wurden, haben diese Situation bereits heute massiv verschärft und verschärfen sie noch weiter. Bildungsungerechtigkeit nimmt also zu.

Und schließlich hat all das Gesagte ökonomische Folgen. Denn der Zusammenhang zwischen Bildungsniveau einer Gesellschaft und Wirtschaftskraft eines Landes ist bekannt: In Ländern mit einem hohen Bildungsniveau wächst die Wirtschaft schneller als in Ländern mit einem niedrigen Bildungsniveau. Bildung ist also nicht nur für den Einzelnen, sondern auch für die Ökonomie insgesamt entscheidend. Erste Schätzungen gehen davon aus, dass die Schulschließungen und der damit verbundene Distanzunterricht aus dem letzten Jahr bereits massive Einschnitte zur Folge haben. Angesichts des anhaltenden Stotterbetriebs werden diese nicht nur verfestigt, sondern noch weiter vertieft.

Man kann es also drehen und wenden, wie man möchte: Die letzten Wochen und Monate haben dem Bildungssystem geschadet. Die getroffenen Maßnahmen haben im Vergleich zu den Jahren davor negative Effekte auf die Bildung. Somit besteht kein Zweifel: eine Bildungskatastrophe droht.

Was also tun? Ein Weiter-so kann es nicht sein. Weder die Digitalisierung ist die Heilsbringerin in der Krise, noch das ständige Schließen von Schulen. Zu sehr greift beides in die pädagogische Grundeinsicht ein, dass Bildung ein sozialer Prozess ist. Der Mensch braucht den Menschen im Hier und Jetzt und er braucht ihn analog, weil er digital nicht abbildbar ist. Der wichtigste Grund für Lernende, in die Schule zu gehen, ist nicht die Schule, nicht das Fach und nicht die Lehrperson: es sind die Gleichaltrigen. Neueste neurologische Untersuchungen zeigen sogar, dass Aufmerksamkeit und Konzentration um ein Vielfaches höher sind, wenn sich Lernende gemeinsam im Klassenraum befinden anstatt zu Hause vor dem Rechner sitzen. Aus pädagogischer Sicht kann es daher nur heißen: So schnell wie möglich die Schulen wieder öffnen und so viel Präsenz wie möglich. Alle weiteren Maßnahmen müssen in diese Richtung weisen. Da ohne Frage Hygienestandards wichtig und finanzielle Ressourcen begrenzt sind, ist einer Aufrüstung der Klassenzimmer mit Hygienemaßnahmen der Vorrang vor einer digitalen Aufrüstung der Kinderzimmer zu gewähren.

Bis das so weit ist, sollten drei Maßnahmen ergriffen werden: Erstens ist das Homeschooling endlich pädagogisch professionell zu gestalten. Sind im ersten Lockdown vielerorts Lehrpersonen untergetaucht, konnte man im zweiten Lockdown das andere Extrem erleben: Lernende werden für mehrere Stunden am Tag mit monotonen Videokonferenzen an die Geräte gefesselt. Bei aller Freude über das Funktionieren der Technik, die Pädagogik darf nicht vergessen werden: Klarheit, Herausforderung, Motivierung und Rhythmisierung sind wichtiger denn je. Allen voran bleibt die Beziehungsarbeit die wichtigste Aufgabe, d. h. Feedback in alle Richtungen und so oft es geht. Zudem ist Maß halten angesagt, insbesondere bei den Lehrplaninhalten. Diese können zwar in einer falsch verstandenen digitalen Einbahnstraße schnell gelehrt werden, aber gelernt werden sie deswegen noch lange nicht. Eine Entrümpelung der Lehrpläne ist somit unabdingbar, was übrigens nicht erst seit der Corona-Pandemie eine berechtigte Forderung ist.

Zweitens ist durch eine Neuauflage des Schulfernsehens eine Kompensation möglich. Dieses wurde bereits im letzten Jahrhundert forciert, um die damals drohende Bildungskatstrophe einzudämmen. Bei allen pädagogischen Bedenken gegenüber dem Fernsehen, die digitalen Möglichkeiten könnten es revolutionieren. Die Anschlüsse sind vorhanden und die Systeme laufen stabil. Durch eine kluge Rhythmisierung in 20-Minuten-Sequenzen und eine didaktische Aufbereitung auf höchstem Niveau (mit Lernstandserhebungen und –tests) können die Mindeststandards in allen Fächern und allen Jahrgangsstufen vermittelt werden. Lernende hätten so eine Orientierung, Lehrpersonen eine Unterstützung und Eltern eine Entlastung. Natürlich geht auch das nicht von heute auf morgen. Aber: Es gibt so viele engagierte Lehrkräfte. Warum sollte man diese nicht zusammenschließen, um in der Kürze der Zeit ein solches Notprogramm zu initiieren? Die Bildungspolitik müsste die Führung übernehmen und endlich ihre Stärke unter Beweis stellen. Längerfristig könnte das Schulfernsehen ausgebaut und mit digitalen Tools ergänzt werden, sodass es auch nach der Krise hilfreich sein kann – zur Differenzierung und Förderung, zur Vorbereitung und Nachbereitung von Unterricht.

