NG|FH: Wie hat sich das Selbstverständnis von Museen im Internetzeitalter verändert? Ist die Funktion der Museen, kulturelles Erbe zu sammeln und auszustellen, heute noch wichtig? Es ist doch nicht veraltet, die Kulturen der Welt gemeinsam wissenschaftlich zu bearbeiten?
Hartmut Dorgerloh: Obwohl wir als Humboldt Forum uns selbst nicht als Museum verstehen, haben wir mit der Stiftung Stadtmuseum, den beiden Museen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, dem Ethnologischen Museum und dem Museum für Asiatische Kunst als Partner im Haus viel mit der Praxis von Museen zu tun. Ich glaube, wir können einen Beitrag dazu leisten, wie sich Museen zukünftig weiterentwickeln.
International entsteht gerade eine neue Definition von Museum. Hierbei ist es wichtig, dass man sich vergegenwärtigt, dass das Museum eine westliche Institution ist und auch Museen beispielsweise in Afrika oder Asien sehr häufig kolonialzeitliche Konstrukte waren. Sie waren ursprünglich Orte für Gegenstände, für berühmte Sammlungen, die man erforschen und ausstellen und vermitteln wollte. Heute geht die Entwicklung stark dahin, dass Museen zuerst Orte für Menschen und dann erst für Objekte sind. Und wir haben es hier mit einem ganz unterschiedlichen Publikum zu tun. Nicht nur die Besucher*innen, sondern auch die Nicht-Besucher*innen spielen heute eine wichtige Rolle. Es geht deshalb darum, dass wir in Museen wesentlich stärker partizipativ und prozessorientiert arbeiten. Die Frage des immateriellen Erbes spielt dabei eine immer größere Rolle. Wir wollen als Humboldt Forum in der Museumsarbeit einen wichtigen Beitrag dazu leisten und kurz gesagt zu einer Institution werden »formerly known as Museum«.
Wilhelm von Humboldt steht für die Kultur Europas, im Grunde für die benachbarte Museumsinsel. Alexander von Humboldt für die Erforschung der Kulturen der Welt. Gibt es mittlerweile eine permanente Ausstellung zu den Brüdern Humboldt im Forum?
Es gibt gleich im Eingangsbereich des Forums eine permanente Präsentation und Information, allerdings eine, die nicht rein biografisch arbeitet, sondern beide Brüder als Namensgeber einführt und fragt: Was ist von dem Humboldtschen Erbe für uns heute wichtig? Um konkreter zu werden: Wäre Alexander von Humboldt heute ein Vertreter der »Letzten Generation« und wie würde er sich zu Fragen des Klimawandels positionieren? Was würde Wilhelm als Philologe zur Genderdebatte in der deutschen Sprache sagen? Die Auseinandersetzung mit den Prinzipien des Denkens der beiden Humboldts ist für unsere Arbeit hier maßgebend: global, vernetzt, selbstkritisch und neugierig. Deshalb sind wir auch froh, dass wir ein Ort sind, der im Geiste der Humboldts arbeiten will und in dem Menschen zusammenkommen und sich sehr viele verschiedene Perspektiven treffen.
Das heutige Gebäude hat eine streitbare Vorgeschichte: Abriss des Palastes der Republik der DDR, die Rekonstruktion der barocken preußischen Schlossfassade, die umstrittene Kuppel. Ist die Geschichte des Hauses eher Bürde oder Chance?
Wir setzen uns immer wieder mit der Geschichte des Ortes auseinander, sie ist eines unser zentralen Themenfelder. Das ergibt sich aus der hybriden Struktur des Humboldt Forums. Das Haus ist ein Neubau: Wenn man an der Spree steht und auf die neue, moderne Fassade von Franco Stella blickt, denkt man nicht an das Berliner Schloss. Gemäß dem Beschluss des Bundestages sind drei der barocken Außenfassaden rekonstruiert worden, die Ostfassade konnte frei gestaltet werden.
Grundsätzlich stellt sich die Frage: Mit welcher Perspektive rede ich über diesen Ort? Ich kann sowohl über die Perspektive von Monarchie und Kolonialismus reden, aber auch über die Abdankung des Kaisers und die bürgerliche Revolution. Und hier stand der Palast der Republik, das zentrale Gebäude der DDR-Diktatur einerseits, und andererseits tagte dort 1990 die erste frei gewählte Volkskammer. Dieser Ort bildet eine sehr gute Ausgangslage, sich darüber zu verständigen, dass man mit Abreißen in der Regel Geschichte nicht erledigt. Weder der Abriss des Berliner Schlosses auf Beschluss der SED noch der Abriss des Palastes der Republik haben dazu geführt, dass beide Gebäude aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden sind. Deshalb ist es hier auch unsere Aufgabe, uns mit beiden Vorgängerbauten zu beschäftigen.
