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Drei belletristische Neuerscheinungen ergründen die Stimmungslage in den USA Die gefährliche Unruhe in der Angstgesellschaft

Die Vereinigten Staaten erleben unruhige Zeiten. Das Land ist gespalten wie nie, und die politische Krise offenbart sich in einer Phase, in der die Welt mit einer Pandemie zu kämpfen hat. Nicht zuletzt das Versagen der Trump-Administration im Kampf gegen COVID-19 hat die von Skandalen geprägte Präsidentschaft beendet. Doch können die derzeitigen Eruptionen in den USA nicht verwundern. Wer in den vergangenen Jahren amerikanische Medien verfolgte, sah die Aggression wachsen.

Die verbale Gewalt in Politik und Medien hat die Verhältnisse nach Meinung fast aller Amerikaner hysterisiert, Demagogen haben leichtes Spiel, weil sich der Hass immer häufiger in Straftaten entlädt, in Anschlägen hochbewaffneter Einzeltäter und paramilitärischer Gruppen, aber auch in Übergriffen staatlicher Institutionen, die wiederum gewalttätige Gegenreaktionen zur Folge haben.

Das wohl entscheidende Mittel in dieser Eskalationsspirale, seit je ein erfolgreiches Instrument autoritärer Hetze, ist der Rekurs auf die Angst der Menschen vor Veränderung, vor dem Zusammenbruch bekannter Systeme, vor dem Tod. Kein Wunder also, dass US-Schriftstellerinnen und -Schriftsteller in ihren aktuellen Werken, die sich mit der frappierenden Unruhe in der Gesellschaft beschäftigen, vor allem von den Ängsten ihrer Landsleute erzählen. So unterschiedlich der Stil, so verschieden die Inhalte, ob Kurzprosa oder umfangreicher Roman, wenn die politische Mitte und die ökonomische Mittelschicht der USA derzeit literarisch in den Blick genommen wird, dreht sich alles um die mal berechtigten, mal grotesk übersteigerten Ängste in dieser Unruhegesellschaft, die sich doch nach Ruhe sehnt.

Drei aktuelle Beispiele zeigen, dass die Geschichten zeitgenössischer US-Autorinnen und -Autoren vor allem von Angstproduktion und -abwehr erzählen, sei es mit klassischen Mitteln der Katastrophenliteratur, sei es mit der vielfach bewährten Zerfallsdramaturgie, die auf bürgerliche Familienerzählungen und Beziehungskonstellationen angewendet wird, oder mit gewiefteren, spielerischeren Erzählstrategien im popfeministischen Gesellschaftsroman.

Don DeLillo ist ein Großmeister der Dystopie. Auch in seinem schmalen neuen Roman Die Stille zeigt er eine furchterregende Welt. Dabei scheint das Desaster so plausibel wie unheimlich: Plötzlich gehen die Lichter aus. Die digitalen Systeme fahren runter. Die Bildschirme sind schwarz. Wir befinden uns in naher Zukunft, im Jahre 2022. Eigentlich sollte es für fünf Freunde ein gemütlicher Abend werden. Sie haben sich in New York zu einem Fernsehabend verabredet. Sie wollen das Super-Bowl-Finale schauen, das Endspiel im American Football, das Medienereignis in den Vereinigten Staaten. Dann passiert etwas, was wir zu kennen meinen, aber so noch nicht erlebt haben: »Die Fernsehbilder fingen an zu wackeln. Das waren keine normalen verzerrten Bilder, das hatte Tiefe, bildete abstrakte Muster, die sich zu einem rhythmischen Pulsieren auflösten, es sah aus, als würden eine Reihe elementarer Einheiten erst nach vorn drängen und sich dann wieder zurückziehen.« Wer vernünftig ist, denkt zunächst an eine technische Panne. Doch die Vernunft hilft nicht weiter, es wurde etwas Grundlegendes beschädigt. Panik bricht aus. Durchaus verständlich. Ein Paar, das im Flugzeug von einer Europareise zurückkehrend zum gemütlichen TV-Abend unterwegs ist, erlebt eine traumatische Bruchlandung. Auch die Erlebnisse nach dem Unglück sind schockierend. Das Leben hat sich verändert. Der Schock sitzt tief, sickert in die Sprache ein, die zu versagen scheint: »Die Frau sprach als Erste wieder, flüsternd, sie teilte ihnen mit, wo sie geboren und aufgewachsen war, die Namen ihrer Eltern und Großeltern und Geschwister, Schulen, Kliniken, Krankenhäuser (…) Sie machte weiter mit ihrer ersten Ehe, erstem Handy, Scheidung, Reisen, französischem Freund, Straßenunruhen.«

