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Die »Flüchtlingskrise« in den Medien

Der Journalismus- und Kommunikationsforscher und emeritierte Professor der Universität Leipzig Michael Haller hat zusammen mit seinem Team eine empirische Studie zum Umgang der Tagespresse mit dem Themenkomplex Flucht/Einwanderung/Asyl vorgelegt. Das umfangreiche Werk versteht sich nicht als Kritik am Journalismus bzw. an den Tageszeitungsjournalisten, sondern es will klären, wie der Journalismus verfasst sein und funktionieren müsste, um den Anspruch einer »deliberativen«, d. h. öffentlich beratenden und verhandelnden Demokratie zu genügen. Die Grundzüge einer solchen Demokratie hat insbesondere Jürgen Habermas in seinem 1992 erschienenen Werk Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats skizziert. Die deliberative Demokratie ist angewiesen auf Kommunikationssysteme, an denen alle gleichberechtigt teilhaben können, und die verständigungsorientierte Debatten im Sinne kritischer Aufklärung ebenso ermöglichen, wie die Durchleuchtung und Bewertung von unterschiedlichen Interessenlagen. Nach diesem normativ anspruchsvollen Demokratieverständnis kommt dem Journalismus über die reine Informationsvermittlung die Aufgabe zu, gesellschaftliche Diskurse über komplexe Probleme und Konflikte zu moderieren. Die Studie geht von der Frage aus, ob es den Tageszeitungen und Onlinemedien gelungen ist, das schwierige Themenfeld Flucht/Einwanderung/Asyl so abzubilden, dass darüber sinnvoll debattiert werden kann.

Die Studie »Die ›Flüchtlingskrise‹ in den Medien«, die im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung entstanden ist, behandelt das Thema in drei Stufen: Zunächst analysiert sie das mediale »Grundrauschen« in den digitalen Newsmedien tagesschau.de, spiegel.de und welt.de. Danach untersucht sie, wie die Ereignisse im Zeitraum von Januar 2015 bis März 2016 in den Leitmedien Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung und Die Welt in Nachrichten, Reportagen, Interviews und Kommentaren dargestellt wurden. Am Schluss beurteilt die Studie die Art, wie Lokal- und Regionalzeitungen das Geschehen im gleichen Untersuchungszeitraum abbildeten.

Die digitalen Newsmedien boten eine Nachrichtenvollversorgung über die »Flüchtlingskrise« mit bis zu 17 Nachrichtenclips innerhalb von 24 Stunden. Es waren wohl diese Nachrichten und Bilder über im Mittelmeer ertrunkene und gerettete Menschen sowie hilflose Regierungen, die das von diesem Medium vermittelte Bild der Situation anbot und die Rezipienten wahrscheinlich überforderten.

Für die thematische Analyse der Beiträge in FAZ, SZ und Die Welt untersucht die Studie die Darstellung von zehn markanten Ereignissen zwischen Januar 2015 und März 2016. Insgesamt erschienen in dieser Zeit 1.678 Beiträge zum Thema »Flüchtlinge«. Das Ergebnis der Auswertung ist erstaunlich: Die dargestellten Akteure bzw. die Urheber von Zitaten stammen zu etwa zwei Dritteln aus der Sphäre der Berufspolitiker im Bund und in den Ländern sowie zu 9 % aus der Judikativen (Strafverfolger, Gerichte). Mit nur 3,5 % waren Helfer und Helferinstitutionen vertreten, die Experten und Fachleute aus der Migrationsforschung sogar nur mit 1 %. Die Studie deutet das als Beleg, dass die Leitmedien das sozial- und gesellschaftspolitische Problem »in ein abstraktes Aushandlungsobjekt der institutionellen Politik überführt und nach den für den Politikjournalismus üblichen Routinen abgearbeitet« haben. Dafür spricht auch, dass Journalisten »fast zehnmal so häufig« Journalisten zitieren wie Fachleute und Experten. Äußerungen von Flüchtenden, Einwanderern und Asylsuchenden kamen in der medialen Öffentlichkeit der Leitmedien fast gar nicht vor. Insgesamt wurde die Debatte von den Politikern der Regierungsparteien dominiert, während jene Teile der Bevölkerung, die mit der Regierungspolitik nicht oder nur teilweise einverstanden waren, völlig ignoriert wurden. Das gilt für Experten ebenso wie für die Parteien DIE LINKE, DIE GRÜNEN und die AfD.

Was die Qualität bzw. Objektivität und Neutralität anbetrifft, kommt die Studie zum Ergebnis, dass nur etwa 50 % der Berichte in den drei Leitmedien in ihrer Tonalität »neutral« sind. Je rund ein Viertel der Beiträge unterscheiden unzulänglich zwischen Bericht und Meinung/Kommentar oder bedienen sich eines auktorialen Sprachgestus’, d. h. sie argumentieren in journalistischer Selbstüberhöhung, als ob sie den politisch Handelnden gleichsam ins Hirn schauen könnten.