Gemeckert wird in Berlin bekanntlich immer gerne. Da wurde skandalisiert, dass es unter den Spendern für den Wiederaufbau auch einige Monarchisten und Rechte gab. Auch war die Ästhetik der Fassade von Stella nicht unumstritten. Da war sogar von Parallelen zum Kaufhaus der 80er Jahre oder gar zur Architektur des italienischen Faschismus die Rede.
Wir sind hier sehr stark in unserer Berliner und deutschen Diskussion verhaftet. Viele unserer internationalen Partner*innen bestätigen uns immer wieder, dass es spektakulär ist, was hier entstanden ist. Am meisten überrascht sie, dass wir hier in die Mitte unserer Hauptstadt ein solches Gebäude an diesem geschichtsträchtigen Ort hinstellen und dann nicht unsere eigene nationale Geschichte oder unsere eigene europäische Kultur dort zum Thema machen, sondern Kulturen aus Afrika, Asien, den Amerikas und Ozeanien ausstellen. Das ist ungewöhnlich.
Natürlich hat jede Architektur Fans und Kritiker*innen. Es war auch eine kaum zu erfüllende Aufgabe, die der internationale Architekturwettbewerb 2008 gestellt hatte, nämlich gleichzeitig zu rekonstruieren und etwas ganz Neues zu machen. Franco Stella, siegreich aus dem Wettbewerb hervorgegangen, hat nicht nur, was das Gebäude angeht, viele gute Voraussetzungen für unsere Arbeit geschaffen, wenn man sich beispielsweise die Ausstellungsräume und die Veranstaltungssäle anschaut. Er hat auch städtebaulich einen sehr starken Akzent gesetzt. Wir sind ein neues Stadtquartier, wir haben ein Volumen von 700 Einfamilienhäusern. Die Rekonstruktion der Fassaden wurde ja vor allem mit der städtebaulichen Wiederherstellung der ursprünglichen Situation begründet.
Kann sich das kritisierte Spannungsverhältnis zwischen dem Kreuz auf der Kuppel mit christlicher Inschrift und den präsentierten außereuropäischen Kulturen nicht sogar fruchtbar gestalten?
Gerade die Diskussion um Kuppel, Kreuz und die Kuppelinschrift hat gezeigt, dass man nicht unschuldig rekonstruieren kann. Wir haben hier die Wiederherstellung einer historischen Situation. Mit Blick auf die Geschichte ist beispielsweise die christliche Symbolik erklärbar. Man kann das nicht eins zu eins wiederherstellen, ohne sich den historischen Kontext zu vergegenwärtigen.
Man muss aber auch einsehen, dass das aus einer heutigen Perspektive von vielen Menschen anders gelesen und abgelehnt wird. Wir diskutieren heute kontrovers über den Umgang mit religiösen Symbolen, in einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft ist das auch nicht verwunderlich. Ich plädiere dafür, dass wir auch hier mehr internationale Vielstimmigkeit herstellen und uns selbst in eine Hörerposition bringen. Was sagen Menschen aus Südamerika oder aus Tansania, wo die Rolle der Kirchen eine ganz andere war, zu Inschrift und Kreuz?
Bénédicte Savoy, die gerade den deutschen Kulturpolitikpreis erhalten hat, kritisierte einst, Museen mit außereuropäischer Kunst im Herzen Europas seien begehbare Schaufenster kolonialer Aneignungspraktiken. Ein weiterer Kritiker, Götz Aly, meinte, das Publikum erfahre hier nichts über das Leid der ausgeraubten Völker, über die Gräueltaten der deutschen Kolonialisten. Stimmen diese Vorwürfe an das Humboldt Forum eigentlich noch – diese Zitate sind ja rund drei Jahre alt?
Die Beschäftigung mit dem Kolonialismus und seinen bis heute weltweit andauernden Auswirkungen ist eine zentrale Aufgabe des Forums, aber die Dekolonisierung der Gesellschaft kann nicht von Museen alleine geleistet werden. Allerdings haben gerade die Sammlungen in den ethnologischen Museen, aber nicht nur dort, eine ganz enge Verbindung zur europäischen Kolonialgeschichte im Hinblick auf koloniale Ausbeutung und Aneignung.
Das Humboldt Forum hat einen entscheidenden Beitrag dafür geleistet, zu erkennen, dass wir uns stärker mit unserer kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen müssen.