Es ist kein Zufall, dass diese atemlose und auf den ersten Blick zusammenhanglose Aufzählung mit Straßenunruhen endet. Denn es ist die größte Angst der Protagonistin, dass sich die öffentliche Ordnung auflöst. Die digitale Stille, die DeLillo entwirft, lässt neuen, wirklich beängstigenden Lärm entstehen. Und mit dem anschließenden Geplapper der Menschen, das ein Mittel zur Selbstberuhigung ist, beginnt die Suche nach den Schuldigen. Wer ist für den Ausfall verantwortlich? Außerirdische? Terroristen? Der politische Gegner? China? Sündenböcke werden gesucht und gefunden. Aber auch der Hass auf die vermeintlichen Verursacher kann die Angst nicht aus der Welt schaffen. Es bleibt die Hoffnung, es handle sich doch um einen bösen Traum. Doch was tun, wenn es eben doch keine »lebensgroße Fantasie« ist? Beten? Der84-jährige Don DeLillo erzählt von der Apokalypse, als sei sie ein realistisches Szenario, in dessen Mittelpunkt die Ohnmacht gegenüber einem unbekannten Feind steht: »Was auch immer gerade geschieht, es hat unsere Technologie plattgemacht. Die ganze Welt kommt mir überholt vor, verschollen im Weltraum. Wo ist der Vorsprung des Staates, was unsere sicheren Geräte betrifft, unsere Verschlüsselungskapazitäten, die Tweets, Trolle und Bots?«

Die Lektüre des Romans ist auch deshalb so verstörend, weil DeLillos Buch in Pandemiezeiten erschienen ist. Nun ist der elektronische Shutdown in Die Stille nicht mit einem Lockdown zu verwechseln, der politisch angeordnet wird. Eine Pandemie ist kein digitales Desaster. Dennoch ähneln sich die Folgen: die Stille in den Straßen, weil die Geschäfte geschlossen haben; die Stille daheim, weil keine Gäste mehr eingeladen werden dürfen; die große Angst vor dem Vereinzeln und Vereinsamen in dieser Stille. DeLillo bietet keine Aufklärung an, erzählt nicht, wie der Systemzusammenbruch zustande kam oder zu verhindern gewesen wäre. Er stellt vielmehr die beunruhigende Frage, ob ein solcher Angriff in der global vernetzten Welt grundsätzlich abzuwehren wäre. Klassische Unruhe-Prosa also, der man unterstellen könnte, sie bediene die rechtsrepublikanische Angstrhetorik. Die ideologisierende Lesart verrät allerdings mehr über eigene Furchtprojektionen als über das literarische Projekt des Autors, der die Frage stellt, ob wir in einer Welt, in der solche Ängste nachvollziehbar, vielleicht berechtigt sind, überhaupt leben wollen.

Mit dieser ideologiekritischen Interpretation ist Don DeLillo erstaunlich nah am literarischen Werk einer US-Schriftstellerin, die seit Jahren in Deutschland lebt und sich hier in der Umweltbewegung engagiert. Nell Zink schreibt in geografischer Distanz zu den Geschehnissen ihrer Heimat, die im Fokus ihrer Prosa stehen. Auch wenn sie in Tübingen studiert hat und bestens Deutsch spricht, schreibt Zink in ihrer Muttersprache, und in diesem nah-fernen Verhältnis zum Sujet entstehen derzeit die cleversten US-Romane, was nicht zuletzt an ihrem Verfahren liegt, Widersprüche und Gegensätze formal wie inhaltlich auszureizen.

Das Hohe Lied heißt ihr neuer Roman. Am Anfang lernen wir Joe Harris kennen, der unter dem genetisch bedingten Williams-Syndrom leidet. Er muss mit einem Herzfehler und einer gestörten räumlichen Wahrnehmung zurechtkommen, erfreut sich aber einer sprachlichen und musikalischen Hochbegabung. Anders als die aus einer allwissenden Position operierenden Erzählerin – und die Leserschaft – weiß im Roman niemand von der Krankheit, weil Joe nie auf das Syndrom getestet wurde. Das ist eine Herausforderung für seine Umgebung, denn »sein Talent, andere zu irritieren, war schier grenzenlos. Er sagte immer, was er dachte, und vertraute jedem, den er traf«.

Der so sympathische wie seltsame Held verliert früh seine Mutter, wird vom Vater, einem Professor für amerikanische Geschichte, liebevoll durch die Schulzeit begleitet. Irgendwann in den späten 80er Jahren lernt er in New York die Punkerin Pam und den Möchtegern-Independent-Musikmanager Daniel kennen. Pam, Daniel und Joe gründen eine mittelmäßige Band, und bis auf den optimistischen Joe wissen alle, dass dieses Trio wohl eher nicht Musikgeschichte schreiben wird. Pam arbeitet für eine EDV-Beratungsfirma, Daniel schlägt sich als Korrekturleser einer Anwaltskanzlei durch. Job und Karriere sind den beiden weniger wichtig als ihr Lebensgefühl, das von Sex, Drogen, einer starken Dosis Selbstironie und dem Wunsch geprägt ist, möglichst viel Zeit mit Kunst und Musik zu verbringen. Als »Marmalade Sky«, so der Name ihrer skurrilen Band, erwartungsgemäß nicht reüssiert, unterstützen Pam und Daniel die Karriere ihres Freundes, dessen eigenwilliger Stil ein wachsendes Publikum findet. Joe wird vom Independent-Geheimtipp zum Mainstream-Megastar.

