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© picture alliance/dpa | Martin Schutt

Sozialdemokratie als kulturelle Kraft Die fünfte Mission

Die SPD hat die Missionen entdeckt, genauer den missionsorientierten Politikansatz, für den die italienische Innovationsökonomin Mariana Mazzucato seit einiger Zeit vehement wirbt. Schon im Bundestagswahlkampf war davon die Rede. Bei ihrem Debattenkonvent im November 2022 hat die Partei über vier große Missionen beraten und einen Leitantrag beschlossen, der die Herausforderungen des Klimawandels, des demografischen Wandels, der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft sowie der internationalen Krisen ins Zentrum rückt. Wichtige Themen, richtige Ansätze – und doch hat die programmatische Neuorientierung eine Leerstelle, die dringend gefüllt werden muss. Denn ohne auch die kulturelle Dimension des Wandels strategisch in den Blick zu nehmen, wird jeder Versuch der gesellschaftlichen Erneuerung scheitern.

Das legt auch der konzeptionelle Ansatz der Missionsorientierung selbst nahe. Mariana Mazzucato analysiert in ihrem Buch Mission – auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft viele der aktuellen Krisen als »das Ergebnis einer vierzigjährigen Aushöhlung staatlicher Regierungs- und Verwaltungsfähigkeit« und schreibt weiter: »Der Ideologie hinter dieser Entwicklung zufolge hat der Staat ins zweite Glied zu treten und nur dann einzugreifen, wenn es etwas zu reparieren gibt.« Das sei der falsche Ansatz, so Mazzucato. Angesichts der Größe und Gravität aktueller gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Herausforderungen brauche es eine Rückbesinnung auf einen Staat, der sich selbst verwandelt – »in eine innovative Organisation mit der Kompetenz und den Fähigkeiten, die Wirtschaft zu beleben und zu mehr Zweckorientiertheit zu katalysieren«.

Mazzucato hat Recht – und sie beschreibt hier eine Aufgabe, die nicht nur das systemische Setting der Politik betrifft, sondern auch die politische Kultur unserer Gesellschaft. Die politischen Erzählungen der letzten Jahrzehnte, in denen der Staat zum bürokratischen und statischen Hindernis auf dem Weg in die Zukunft verzeichnet wurde, sind erkennbar und zu Recht am Ende. Es ist klug, den Staat politisch neu zu entdecken als Instrument einer modernen Gesellschaft, die mit seinen Mitteln ihre eigenen Belange regeln will. Demokratisch und gemeinwohlorientiert.

Schließlich braucht es Politik und damit auch staatliches Handeln, um Ressourceneffizienz und Widerstandskraft nicht bloß markt-, sondern gesellschaftsbezogen bewerten zu können. Immer wieder ist Marktversagen in den vergangenen Jahren nur durch beherztes staatliches Handeln kompensiert worden. Sei es während der Finanz-, Banken- und Währungskrisen oder während der Coronapandemie. Wir haben genug Belege dafür, dass staatliche Politik wirkt.

Deshalb ist es nur folgerichtig, dass die Sozialdemokratie an diesen Ansatz anknüpft, wenn sie sich in Regierungsverantwortung an die Bewältigung aktueller Verwerfungen macht. Denn viele der aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen sind so groß und so tiefgreifend, dass sie weder in marktwirtschaftlicher Steuerung noch im bürokratischen Routinemodus zu bewältigen sind. Hier braucht es genau jene »Partnerschaften zwischen öffentlichem und privatem Sektor zur Lösung sozialer Schlüsselprobleme«, die Mazzucato als Kern ihres Ansatzes ausmacht. Nicht im Sinne der vielen, gescheiterten public private partnerships vergangener Jahre, in denen wirtschaftliche Akteure vermeintlich mehr Effizienz in den Einsatz öffentlichen Geldes bringen sollten, sondern im Sinne klarer staatlicher Zielvorgaben für gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungsprozesse.

