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Die Dystopie der digitalen Souveränität

»Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.« (Charles Baron de Montesquieu)

Pünktlich zu Beginn der Ausgangssperren in Deutschland veröffentlichte eco – Verband der Internetwirtschaft e. V. – die aktuellen Umfrageergebnisse zum Thema digitale Souveränität. Viele Unternehmen haben ihre Arbeitsmodi auf Homeoffice, mobiles oder zeitlich und örtlich flexibles Arbeiten umgestellt und verwenden für die Kommunikation fast nur noch elektronische Kanäle: E-Mail, Videokonferenzen, WhatsApp, Facebook und Messenger. »Dabei setzen die Unternehmen stark auf Dienste von Anbietern außerhalb Europas«, stellte eco fest und beauftragte das Marktforschungsinstitut Civey, 500 IT-Experten zum Thema zu befragen. Das Ergebnis: »Ein Großteil der IT-Experten in Deutschland bewertet diese Abhängigkeit als zu hoch.« Bei Endgeräten waren es 32,3 %, bei Bürosoftware 31,7, bei Netzwerk-Software 30,9 und bei verschiedenen Cloud-Diensten zwischen 20,4 und 26,6 %.

Als Grundvoraussetzung für mehr digitale Souveränität sahen die Experten beispielsweise eine bessere Verfügbarkeit von Rechenzentren und Cloud-Diensten – eine »sichere und verlässliche digitale Infrastruktur in Europa«. Aktuell würden lediglich 4 % aller weltweit verfügbaren Daten in der EU gehostet. In Deutschland liege es daran, dass »die Rahmenbedingungen für Infrastruktur-Betreiber im internationalen Vergleich schlecht und wenig wettbewerbsfreundlich seien, beispielsweise zu hohe Stromkosten für Rechenzentren und zu komplizierte und langwierige Genehmigungsverfahren«.

Die Forderungen nach mehr oder besseren nationalen und lokalen digitalen Produkten und Lösungen, einem besseren, schnelleren und regionalen Internet oder überhaupt einem ganz neuen Internet (weil das alte Internet vielleicht »kaputt« sei, wie es einst der Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo formulierte) existieren nicht erst seit gestern. Das Internet ist seiner technischen Infrastruktur gemäß dezentral und grenzüberschreitend: Der Datenfluss orientiert sich nicht an nationalstaatlichen Grenzen. Das Internet bzw. der Cyberspace unterliegt trotz seiner Verbreitung und Größe weder einer zentralen technischen noch einer einheitlichen staatlichen Kontrolle. Der Prozess der Globalisierung erfuhr durch das Internet zusätzliche Dynamik und hat zu einer weiteren »Entmächtigung des demokratischen Staates« geführt, die sich Jürgen Habermas zufolge in drei Aspekten manifestiert: dem Verlust staatlicher Kontrollfähigkeiten; den wachsenden Legitimationsdefiziten im Entscheidungsgang und der zunehmenden Unfähigkeit, legitimationswirksame Steuerungs- und Organisationsleistungen zu erbringen.

Die Ideen zur »Wiederermächtigung« reichen von Regulierungs- und Zertifizierungsvorhaben über eine technische Abschottung nationaler Netze vom globalen Internet, Gewährleistung der Rechtsdurchsetzung bis hin zur Förderung von Innovationen und bestimmter digitaler Produkte und Entwicklungen, um auf diesem Weg wenigstens Einfluss auf die Richtung der technischen Entwicklung nehmen zu können. Der Begriff »digitale Souveränität«, unter dem aktuell auf dem politischen Parkett Vorschläge ausgearbeitet werden, ist neu, gewiss, doch die Idee, die sich oftmals hinter diesem Begriff verbirgt, ist mindestens so alt wie das Internet selbst. Unter Bezeichnungen wie »Websperren«, »deutsche/europäische Infrastrukturen« oder »Marktortprinzip« versteckten sich in den vergangenen Jahren verschiedene Konzepte und Trends, die der Rechtsdurchsetzung dienen, aber auch einfach dabei helfen sollten, die Kontrolle des Staates und der Regierungen über das Internet und die digitalen Technologien zu erlangen. »So nachvollziehbar dieses gerade bei Themen wie Jugend-, Daten- oder Verbraucherschutz sein mag«, warnte der Vorstand der Internet Society German Chapter (ISOC.DE e.V.) Jan Mönikes bereits 2013, würden solche Forderungen oftmals nur eine »Balkanisierung« des Internets befördern. Die immer wieder aufkommenden Vorschläge zur »Re-Territorialisierung« des Internets – ob auf technischer oder rechtlicher Ebene – werden dabei durch zweierlei befördert: durch den »Gestaltungsanspruch nationalstaatlicher Politik und das Bedürfnis ihrer Bürger, dass (demokratische) Grundentscheidungen wenigstens in ihrem Lebensbereich auch tatsächlich und unbedingt Wirkung entfalten sollen«.

