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Die Europäische Säule sozialer Rechte – ein Wendepunkt unserer Sozialpolitik?

Im November 2017 verkündeten das Europaparlament, der Rat und die Europäische Kommission feierlich die »Europäische Säule sozialer Rechte«: 20 Grundsätze für Chancengleichheit und Zugang zum Arbeitsmarkt, für faire Arbeitsbedingungen, soziale Sicherung und Inklusion. Einige dieser Prinzipien sind altbekannt, sie wurden schon im Rahmen früherer Ansätze zur Koordinierung der Politik der Mitgliedstaaten zum Ausdruck gebracht. Andere sind auf europäischer Ebene relativ neu, beispielsweise das Ziel, angemessene Mindestlöhne einzuführen. Die Mitteilung über die Europäische Säule sozialer Rechte war ambitioniert, denn es sollte um nichts weniger gehen als darum, »neue und effektivere Bürgerrechte« zu formulieren. Die Einführung dieser Neuerungen war kein isolierter Vorgang, sondern vielmehr Teil einer umfassenderen Änderung der EU-Politik. Bereits im Jahr 2013 wies die Kommission mit dem Sozialinvestitionspaket auf die Notwendigkeit hin, die EU-Agenda über die bekannte Wettbewerbs- und Fiskalpolitik hinaus auszudehnen. Relativ unbemerkt gewannen soziale Fragen zunehmend an Bedeutung für das »Europäische Semester« (einem Verfahren zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik). Offizielle Reflexionspapiere und Pläne über die Zukunft der Währungsunion hoben die Notwendigkeit einer sozialen Dimension für die Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (EWWU) hervor. Die Kommission ging die komplexe Problematik der Entsendung von Mitarbeiter/innen in die Arbeitsmärkte anderer Staaten an und gab die Schaffung einer Europäischen Arbeitsbehörde bekannt. So gesehen ist die Europäische Säule sozialer Rechte nur ein Beispiel unter mehreren für die schrittweise, aber entschlossene Abkehr von der europäischen Austeritätspolitik.

Die feierliche Bekanntgabe der Europäischen Säule sozialer Rechte markiert aber auch einen Point of no Return mit langfristigen Konsequenzen – positiven wie negativen. Positiv kann vermerkt werden, dass die Säule zu einer fortdauernden politischen Agenda werden könnte, welche über die Amtszeit der Kommission Juncker hinausreicht. Es besteht aber die Gefahr, dass es, falls die EU es nicht schaffen sollte, ihre Versprechen einzulösen, zu einem Rückschlag kommen könnte, der für lange Zeit neue Anläufe, der EU eine umfassende soziale Dimension hinzuzufügen, blockieren würde. Es stellt sich also die Frage, wie das Potenzial der Säule maximiert werden kann. Um die gewünschten Vorlagen einhalten zu können, sollte die EU all ihre Instrumente voll ausschöpfen: bindende EU-Vorschriften für einige Aspekte der Säule, politische Koordination und Benchmarking für andere sowie EU-Haushaltsmittel. Die Prinzipien der Säule müssen eine spürbare Rolle im Europäischen Semester und bei der Überwachung der Fiskal- und Wirtschaftspolitik spielen. Prioritäten sollten hier sorgsam gesetzt werden: besser eine kurze Liste mit vollständig umgesetzten Erneuerungen als ein langer Wunschzettel, der nur halbherzig erfüllt wird. Außerdem kann die Einführung der Europäischen Säule sozialer Rechte nicht getrennt von der Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion erfolgen.