Vorbild für einen solchen Politikansatz kann Mazzucato zufolge das US-amerikanische Bemühen in den 60er Jahren sein, einen Menschen auf den Mond zu schicken und dafür alle notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Für den US-Präsidenten John F. Kennedy handelte es sich bei diesem Projekt um einen »visionären Akt des Glaubens«. Etwas schier Unmögliches sollte gelingen, weil konsequent alle politischen Entscheidungen auf dieses Ziel orientiert wurden. Und in der Tat sind die von der SPD genannten Felder des Wandels – Klima, Demografie, Digitalisierung und Globalisierung – so groß und so relevant, dass Vergleichbares auch hier und heute notwendig ist.

Ohne kulturelle Rahmung wird es nicht gehen

Aber – und das ist wichtig: Es reicht dazu nicht aus, den Staat bloß neu zu kalibrieren. Wir wissen heute, dass die kulturelle Rahmung solcher Prozesse mindestens so wichtig ist wie die institutionelle. Wer heute noch einmal Kennedys damalige Reden nachliest, der stößt auf eine Grundsätzlichkeit und ein Pathos, das weit über ein technisches Politikverständnis hinausgeht. In einer berühmten Rede am Rice College in Houston zum Beispiel führte der US-Präsident 1962 aus: »Wir haben uns entschlossen, in diesem Jahrzehnt zum Mond zu fliegen und noch andere Dinge zu unternehmen, nicht weil es einfach ist, sondern weil es schwierig ist, weil dieses Ziel dazu dient, unsere Energien und Fähigkeiten bestmöglich einzuschätzen und zu organisieren, und weil wir uns dieser Herausforderung stellen wollen, die wir nicht aufschieben wollen und die wir zu gewinnen beabsichtigen, genau wie die anderen auch.«

Was für ein Anspruch! Verglichen damit bleibt die Darstellung äußerlicher Veränderungsprozesse, auf die Politik aktuell klug reagieren muss, geradezu ernüchtert und normativ unterzuckert zurück. Auch das Papier des SPD-Debattenkonvents Anfang November ist durchzogen von Beschreibungen großer gesellschaftlicher und globaler Entwicklungen, die scheinbar ungesteuert passieren und auf die Politik reagieren müsse. Dass dies strategischer und konzeptioneller passieren möge – darauf fokussiert sich die propagierte Missionsorientierung. Aber wer Mazzucatos Buch gelesen hat, der spürt, dass das zu wenig sein könnte.

Denn es ist nicht plausibel, die notwendige Veränderung als einen technischen Prozess der besseren Anpassung zu betrachten. Und es springt zu kurz, sich auf eine bloß gerechtere Gestaltung eines schlicht geschehenden Wandels zu fokussieren. Die Frage muss doch sein, welche Veränderungen wir wollen – und wie wir auf die aktuellen Entwicklungen so einwirken können, dass wir wirksam den Lauf der Dinge verändern.

In der Wirtschaftspolitik ist der im aktuellen Papier ins Zentrum gerückte Begriff der Transformation oftmals im Spannungsfeld zur Disruption betrachtet worden – vor allem, wenn es um die digitalen und technischen Veränderungen ging. Disruption beschreibt entweder metaphorisch den Abriss einer Entwicklung oder analytisch eine Veränderung von Marktbedingungen, der bislang hoch erfolgreiche aber dann nicht mehr angepasste Geschäftsmodelle plötzlich zum Opfer fallen. Transformation hingegen ist planvolle und rechtzeitige Veränderung oder Gestaltung des eigenen Modells. Fortschritt entsteht hier nicht durch kreative Zerstörung à la Schumpeter, sondern durch strategisches, planvolles und beharrliches Verändern.

Gestaltung statt Anpassung

Liest man Mazzucatos Darstellung der US-Mondmission, dann klingt das ganz ähnlich: »Wenn wir uns die wesentlichen Aspekte des Apollo-Programms vornehmen, stechen sechs Punkte deutlich heraus: (1) eine von starkem Zweckbewusstsein erfüllte Vision; (2) Risikofreudigkeit und Innovation; (3) organisatorische Dynamik; (4) Zusammenarbeit und Spill-over-Effekte über mehrere Sektoren hinweg; (5) langfristige Horizonte und eine auf Realität fixierte Budgetierung; und (6) eine dynamische Partnerschaft zwischen öffentlichem und privatem Sektor.« Das ist genau jene planvolle Herangehensweise, die mehr ist als Anpassung. Hier geht es um Willen und Gestaltung, um ein Ziel und die Bereitschaft, alles darauf auszurichten, es auch zu erreichen.