Wenn man das Web allerdings sich selbst überließe, würden sehr viele Dinge schiefgehen, konzedierte der Vater des World Wide Web, Tim Bernes-Lee – eine digitale Dystopie sei am Ende nicht ausgeschlossen. Um das Internet vor politischen Manipulationen, Fake News, Verstößen gegen die Privatsphäre und einer Reihe weiterer möglicher Bösartigkeiten zu schützen, veröffentlichte seine Web-Foundation im Jahr 2019 den »Contract for the Web«, der sich an Regierungen, Unternehmen und private Nutzer (Bürger) richtet. Der »Contract« definiert neun Prinzipien – drei für jede Zielgruppe – und wurde mit Vertretern von 80 Organisationen (Regierungen, Unternehmen und Zivilgesellschaft) entwickelt. Die drei Prinzipien, die für Regierungen und Staaten gelten, betreffen das Funktionieren des Internets, die Verfügbarkeit des gesamten Internets (aller Inhalte) und den Respekt vor den fundamentalen Rechten auf Datenschutz und Daten. Die Prinzipien der Firmen umfassen wiederum das Verfügbarmachen des Internets für alle, den Respekt vor der und den Schutz der Privatsphäre und persönlicher Daten sowie die Verpflichtung zur Entwicklung solcher Technologien, die »das Beste der Menschheit unterstützen und das Schlechteste bekämpfen«. Die Partizipation am »Contract« ist freiwillig; bei Nichteinhaltung der Prinzipien wird die Organisation bzw. das Unternehmen aus der Liste unterstützender Organisationen der Web-Foundation entfernt. Zu den Unterstützern des »Contract« gehören auch IT-Giganten wie Amazon, Facebook, Google oder Microsoft.

Auch wenn sich Ansätze zu Selbstverpflichtungen und freiwilligen ethischen Standards insbesondere in dem kommerziellen Teil des Internets großer Popularität erfreuen: Die Schwäche eines Rechtsstaates gegenüber dem Internet sei noch kein Garant für Freiheit, warnt Jan Mönikes, „[d]as bestehende Vakuum wird von anderen privaten oder autoritären (staatlichen) Mächten ausgefüllt, die die Möglichkeiten der Gestaltung des ›Cyberspace‹ in ihrem Interesse und eben auch gegen die Freiheit seiner Nutzer ausgestalten können«. Auch Regulierung solle nicht per se verpönt werden – allerdings nicht unbedingt allein mittels nationalem Recht und nationaler Gesetze: »Die Regulierung des Internets im globalen Maßstab [kann] nur unter Berücksichtigung der drei Dimensionen unter intelligenter Ausnutzung aller vier möglichen Handlungsfelder [Gesetze, Verträge, Ethikregeln, Markt/Preise] auf all diesen Ebenen gelingen«. Die drei Dimensionen sind dabei Inhalte, Strukturen und Konventionen der Datenkommunikation sowie die Technik der Datenkommunikation.

Doch auch wenn der Internetkritiker Evgeny Morozov »keineswegs gegen Regulierung« sei, wird sie seiner Meinung nach jetzt möglicherweise zu spät kommen oder nicht ausreichend sein. Sich auf »ein nettes, gemütliches Versteck« zu verlassen, das »in all den vielen Regulationsmöglichkeiten« die EU bietet, wird »uns nicht jene Siege bescheren, die die Sozialdemokratie im vergangenen Jahrhundert eingefahren hat«, kritisiert er. „[W]ir sollten die Idee eines europäischen Fonds für Investitionen in europäische Technologiefirmen nicht leichtfertig als zu drakonisch abtun«, sagte Morozov auf der Konferenz »Digitaler Kapitalismus« der Friedrich-Ebert-Stiftung im Oktober 2019 in Berlin und forderte die Förderung von Unternehmen oder Start-ups bestimmter Industriezweige: »Für ausgereifte institutionelle Innovationen müssen wir die Richtung bestimmen können, in die sich unsere digitale Infrastruktur entwickeln wird.« Und da sich diese Infrastruktur – im gleichen Atemzug werden auch Daten, Künstliche Intelligenz oder Robotik genannt – weitgehend in privater Hand befindet, führt für Morozov kein Weg an einer massiven strukturellen »Intervention – selbst wenn sie nach Korporatismus riechen mag«, vorbei. Sonst, so seine Warnung, würde man »die Kontrolle über die Situation völlig verlieren«.

Derzeit würde seiner Meinung nach nicht nur »das übergreifende Verständnis der Dynamiken der Digitalwirtschaft« fehlen. Vielmehr resümierte Morozov: »Wir haben den Überblick verloren.« Und meinte mit »wir« nicht die Regierungen oder die Staaten, auf die es gewiss auch zutrifft, sondern »jene von uns, die sich in intellektueller, spiritueller oder professioneller Weise mit der Sozialdemokratie oder dem Sozialismus verbunden fühlen«. Die Diskussion über die regulatorische Zukunft des Internets sei wichtig, schrieb Jan Mönikes. Das ist sie schon seit vielen Jahren, und wir sind scheinbar immer noch mittendrin, wenn man als Beispiel die Renaissance der Idee einer europäischen Cloud-Infrastruktur betrachtet. Das Nonplusultra gibt es nicht – und „[d]as Ergebnis (…) ist völlig offen«, so Mönikes.

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