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© Gerngross Glowinski Fotografen

Herausforderungen einer künftigen neuen Weltordnung »Die EU muss ihre Hausaufgaben erledigen«

Der Politikwissenschaftler Thomas Risse lehrt und forscht an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit internationalen Beziehungen, Außen- und Sicherheitspolitik. Im Gespräch mit Thomas Meyer erläutert er, wie sich aus seiner Sicht die künftige Weltordnung entwickeln wird, welche Hauptakteure er sieht und welche Rolle die Europäische Union darin spielen wird.

NG|FH: Die liberale Weltordnung unter der Führung der USA löst sich langsam auf, hat sich vielleicht schon aufgelöst. Was kommt danach?

Thomas Risse: Ich würde diese Prämisse zunächst einmal hinterfragen, sie scheint mir etwas zu harsch. Ich würde es eher so formulieren: Die liberale Weltordnung steht zugleich zwei großen Herausforderungen gegenüber. Zum einen wird sie vom eigenen Kern herausgefordert. Das reicht von Donald Trump bis nach Europa, vom Anwachsen insbesondere rechtspopulistischer Strömungen bis in die Regierungen, also etwa von der AfD in Deutschland bis nach Italien, Polen, Ungarn usw. Die zweite besteht in dem Heranwachsen aufstrebender Weltmächte wie Russland und China, oder einer Reihe anderer Länder wie der Türkei, die die Kerne dieser liberalen Weltordnung infrage stellen.

Zwischen diesen internen und externen Herausforderungen bestehen durchaus Querverbindungen, auch transnationale. Bekannt ist etwa, dass Russland eine ganze Reihe an rechtspopulistischen Strömungen unterstützt, insbesondere in Europa.

NG|FH: Zeichnet sich denn eine neue Ordnung ab oder befinden wir uns jetzt in einer unübersichtlichen Übergangsphase, in der noch nicht absehbar ist, wie die nahe Zukunft aussehen könnte?

Risse: Aus meiner Sicht befinden wir uns in einer ziemlich unübersichtlichen Übergangsphase, weil es erstens unklar ist, ob und wie die westlichen Länder mit den internen Herausforderungen auf Dauer fertig werden und weil es zweitens noch weniger klar ist, wie sich die aufstrebenden Weltmächte – und hier beziehe ich mich insbesondere auf China – in Zukunft verhalten werden. China akzeptiert durchaus Teile der liberalen Weltordnung, zum Beispiel die Welthandelsordnung. Es gibt da zwar ein paar Probleme, etwa bezüglich der Investitionsmöglichkeiten in China oder der Frage nach dem Schutz geistigen Eigentums, aber im Großen und Ganzen hat China die liberale Welthandelsordnung als offene Ordnung akzeptiert. Das unterscheidet China zurzeit von den USA.

Auch bei einer ganzen Reihe von Themen der Global Governance wie dem Klimaschutz hat China akzeptiert, dass etwas getan werden muss. China hat sich ja, wie übrigens auch Indien, im Hinblick auf das Pariser Klimaschutzabkommen fast schon in die erste Reihe derjenigen Staaten gestellt, die bereit sind, tatsächlich etwas gegen die zunehmende Klimaerwärmung zu tun.

Auf der anderen Seite ist auch völlig klar, dass China den politischen Kern der liberalen Weltordnung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie usw., ablehnt. China verhält sich also widersprüchlich.

NG|FH: Müssen wir uns längerfristig auf eine andere Rolle der USA in der Weltpolitik einstellen? Auch über die Regierungszeit von Trump hinaus? Und welche neue Rolle übernimmt dann die Europäische Union?

Risse: In der Tat müssen wir uns darauf einstellen, dass die USA die Führerschaft in der liberalen Weltordnung auf längere Zeit aufgeben werden. Und das auch in dem, aus meiner Sicht optimistischen Szenario, dass Donald Trump als Präsident nicht wiedergewählt werden wird. Die USA sind im Inneren so gespalten, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass ein neuer, vielleicht demokratischer Präsident viel Zeit für Weltordnungsfragen haben wird. Die US-Amerikaner werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren mit sich selbst beschäftigt sein, um diese extreme Spaltung des Landes zu überwinden, wenn das überhaupt gelingt.