Ein sozialpolitisches Gebot

Als die Europäische Säule sozialer Rechte bekanntgegeben wurde, erklärte die Europäische Kommission ausdrücklich, dass diese »in erster Linie für den Euroraum konzipiert ist, aber auch auf alle EU-Mitglieder angewandt werden kann, die teilnehmen wollen«. Dieser Fokus auf die Eurozone ist kein Zufall. Im Denken der EU-Kommission bezüglich der Vervollständigung der EWWU hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass fast alle Währungsunionen auch »Versicherungsunionen« sind. Sie zentralisieren nicht nur das Risikomanagement im Hinblick auf Banken, sondern ebenfalls die Arbeitslosenversicherung. Die EWWU stellt hier momentan noch eine Ausnahme dar. Aber schrittweise werden dort neue, auf gegenseitiger Absicherung beruhende Ansätze entwickelt. Offensichtlich wird dies bereits in der Entwicklung hin zur Bankenunion. Im nächsten Schritt, so argumentiert die Kommission, braucht die EWWU fiskalische Stabilisatoren. Eine Option wäre die Schaffung einer europäischen Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen. Eine weitere Möglichkeit, und diese scheint im Moment von der Kommission bevorzugt zu werden, wäre ein Plan zur Unterstützung der Investitionskapazität derjenigen Mitgliedstaaten, die infolge einer Krise mit geringeren Haushaltseinnahmen und erhöhten Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung zu kämpfen haben. Beide Ideen teilen die Einsicht, dass es wichtig ist, dass die automatischen Stabilisatoren der Mitgliedstaaten in Krisenzeiten zum Tragen kommen können und den Mitgliedstaaten gleichzeitig weiterhin Spielräume für öffentliche Investitionen zur Verfügung stehen. Der deutsch-französische Fahrplan für das Euro-Währungsgebiet, auf den sich Angela Merkel und Emmanuel Macron im Juni 2018 geeinigt haben, enthält eine abgemilderte Version dieser Ideen: Ein Europäischer Fonds zur Stabilisierung nationaler Arbeitslosenversicherungen würde im Falle einer Wirtschaftskrise mit signifikanten Arbeitsplatzverlusten dem Sozialversicherungssystem des betroffenen Landes Geld auf Leihbasis zur Verfügung stellen.

Der Eingriff über die Arbeitslosenversicherung in solch einem Szenario ist nicht zufällig gewählt: Die Arbeitslosenversicherung unterstützt die Kaufkraft der Bürger/innen in einer Wirtschaftskrise und ist somit ein Stabilitätsmechanismus par excellence. Die bestehenden Währungsunionen wählen entweder eine absolut zentralisierte Arbeitslosenversicherung (wie beispielsweise Kanada oder Deutschland) oder sie setzen auf eine gewisse Konvergenz in der Gestaltung der Arbeitslosenversicherung und stellen im Falle eines gravierenden Mittelbedarfs eine Art zentralisierter Rückversicherung zur Verfügung (so beispielsweise in den USA, wo eine zentralisierte mit einer dezentralisierten Arbeitslosenversicherung kombiniert wird). Gut funktionierende nationale Sicherungssysteme haben außerdem einen positiven externen Effekt. Ein gut abgesichertes Land hilft gleichzeitig auch den Nachbarländern. Folglich umfassen die Überlegungen zur Stabilitätssicherung in der Eurozone eine Reihe von Grundsätzen für eine effektive Stabilisierung in allen Mitgliedstaaten: ausreichende Arbeitslosenunterstützung; ausreichende Erfassungsquoten der Arbeitslosenversicherungen; keine Arbeitsmarktsegmentierung, die zu schlechter Absicherung bestimmter Berufsgruppen führt; keine Ausweitung von Arbeitsverhältnissen, die außerhalb des Sozialversicherungssystems liegen; effektive Arbeitsanreize für Arbeitslose und Bildung von Rücklagen in guten Zeiten, damit die automatischen Stabilisatoren in schlechten Zeiten auch richtig greifen können. Diese Prinzipien wären als Quidproquo erst recht wichtig, wenn die Eurozone eine Rückversicherung für die nationalen Arbeitslosenversicherungen einführen würde. Ich behaupte sogar, dass diese allgemeinen Prinzipien in jedem denkbaren, durch einen erheblichen Anstieg der Arbeitslosigkeit ausgelösten System der Risikoteilung in der Eurozone vorkommen würden (z. B. öffentliche Investitionsgarantien, als Überlegung von der EU-Kommission eingebracht, oder der französisch-deutsche Vorschlag). Aber auch ohne ein System der Risikoteilung auf europäischer Ebene würde die Umsetzung gemeinsamer Stabilitätsgrundsätze in den einzelnen Staaten die Eurozone als Ganzes stärken.