Und drittens sind Sommerschulen eine Lösung, entweder in den letzten Wochen eines Schuljahres oder in den Schulferien. Von Lehrpersonen basierend auf den Lernstandserhebungen empfohlen bzw. verordnet könnten vor allem Lernende aus bildungsfernen Milieus schnell und einfach erreicht werden. Das Notprogramm des Schulfernsehens ließe sich hier erneut nutzen und integrieren. Eine Begleitung durch pädagogisches Fachpersonal, das dafür entsprechend zu honorieren ist, wäre notwendig und die bildungspolitische Herausforderung. Das wäre eine Digitalisierung, die sich an der Pädagogik orientiert – und nicht die sinnlose Umkehrung nach dem Motto: »Hauptsache digital, weil digital modern ist.«

Sicherlich hätte das eine oder andere schon längst passieren können, ja müssen. Aber lieber spät als nie. Denn jeder Schritt, um die drohende Bildungskatastrophe abzufedern, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Langfristig braucht es dafür aber mehr als die genannten Maßnahmen. Denn die Corona-Krise hat viele Schwachstellen im Bildungssystem offengelegt. Ein pädagogischer Masterplan, der Bildungsgerechtigkeit ins Zentrum rückt, ist überfällig. Da es pädagogische Grundsätze gibt, die in allen Lebenslagen ihre Gültigkeit haben, ist eine Orientierung daran hilfreich:

Erstens: Bildung, nicht Lernen. Wann immer bildungspolitische Entscheidungen getroffen werden, dürfen wir Schule nicht auf Lernen reduzieren. Vor Bildschirmen lässt sich in der Tat vieles lernen. Aber damit es zu Bildung wird, ist ein Austausch über das Gelernte notwendig – und diesen Austausch kann Technik nicht ersetzen. Dies gilt gerade für Lernende aus bildungsfernen Milieus. Die Sinnhaftigkeit vieler Lehrplaninhalte ist heute fraglich und oft Ergebnis einer falsch verstandenen Tradierung, die zu einer Überfrachtung von Lehrplänen geführt hat. Daher die erste Forderung: Entrümpelt die Lehrpläne, damit Kinder und Jugendliche nicht nur etwas lernen, sondern sich bilden. Das Anliegen ist dabei nicht, Schule leichter zu machen, sondern herausfordernder, weil sinnvoller.

Zweitens: Evidenz statt Eminenz. Meinungen sind keine Erkenntnisse, und aktuell wird nicht selten das pädagogische Anliegen von einem virologischen Argument, einem Verbandsinteresse oder einem politischen Motiv überlagert. Bildungsgerechtigkeit ist damit nur selten das Leitmotiv. Die zweite Forderung lautet daher: Gründet einen Bildungsrat mit Pädagoginnen und Pädagogen aller Couleur, damit Kinder und Jugendliche Anwälte der Bildung bekommen.

Drittens: Präsenz vor Distanz. Bereits vor Corona gab es Distanzunterricht, so dass Forschungen hierzu seit Jahrzehnten vorliegen. Das Ergebnis ist eindeutig: Bei gleicher Qualität ist Präsenzunterricht nicht zu ersetzen. Die Maxime, Schulen, solange es geht, offen zu halten, ist aus pädagogischer Sicht über jeden Zweifel erhaben. Somit heißt die dritte Forderung: Investiert in alle wirksamen Hygienemaßnahmen an Schulen und bitte mit Wumms, damit Kinder und Jugendliche in die Schule gehen können.

Viertens: Pädagogik vor Technik. Aus der Bildungsforschung wissen wir, dass die digitale Technik allein keine Bildungsrevolutionen hervorrufen wird. Das soll die Notwendigkeit einer digitalen Ausstattung von Schule nicht infrage stellen, aber doch so weit relativieren, dass erst die Professionalität der Lehrpersonen diese zum Leben erwecken kann. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf die Medienerziehung zu lenken, denn immer deutlicher wird: Es mangelt vielerorts nicht mehr an Technik, sondern an der Kompetenz und Haltung, Technik sinnvoll zu nutzen – dies gilt insbesondere in bildungsfernen Milieus. Daher heißt die vierte Forderung: Digitalisiert die Schule so viel wie nötig und sorgt dafür, dass Kinder und Jugendliche digitale Medien mit einem erkennbaren Mehrwert erfahren und erleben können. Andernfalls kann Digitalisierung zu einem Treiber für Bildungsungerechtigkeiten werden.

Fünftens: Teamarbeit statt Einzelkämpfertum. Bildungserfolg ist nie die Sache des Einzelnen. Den Elternhäusern kommt eine zentrale Rolle zu. Wenn in der Krise ihre Kooperation auf Null gefahren wird, dann schadet man vor allem Kindern und Jugendlichen aus dem bildungsfernen Milieu – auf längere Sicht aber auch der ganzen Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es überall in Deutschland Schulen, die die Krise auch pädagogisch bestens bewältigen konnten. Was ist deren Geheimnis? Nicht die Technik. Nicht die Lage. Es ist ein Kollegium, das mit einer Vision geführt wird und als Team agiert. Und so lautet die letzte Forderung: Formuliert eine Bildungsagenda 2050, an der sich die Lehrerbildung künftig orientiert.

Trotz aller Kritik hat die Bildungspolitik im vergangenen Jahr eine Reihe ihrer Hausaufgaben gemacht. So gibt es Szenarien mit unterschiedlichen Hygieneplänen, zusätzliche Mittel für die Digitalisierung und Pläne für Schnelltests. So wichtig das ist: Schulen sind keine Krankenhäuser, sondern Bildungsorte. Ein pädagogischer Masterplan ist nach wie vor vonnöten. In dessen Zentrum muss die Frage der Bildungsgerechtigkeit gestellt werden. Denn, wie es John F. Kennedy formulierte: Nur eines ist auf Dauer teurer als Bildung: keine Bildung.

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