Europa wird sich also, wenn es um Weltordnungsfragen geht, nicht mehr hinter den USA verstecken können. Schaffen wir das aber auch? Wir könnten es, wenn wir es wollten, aber wollen wir es auch? Hinsichtlich der Welthandelsfragen schließt Europa derzeit insbesondere mit den asiatischen Ländern neue Abkommen, China und Europa haben sich inzwischen schon offensichtlich auf eine Reform der Welthandelsordnung geeinigt. In diesem Bereich ist Europa sehr handlungsfähig. Bei anderen großen außenpolitischen Fragen ist das noch unklar. Und da kommt man natürlich sofort wieder zu der Frage, inwieweit Europa in der Lage sein wird, mit den internen Herausforderungen umzugehen. Wie geht es z. B. weiter mit dem Brexit? Das Verfahren kann sich noch sehr lange hinziehen, auch über den März 2019 hinaus. Wie geht es weiter mit den rechtspopulistischen Regierungen in Europa? Schafft es die proeuropäische Mehrheit, die Bevölkerung zu mobilisieren oder lässt man sich weiter von den Rechtspopulisten vor sich hertreiben? Das sind alles offene Fragen.

NG|FH: Nun gibt es verschiedene Vorschläge, um die Handlungsfähigkeit der EU zu sichern, zuletzt u. a. das »Saturnmodell« des Dortmunder Professors Henrik Müller, mit einem Kerneuropa und verschiedenen Ringen drum herum, wo diejenigen Länder angesiedelt sind, die nicht so eng mitwirken wollen oder können. Der Kern darin ist zur weiteren Integration auch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik bereit und auch als Transferunion handlungsfähig. Der mittlere Ring bleibt beim Status quo und der äußere Ring umfasst diejenigen, die im Wesentlichen nur den Markt wollen und ansonsten möglichst wenig Kooperation. Ist dieses Modell als Handlungsperspektive realistisch? Wenn nicht, wie könnte man die Handlungsfähigkeit Europas in seiner jetzigen Form verbessern?

Risse: Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten haben wir ja bereits in vielen Punkten. Wir haben einerseits die Eurozone und andererseits die Länder, die nicht im Euro sind. In vielen anderen Bereichen gibt es Ausnahmeregelungen, sogenannte Opt-outs. Großbritannien hatte mit Abstand die meisten Opt-outs, aber auch etwa Schweden und Dänemark haben welche. Es ist also überhaupt nicht so, dass der gesamte Acquis communautaire für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich ist.

Neben der Frage nach den unterschiedlichen Geschwindigkeiten ist aber auch die Frage zu beantworten, ob einzelne europäische Kernstaaten die Führung hinsichtlich der weltpolitischen Verantwortung übernehmen wollen. Es scheint so, als ob Frankreich unter Emmanuel Macron dazu bereit ist. Alle anderen – und dazu gehört auch die Bundesrepublik – sind eher zurückhaltend. Ob Deutschland künftig dazu bereit sein wird, ist unklar. Das wird sich erst dann herausstellen, wenn die Nachfolge von Angela Merkel als Bundeskanzlerin geklärt ist.

Und dann geht es um die Frage, wer in Europa auch noch mitmachen könnte. Hier geht es ja vor allem um die Außen- und Sicherheitspolitik. Spanien macht vielleicht mit. Und welches osteuropäisches Land? Hierbei geht es aus meiner Sicht gar nicht so sehr um unterschiedliche Geschwindigkeiten, sondern darum, dass es einen Kern von Ländern in Europa gibt, die sich einigermaßen einig sind, was sie in der Welt wollen und die dann die anderen mitziehen. Wie man das nennt, ist dann egal. Die Verträge lassen das auch zu. Bei der PESCO, der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit im Bereich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, hat sich z. B. gezeigt, dass das am Anfang nur etwa zwölf Staaten gemeinsam machen wollten, sich aber ganz schnell fast alle anderen angeschlossen haben.

NG|FH: Was müsste in dieser Richtung als Nächstes getan werden?