Die langjährigen Debatten rund um das Humboldt Forum haben einen entscheidenden Beitrag geleistet, dass in Deutschland erkannt worden ist, dass wir uns viel stärker als bisher mit unserer eigenen kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen müssen, und dass es in den ethnologischen Sammlungen auch um koloniales Unrecht geht und nicht nur um die Vielfalt von kulturellen Praktiken. Es hat mich sehr gefreut, dass Bénédicte Savoy inzwischen gewürdigt hat, dass wir hier uns auf den Weg gemacht haben und einiges in Angriff genommen und auch verändert haben, nicht nur in den Ausstellungen.
Ist das Pendel nicht sogar zur anderen Seite ausgeschlagen? Madame Savoy beschrieb kürzlich eine Informationstafel zu einem Kunstwerk, die erklärte, dass das Artefakt das letzte war, was aus einem niedergebrannten Dorf gerettet werden konnte, und fragte, ob dies möglicherweise nicht doch ein bisschen zu viel des Guten sei. Wie sollte man dieses Spannungsverhältnis zwischen der Erklärung des historischen Kontextes und dem ästhetischen Genuss des Künstlerischen austarieren?
Es ist für uns ganz wichtig, dass wir eine andere Form von internationaler Zusammenarbeit praktizieren. Aus Sicht vieler internationaler Partner*innen ist es wichtig, dass ihre Geschichte nicht auf die Kolonialzeit reduziert wird. Unsere Partner*innen in Tansania etwa, mit denen wir an einem Ausstellungsprojekt zusammenarbeiten, haben Interesse daran, dass auch ihre jahrhundertealte Geschichte vor dem Kolonialismus, aber auch die heutige Situation viel stärker in den Fokus gerückt wird. Und im Hinblick auf die Debatte um das Luf-Boot hören wir von Menschen in Ozeanien, dass es für sie viel wichtiger ist, was wir gegen den steigenden Meeresspiegel tun, als Fragen zur Restitution. Denn dieser bedroht heute ihre Existenzgrundlage, so wie damals die deutsche Kolonialherrschaft ihre Lebensgrundlagen in großen Teilen zerstört hat. Sie fragen: Was macht Ihr eigentlich heute im Westen, damit es uns hier im sogenannten Globalen Süden besser geht, damit es faire Verhältnisse auf der Welt gibt? Das ist die große Aufgabe, vor der wir stehen: den Kolonialismus zum einen ganz klar als ein zentrales Aufgabenfeld unserer Arbeit zu sehen, andererseits aber nicht wieder die Diskurse zu bestimmen, sondern eine Vielstimmigkeit herzustellen.
Im deutschen Diskurs gibt es ja auch Bedenken, der ausschließlich postkoloniale Blick könne den Holocaust relativieren. Geht es nicht überhaupt darum, Spannungsverhältnisse fruchtbar zu machen, Ethnien und Kulturen eben nicht zu trennen, sondern zusammen zu bringen?
Deshalb konzentrieren wir uns in unserer Programmarbeit und bei der Zusammenarbeit mit den verschiedenen Partner*innen im Haus stärker darauf, über Jahresthemen in Clustern zu arbeiten. Neben Ausstellungen machen wir sehr viele kulturelle Veranstaltungen, also Musik, Theater, Diskurse, Bildungs- und Vermittlungsthemen. Aktuell ist im Haus die Ausstellung zu sehen: »un_endlich. Leben mit dem Tod«. In allen Kulturen stellt sich die Frage: Was passiert mit uns nach dem Tod? Wie gehen andere Kulturen und ihre Religionen mit dieser Fragestellung um? Diese Fragen kommen hier in den Ausstellungen der Museen an vielen Stellen hoch: Ahnenkult, Begräbniskultur, Musik, die zu diesem Anlass komponiert wird etc. Was ist das Verbindende? Das sind Themen, mit denen wir verstärkt arbeiten wollen, um auch ganz aktuell der Frage nachzugehen: Wie kollidieren islamische oder jüdische Riten der Bestattung mit den derzeit geltenden deutschen Bestattungsregeln? Das wird schnell sehr aktuell und gegenwärtig. Das Humboldt Forum versteht sich als ein Ort, an dem man darüber reden kann.
Ist die Rückgabe der Benin-Bronzen wirklich ein vorbildhafter Prozess? Sollten die nicht in einem neuen Kunstmuseum in Benin-City ausgestellt werden, jetzt gibt der nigerianische Präsident die Bronzen an den »König« Oba von Benin zurück und sie verschwinden nun möglicherweise aus der Öffentlichkeit in private Räume. Das dürfte den Hohenzollern gefallen haben, die wollen ja auch so Einiges zurück haben….?