»Willkommenskultur« – Karriere eines Begriffs

Besonders aufschlussreich ist jenes Kapitel der Studie, das die Karriere des Begriffs »Willkommenskultur« behandelt. Obwohl im Frühjahr 2015 Flüchtlingsunterkünfte brannten, kam eine Studie im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung zum Ergebnis, dass »die Willkommenskultur in Deutschland heute deutlich positiver bewertet wird als noch vor wenigen Jahren«. »Willkommenskultur« meinte damals und seit rund zehn Jahren für die Arbeitgeberverbände eine gezielte Politik der Anwerbung ausländischer Fachkräfte, um den demografisch absehbaren Mangel an deutschen Arbeitskräften zu kompensieren. Die regierenden Parteien übernahmen den Begriff so in ihre Programme. Eine Studie von Christopher Stehr und Benjamin E. Jakob (»Willkommenskultur in der öffentlichen Verwaltung«) stellte fest: »Der Begriff Willkommenskultur (…) entstand aus einer primär ökonomischen Motivation heraus.« Die Regierungsparteien wollten mit dem Koalitionsvertrag von 2013 die Ausländerbehörden zum »Dienstleister für Migranten« ausbauen. Fazit: »Willkommenskultur« wurde in wirtschaftsnahen und liberalen politischen Kreisen zur schlagkräftigen Parole gegen »Fachkräftemangel«.

Gelegentlich, etwa bei Grünen, Linken und einigen Sozialdemokraten, wurde diese einseitig ökonomische Zwecksetzung der »Willkommenskultur« sozial-utilitaristisch gedehnt und mit »Integration« gekoppelt. Auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sah in der »Willkommenskultur« ein Instrument zur »Förderung des sozialen Zusammenhalts«.

Haller und sein Team analysierten 85 Lokal- und Regionalzeitungen im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2015 und dem 30. Marz 2016 nach dem Auftauchen des Wortes »Willkommenskultur«. In 83 % der Fundstellen tauchte das Wort als positiv besetztes Leitbild auf. Es ergibt sich damit eine fast nahtlose Übereinstimmung der von der Bundeskanzlerin vertretenen Parole »Wir schaffen das« und der Lokal- und Regionalpresse. Auch deren Berichte beruhen zu zwei Dritteln auf Äußerungen der beiden großen Regierungsparteien, während andere Stimmen, insbesondere von freiwilligen Helfern und Hilfsorganisationen oder professionellen Migrationsforschern, marginal bleiben. Auf 17 Politikerstatements kommt ein einziges von einem Experten. Abweichende Positionen oder Kritik an der »Willkommenskultur«, wie sie von der AfD und der Linkspartei, aber auch in Expertisen zur Fremdenfeindlichkeit, wie sie Wilhelm Heitmeyer und Klaus J. Bade vorlegten, formuliert worden waren, kamen in den Medien nicht vor.

Nach der Silvesternacht 2015/16 in Köln änderte sich das Klima hinsichtlich der »Willkommenskultur«. In einer »ans Hysterische grenzenden Aufgeregtheit«, mit 44 Kommentaren in FAZ, SZ und Die Welt innerhalb von zwei Wochen, wurden nun aus »Flüchtlingen« über Nacht kriminelle »Verdächtige«. Der Bundesjustizminister diagnostizierte im Handumdrehen eine »neue Dimension der organisierten Kriminalität«, und für die FAZ war hinsichtlich der Zuwanderung »die Grenze der Sozialverträglichkeit« erreicht.

Die Spaltung der Gesellschaft in der Flüchtlingsfrage fand medial keine adäquate Berücksichtigung, während die Politik mit breiter Unterstützung der Medien den Eindruck vermittelte, das ganze Land sei in den Taumel der »Willkommenskultur« verfallen. Die Studie konstatiert eine »mentale Kanalisierung« des Flüchtlingsthemas, das einen »meinungsoffenen, am gesellschaftlichen Zusammenhalt orientierten öffentlichen Diskurs« behindert hat. Umfragen zur Glaubwürdigkeit der Presse bestätigen das. Im Oktober 2015 hielten 53 % der Befragten die Berichterstattung über Flüchtlinge für »unzutreffend«. Die Studie will mit dieser Feststellung nicht in den Chor von rechts einstimmen, der »Lügenpresse« schreit, sondern sie will darauf hinweisen, dass die Berichterstattung zur »Willkommenskultur« demokratietheoretisch gesehen defizitär war. Die Studie macht aber auch deutlich, dass der Schluss, die journalistische Berichterstattung habe den Erfolg der AfD verursacht, methodisch unzulässig ist. Das Wahlverhalten, die Entstehung und Veränderung politischer Haltungen und Denkmuster sind komplexer strukturiert und können nicht aus den statistisch belegten und subtil begründeten Befunden von Hallers Studie abgeleitet werden.

Michael Haller: Die »Flüchtlingskrise« in den Medien. Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information. Arbeitsheft Nr. 93 der Otto Brenner Stiftung, 2017. Abrufbar unter: www.otto-brenner-stiftung.de.

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