Das so und nicht anders anzugehen, setzt eine entsprechende Haltung und eine Kultur voraus, in der die Bereitschaft zur Veränderung wie selbstverständlich dazu gehört. Im engeren Kreis der Politik der staatlich verfassten Organe, vor allem aber auch im weiteren Bereich des Politischen in einer Gesellschaft. Missionen gehören in die Öffentlichkeit, wir sollten sie gemeinsam mit Expertinnen und Bürgern entwickeln. Und wir sollten uns anstecken lassen von der Leidenschaft, die Bewegungen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter ausstrahlen.

Hier geht es nämlich auch um große Fragen, um Missionen, bei denen sofort klar ist, dass es nicht reicht, sie alleine oder gemeinsam zu wollen, sondern die gleichzeitig auch erfordern, dass wir unsere Organisationen und Prozesse grundlegend verändern. Es ist die politische Kultur einer Gesellschaft, die die Institutionen des Politischen prägt. Ein missionsorientierter Politikansatz muss diese Wechselwirkung in den Blick nehmen, wenn er nicht technisch kalt bleiben will. Vielleicht sollten wir deshalb eine fünfte Mission mit auf unsere Karte nehmen: die Wiederentdeckung der Sozialdemokratie als eine kulturelle Kraft, die mit Lust und Leidenschaft dafür streitet, eine gute Gesellschaft zu ermöglichen, die Innovation nicht bloß als einen technischen, sondern als einen kulturellen und sozialen Prozess begreift und die fest davon überzeugt ist, dass wir über alle Mittel und Möglichkeiten verfügen, die Dinge politisch zum Besseren zu verändern.

Wir stecken schließlich mitten in einer Zeit hoher Unsicherheit und erheblicher Zweifel an der Stärke und Leistungsfähigkeit des Staates. Natürlich beseitigen wir die am Ende nur durch praktische Erfahrungen mit einem handlungsfähigen Staat, der den Wandel aktiv gestaltet und Fortschritt ermöglicht. Aber dass der Staat dazu überhaupt nur dann in der Lage ist, wenn er eingebettet ist in eine gesellschaftliche und politische Kultur, die leidenschaftlich um die richtigen Ansätze der Transformationspolitik streitet, das wissen wir doch auch. Selbst die größten gesellschaftlichen Probleme lassen sich erst dann produktiv bearbeiten und lösen, wenn sie auch entsprechend erkannt wurden und ein Bewusstsein für ihre Dringlichkeit besteht.

Was passieren kann, wenn Transformation ohne eine solche kulturelle Einbettung und ohne eine große gesellschaftliche Debatte, ohne einen Bezug zur politischen Kultur unserer Demokratie gestaltet wird, hat die SPD mit ihren gesellschaftlichen Reformprogrammen zu Beginn dieses Jahrtausends schmerzhaft erleben müssen.

Das müssten wir adressieren und auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen der Transformation thematisieren und bearbeiten. Zumal als eine Partei, die sich nicht bloß als Unterbau des Staates, sondern als gesellschaftlich treibende und verändernde Kraft betrachtet. Erst wenn wir die kulturelle Dimension der Transformation ansprechen, können wir das Verantwortungsgefühl und das Vertrauen schaffen, die es für erfolgreiche Veränderungen braucht.

Die von Mazzucato beschriebenen Missionen sind entstanden, weil Lust und Leidenschaft für den Wandel und die Erneuerung geweckt wurden und nicht bloß das Versprechen geäußert wird, dass wir dafür sorgen können, dass es etwas weniger schlimm für alle werden kann. Wir wollen etwas. Und wir trauen uns zu, davon Menschen zu begeistern. Wir knüpfen Netzwerke des Wandels und bieten all jenen eine Heimat, die dabei mitmachen wollen, diese Gesellschaft zu verbessern. Wir verstehen uns als eine Bewegung, die eingebettet ist in eine Kultur der praktischen Veränderung, einer Kultur, die Zuversicht für vernünftig hält. Diese sozialdemokratische Mission macht alle anderen Transformationen überhaupt erst möglich.

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