In politischer Hinsicht würde die Beschränkung der Europäischen Säule sozialer Rechte auf die Eurozone von einer Reihe von Mitgliedstaaten und dem Parlament nicht besonders wohlwollend gesehen werden. Die enge Verbindung zwischen der Säule und der Vollendung der Währungsunion führt aber unweigerlich auf Prioritätsfelder, in denen gehandelt werden muss. Eines dieser Prioritätsfelder ist beispielsweise der Zugang zu angemessenem Sozialschutz für alle Arbeiter/innen. Der Zugang zu Sozialschutz (vor allem, aber nicht nur angemessene Arbeitslosenversicherung) ist ein Grundpfeiler stabilitätsorientierter Arbeitsmärkte. Die Relevanz dieser Thematik ist sicherlich nicht nur auf die Eurozone beschränkt: Zugang zu Sozialschutz für alle Arbeitnehmer/innen ist ein Grundsatz, der alle anspricht, mobile und nicht mobile EU-Bürger/innen, und so zeigen würde, dass sich die EU tatsächlich auch um alle Arbeitnehmer/innen kümmert. Daher war es richtig, dass die Kommission parallel zur Europäischen Säule sozialer Rechte auch die Initiative »Zugang zu Sozialschutz« angestoßen hat. Leider wurde diese zunächst als eine verbindliche Gesetzesinitiative angekündigt, danach aber in eine bloße Empfehlung abgeschwächt; nun besteht die Herausforderung darin, der Empfehlung innerhalb der Mitgliedstaaten Biss zu verleihen. Aus ähnlichen Gründen ist die Kommissionsinitiative für eine Europäische Arbeitsbehörde ebenfalls sehr relevant: »Faire Mobilität« ist entscheidend für die Währungsunion, aber auch für den Binnenmarkt insgesamt; die »faire Mobilität« muss in gut regulierte Arbeitsmärkte integriert werden, sowohl im Interesse der mobilen als auch der nicht mobilen EU-Bürger/innen. Ähnlich befasst sich die von der Kommission vorgeschlagene Verbesserung der »Richtlinie über schriftliche Erklärungen« mit dem Kampf gegen die wachsende Ungleichheit im Arbeitnehmerschutz in einigen EU-Ländern.

Wir brauchen klare Begriffe in der Debatte

Bis hierher habe ich den Zusammenhang zwischen der Kommissionsarbeit zur Vollendung der EWWU und ihrer Arbeit an der Europäischen Säule sozialer Rechte dargestellt. Leider fehlt es in der öffentlichen Debatte über die soziale Rolle der EU an klarem, analytischem Denken. Als die Säule vom Rat der EU feierlich verabschiedet wurde, erklärten die Minister einiger Mitgliedstaaten, dass die Umsetzung reine Ländersache sei, während andere nach starken Initiativen auf EU-Ebene verlangten. Die Konfusion, mit der die Debatte um ein »soziales Europa« geführt wird, ist nicht neu und kommt auch nicht von ungefähr. Auch wenn der Begriff »soziales Europa« in den Debatten über die EU omnipräsent ist, ist er doch ungenau definiert und sogar mehrdeutig. Für einige bedeutet er Schutz der nationalen Sozialpolitik vor den liberalisierenden Folgen einer weiteren Europäisierung. Für andere bedeutet er mehr supranationale Initiativen auf EU-Ebene.

Um für die Debatte über die soziale Dimension eine klare begriffliche Basis zu schaffen, bevorzuge ich gegenüber dem schwer fassbaren Begriff »soziales Europa« den Begriff einer »Europäischen Sozialunion«. Dabei handelt es sich nicht um einen europäischen Wohlfahrtsstaat, vielmehr um eine Union aus nationalen Wohlfahrtsstaaten mit jeweils unterschiedlichen Traditionen und Institutionen. Eine solche Union benötigt stärkere Solidarität zwischen den einzelnen Wohlfahrtsstaaten. Aber ihr Hauptzweck sollte meiner Meinung nach nicht darin bestehen, eine Umverteilung zwischen individuellen EU-Bürger/innen über Landesgrenzen hinweg zu organisieren. Der von der EU jetzt zu entwickelnde Solidaritätsmechanismus sollte auf Länderebene greifen und müsste weniger in Richtung Umverteilung gehen als vielmehr der Logik einer Versicherung folgen und ein Unterstützungssystem für soziale Investitionsstrategien beinhalten (auf letzteres kann ich aufgrund des knappen Platzangebotes hier leider nicht genauer eingehen).

Solidarität zwischen den Staaten setzt einen gewissen Grad an Konvergenz voraus, was aber nicht Angleichung bedeutet. Generell sollte sich die Praxis der Sozialunion deutlich von einem Top-down-/One-size-fits-all-Ansatz absetzen. Das Ziel ist es, eine sichere und unterstützende Umgebung für prosperierende nationale Wohlfahrtsstaaten zu schaffen, nicht einen europäischen Wohlfahrtsstaat. Solch eine Umgebung verlangt aber auch nach supranationalen Maßnahmen in einigen, sorgsam ausgesuchten Politikfeldern. Ebenfalls benötigt sie die Vollendung der EWWU sowie handfeste Initiativen für Arbeitsmarktstandards und Sozialschutz, sowohl für mobile als auch nicht mobile EU-Bürger/innen. Falls das Momentum, ausgelöst durch die Europäische Säule sozialer Rechte, anhält und die Bürger/innen praktische Verbesserungen in den oben genannten Feldern erfahren, könnten wir dies in ein paar Jahren im Rückblick als entscheidenden Wendepunkt betrachten.

(Aus dem Englischen von Julian Heidenreich und Hans Erdlenbruch.)

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