Risse: Es liegen ja verschiedene Vorschläge auf dem Tisch. Aus meiner Sicht müsste man in einem nächsten Schritt schauen, wie man die liberale Welthandelsordnung – und ich sage jetzt mal ohne Trump und die USA – reformieren und retten kann. Man muss sie reformieren, sie ist reformbedürftig. Die lange Doha-Runde, an die sich schon keiner mehr erinnern kann, hat das versucht, ist aber gescheitert. Jetzt braucht es auch mal eines Anstoßes von bestimmten Führungsmächten, und in diesem Bereich ist die EU sehr handlungsfähig.

Die EU muss dann aber auch ihre Hausaufgaben nach innen erledigen, aus meiner Sicht die zentrale Herausforderung in den nächsten Jahrzehnten, neben dem Klimaschutz. Dabei geht es nicht mehr nur um den Schutz des Klimas, sondern auch um eine Anpassung an die zu erwartenden klimatischen Veränderungen. Wir machen in dieser Richtung noch viel zu wenig. Europa ist prinzipiell gut aufgestellt, aber die eigenen Hausaufgaben sind bisher noch nicht gemacht worden.

NG|FH: Was wären denn in Deutschland notwendige Schritte, um mehr Entschlossenheit zu zeigen?

Risse: Nun ja, wir halten die CO2-Ziele auch nicht ein und fahren dann lieber die Ziele runter, als uns darauf einzustellen, dass wir mit extremen Klimaereignissen in den nächsten Jahrzehnten werden leben müssen. Wir leisten uns stattdessen eine absurde Diskussion über Dieselfahrzeuge und Fahrverbote in Städten.

NG|FH: Welche Akteure und Kräfte könnten einen solchen Durchbruch schaffen?

Risse: Ich will mich jetzt nicht parteipolitisch äußern. Ich glaube, dass es in der politischen Klasse eine Mehrheit dafür gibt, die allerdings quer durch alle Parteien geht, was vielleicht das Hauptproblem ist. Wir haben in der CDU eine große Gruppe, die dieses Thema für sehr wichtig hält; bei den Grünen ohnehin; ich glaube sogar, dass man die FDP dazu bekäme; auch Teile der SPD. Die SPD ist aber an diesem Punkt gespalten, wie in anderen Fragen auch. Wenn man aber alles zusammennimmt, kriegt man durchaus über alle Parteien hinweg eine Mehrheit zusammen.

NG|FH: Das ist aber bei der Parteienkonkurrenz schwierig …

Risse: … ja, aber wie wollen Sie es denn sonst machen?

NG|FH: Wie sehen Sie die Spaltung in der SPD, welche Kräfte stehen dahinter? Sind das die Gewerkschaften? Sind das einzelne Personen? Stehen da Idealisten gegen Realisten oder die Machtträger gegen die Basis? Wie würden Sie das einschätzen?

Risse: Wir sehen eine Neuaufstellung des politischen Systems und der Parteien anhand einer neuen oder neu-alten Konfliktlinie. Bisher waren die Parteien in Deutschland, aber auch in vielen anderen europäischen Ländern und in den USA vor allem nach dem Links-Rechts-Schema aufgereiht. Das ist die sozioökonomische Konfliktlinie. Dazu quer liegt eine kulturelle Konfliktlinie, die in den 50er und 60er Jahren religiös konnotiert war, in Europa der Protestantismus auf der einen Seite, der Katholizismus auf der anderen. Das ist lange vorbei. Heute verläuft die Konfliktlinie zwischen kosmopolitisch Orientierten, global Denkenden, liberalen Weltordnungsfördernden einerseits und eher nationalistisch Orientierten andererseits. Und diese Konfliktlinie spaltet unsere ehemaligen Volksparteien. Den Begriff Volkspartei kann man ja eigentlich nicht mehr verwenden, wenn man bei 25 bzw. 15 % in den Umfragen oder bei Wahlen liegt. Darunter hat auch die CDU zu leiden, aber aus verschiedenen Gründen ist die SPD an diesem Punkt wahrscheinlich noch stärker gespalten. Und das führt zum Teil zu einer Handlungsunfähigkeit. Die alte Arbeiterschaft ist teilweise zur AfD übergelaufen. Vorher hatte die SPD wahrscheinlich schon einen Teil an Die Linke verloren. Diese ist übrigens an derselben Konfliktlinie gespalten: Sahra Wagenknecht und ihre neue Bewegung auf der eher nationalistischen Seite, während der Rest der Partei Die Linke eher nach wie vor internationalistisch eingestellt ist.