(lacht) Restitution geraubter Artefakte aus den ethnologischen Museen hat es vor den Benin-Bronzen schon gegeben, die das Thema in der Breite virulent gemacht haben. Ich finde es wichtig und richtig, dass die Stücke, die in einem kolonialen Kontext unrechtmäßig erworben wurden, ohne Vorbedingungen zurückgegeben werden müssen. Entscheidend ist dabei das Einvernehmen mit den Betroffenen, denn nicht wir können alleine und nach unseren Vorstellungen über Restitutionen entscheiden. In Australien, Neuseeland oder Kanada gibt es klare Regelungen für direkte Verhandlungen mit den Communities, zum Beispiel den Maori. In anderen Ländern redet man mit der Regierung.
Was in Nigeria mit den Benin-Bronzen passiert, ist eine Entscheidung, die in Nigeria getroffen werden muss.
Im Falle Nigerias ist eine Restitution an die Regierung erfolgt. Was dann aber in Nigeria damit passiert, ist eine Entscheidung, die in Nigeria getroffen werden muss. Um das zu veranschaulichen: Wenn ich ein Auto gestohlen habe, dann ist die Rückgabe nicht davon abhängig, ob der andere eine Fahrerlaubnis hat oder ob er es weiter verschenkt oder ob er eine Garage hat. Das ist eine Entscheidung, die derjenige treffen muss, von dem es unrechtmäßig genommen wurde. Man kann neue Gemeinsamkeiten entwickeln, indem man Restitutionen als Ausgangspunkt für ein neues Verhältnis sieht. Unsere Partner*innen, insbesondere in Subsahara-Afrika, wollen nicht, dass ihre Geschichte und Kultur in europäischen Museen nicht mehr präsent sind. Deshalb werden hier weiterhin Benin-Bronzen ausgestellt sein, allerdings als Leihgabe aus Nigeria. Die Art und Weise der Präsentation werden unsere Partner*innen stark mitbestimmen.
Manche sehen die Gefahr, dass alle Dämme brechen. Als alter Westberliner kann man sich Berlin ohne Nofretete nur schwer vorstellen…
Sicherlich hat sich verändert, dass wir im Westen nicht mehr einfach behaupten können, dass es unsere Aufgabe ist, Universalmuseen zu betreiben und hier die Schätze der Weltkulturen auszustellen. Wenn man sich die Visapolitik in der EU und die globale ökonomische Situation anguckt, wird es vielen Menschen aus den Herkunftsgesellschaften nicht möglich sein, nach London, Paris oder Berlin zu kommen. Auf der anderen Seite kommt aus Gesprächen mit Partner*innen aus anderen Teilen der Welt heraus, dass das eine typisch westliche Debatte ist, in der es immer um die Frage des Eigentums oder des Besitzes geht. Können wir uns eine Welt vorstellen, in der die materielle Frage nicht die entscheidende ist? Wir sind gerade in den Museen sehr stark auf materielle kultu-relle Überlieferung fixiert, aber kulturelle Identität hängt genauso von kulturellen Praktiken wie Musik, Tanz, Essen und vielen anderen Dingen ab.
Auf der Internetseite des Forums nennen Sie das kritische Kompliz*innenschaft?
Wir wollen einen Ort der internationalen Vielstimmigkeit werden. Das ist übrigens auch, was das Publikum sehr schätzt, zum Beispiel Formate wie Objects Talk Back: Wir haben Schriftsteller*innen eingeladen, sich zu bestimmten Objekten hier im Haus zu positionieren, die sie selber aussuchen und einen literarischen Kommentar zu diesen Objekten zu verfassen. Das ist beim Publikum auf großes Interesse gestoßen, weil viele mit jemandem darüber reden wollen, was die Objekte für sie bedeuten.
Muss in einer Metropole wie Berlin nicht auch die soziale Frage in einer solch zentralen kulturellen Institution eine Rolle spielen?
Eines unserer erfolgreichsten Projekte im letzten Winter war die Wärmestube mit den Johannitern. Wir stellten uns die Frage: Wo kann man in der Stadt warme Räume schaffen für Menschen, die es zu Hause nicht warm haben, sowohl sozial als auch von den Temperaturen her? Wir sind auch ein Ort für Leute, die nur einen warmen Platz brauchen. Da gibt es von den Johannitern kostenlosen Kaffee, ein paar Zeitungen und Brettspiele. Das gehört auch zur Frage der diversen Stadtgesellschaft. Manche dieser Menschen sagen, dass sie nie gedacht hätten, dass sie mal in dieses Schloss oder ins Forum gehen würden, weil das doch nur ein Ort für die Reichen, für Touristen und Kulturleute sei. Das fand ich ein sehr ermutigendes Zeichen. Wir müssen sehen, wie wir da weiterarbeiten mit Blick auf die diverse Stadtgesellschaft. Wir müssen nicht nur die verschiedenen Sprachen, Herkünfte und Migrationsfragen hier im Haus bedenken, sondern dürfen auch die soziale Frage nicht aus dem Blick verlieren.
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