NG|FH: Langfristig zeichnet es sich doch ab, dass vier oder fünf große Mächte das Geschehen dominieren werden. Die USA natürlich, eventuell die EU, wenn sie handlungsfähig wird, China, Russland und eventuell noch Indien. Wie wird sich die Welt unter diesen Bedingungen ordnen?

Risse: Ich würde gerne etwas voranstellen. Bei Russland bin ich mir nicht sicher, ob das Land tatsächlich eine aufstrebende Macht ist und in der Zukunft eine große weltpolitische Rolle spielen wird. Im Moment tun sie das eher als eine Art »Störenfried« denn als ein Land, von dem konstruktive Beiträge ausgehen, im Unterschied zu China. Wenn man sich jetzt eine Weltordnung denkt mit Indien, China, den USA und hoffentlich der EU als Hauptakteuren, dann wird diese anders aussehen als die bisherige. Dann werden zum Beispiel Entwicklungs- und Gerechtigkeitsfragen eine sehr viel größere Rolle spielen. Gegen das autoritäre System Chinas kann man eine Menge vorbringen, aber ein großes Argument ist auf seiner Seite, nämlich dass es gelungen ist, fast 800 Millionen Menschen aus der Armut herauszuholen. Das ist auch ein Zivilisationsfortschritt, den man anerkennen muss. Gleichzeitig wird China nach innen zurzeit immer repressiver und versucht auch international, den Menschenrechtsschutz auszuhöhlen. Wie sich die USA auf lange Sicht positionieren werden, ist unklar. Ich kann nur hoffen, dass sie ihre interne Spaltung überwinden, denn eigentlich ist das ein sehr innovatives Land, ein Land, das vorangeht, auch immer optimistisch ist. Und in diesem Zusammenspiel verschiedener Kräfte hat Europa nach meiner Ansicht einiges beizutragen.

NG|FH: Wird die aktuelle Renationalisierungswelle nach Ihrer Einschätzung von längerer Dauer sein und die Chancen für Multilateralismus wesentlich verkleinern oder sind das eher vorübergehende Entwicklungen?

Risse: Es gibt beide Tendenzen. Aus meiner Sicht hängt sehr viel von den Eliten, aber auch von den jeweiligen Gesellschaften ab, für die eine liberale, auf einem prinzipiellen Multilateralismus gebaute Weltordnung ein Projekt ist. Die Befürworter dieser liberalen Weltordnung müssen jetzt mal herauskommen und sie zu verteidigen versuchen. Man kann sich da nicht mehr verstecken, schon gar nicht hinter den USA. Wenn man sich die Daten anguckt, ist dieses Potenzial auch mobilisierbar. Macron hat es mit seiner Wahl in Frankreich gezeigt, in Deutschland gibt es auch Anzeichen dafür.

Im Oktober letzten Jahres gab es in Berlin eine Großdemonstration gegen Rassismus und Ausgrenzung mit rund 240.000 Teilnehmenden, die größte Veranstaltung dieser Art seit der Demonstration gegen den Irakkrieg in Berlin 2003. Die CDU hat gerade mit Annegret Kramp-Karrenbauer eine Frau gewählt, die eindeutig für den proeuropäischen und weltpolitisch offenen Kurs ihrer Vorgängerin steht. In Großbritannien hat es bezüglich des Brexit eine Demonstration mit 700.000 Menschen für Europa und die EU gegeben. Wenn man überlegt, dass jede Person, die auf die Straße geht, für mindestens 10–15 weitere steht, dann ist das ein Potenzial, mit dem man rechnen und das man auch mobilisieren kann.

Denn auf der rechtspopulistischen und nationalistischen Seite haben sich über die Jahrzehnte die Anhängerzahlen gar nicht wesentlich geändert. In den meisten westlichen Staaten sind schon seit Langem 20–30 % der Menschen der Meinung, dass diese Internationalisierung z. B. durch die EU Mist ist. Bisher hatte die nur keiner mobilisiert. Jetzt werden sie mobilisiert. Darin besteht bisher der Unterschied zur »schweigenden« Mehrheit der Anhänger einer offenen und liberalen Weltordnung.

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