Es gehört zu den Erzählstrategien der 1964 in Kalifornien geborenen Nell Zink, produktive Verwirrung zu stiften. Nach dem ersten Drittel des Romans ist einigermaßen unklar, worauf die Handlung hinauslaufen wird. Im entscheidenden Moment verschiebt sich der Fokus der Erzählung. Die mehr oder weniger dubiosen Charaktere aus der Indie-Szene treten in den Hintergrund, die Familienbeziehungen der Hauptfiguren werden wichtiger. Pam und Daniel bekommen ein Baby. Die kleine Flora begeistert nicht nur Eltern und Großeltern, sondern auch Joe, der neben Studio-Sessions und Live-Konzerten den Babysitter gibt. Dieser Mann, der singend und dauerredend mit Flora durch die Straßen New Yorks zieht, ist nicht nur für das Mädchen ein role model. Joe erfüllt erzähltechnisch auch eine wichtige Spiegelfunktion für die Lebensläufe von Pam und Daniel, die ihn um seine kreative Leichtigkeit beneiden. Umso erstaunlicher, dass Nell Zink ihn mitten im Roman ausgerechnet am 11. September 2001 an einer Überdosis Heroin sterben lässt. Mit Joe verschwindet im Roman das Narrativ vom pursuit of happiness. Statt sich um Glück und Freiheit zu kümmern, werden die Amerikaner vor allem mit der Gefahr zu kämpfen haben, erneut angegriffen zu werden. Der krasse Wendepunkt ist also keineswegs Effekthascherei, er grundiert das folgende Geschehen mit dem Subtext von der Schwierigkeit, auch in Zeiten kollektiver Angst bei der Wahrheit zu bleiben. Die Lüge ist nicht nur ein politisches Problem, sie ist auch im Privaten konstitutiv: Pam und Daniel erzählen Flora nämlich nicht, wie Joe gestorben ist, wie sie dem Kind auch vorenthalten, dass die »liebe« Großmutter Ginger ihre Tochter Pam einst verprügelt hat.

Flora wächst in behüteten, alternativen Verhältnissen auf, die sie prägen werden. Interessanterweise entwirft Nell Zink hier keinen Angstcharakter. Im Gegenteil: Flora ist mutig und manchmal blind, wenn es darum geht, Abgründe zu erkennen. Ihre Entscheidungen, mögen sie merkwürdig oder gar moralisch zweifelhaft sein, hält sie grundsätzlich für gut und richtig. Flora ist nicht nur ein digital native, sondern lebt auch ziemlich naiv in ihrer politischen Blase. Sie will die Welt retten, arbeitet für den Wahlkampf der amerikanischen Grünen und bemerkt zu spät, dass ihr Engagement dem politischen Feind hilft.

Genüsslich legt Nell Zink die Lebenslügen dreier Generationen offen, ohne ihre Figuren grundlegend zu beschädigen. Der Witz insbesondere bei Flora ist, dass ihr Leben erst im Spiegel sehr unterschiedlicher Männer plastisch wird: Der sensible Joe bleibt einerseits ein Maßstab, andererseits fühlt sie sich nach einigen gescheiterten Affären zu einem schillernden Politikberater der Demokraten hingezogen, der mit zynisch-realistischem Blick den Aufstieg Donald Trumps vorherzusagen weiß. Zahlreiche Pointen des Romans in den kurzen und temporeich erzählten Episoden verfolgen keinen Selbstzweck. Die allgegenwärtige Ironie, die sich in rasanten Dialogen steigert, zeigt den grundlegenden Defätismus all jener, die sich für fortschrittlich halten. Daniel kann dem grünen Aktivismus seiner Tochter nur mit politischem Galgenhumor begegnen, der Flora wiederum belustigt. »Wenn sie ihrem Vater von den Grünen erzählte, reagierte er mit surrealen Warnungen vor dem Tag des Zorns und den gut organsierten Milizen des Zweiparteiensystems. (…) Sie machte Screenshots seiner amüsantesten Nachrichten und zeigte sie ihren Freunden.«

Die Zutaten des Familienromans verwandelt Zink zuletzt in ein politisches Drama. Trump, der Mann, dem nichts heilig ist, wird auch mit Hilfe von Leuten Präsident, die mit allen Mitteln Unruhe stiften und dabei das hohe Lied der Religion anstimmen. Die Errungenschaften aus den 60er und 70er Jahren, verkörpert von Figuren wie Joe, sollen wieder abgeschafft werden. Um dies zu erreichen, darf auch ein Mann an die Macht, der im Grunde die religiösen Werte der Wählerschaft missachtet. Pams Vater ist ein strenggläubiger Republikaner. Als er begreift, dass Trump auch im höchsten Amt als rücksichtsloser Choleriker auftritt, zieht er sich resigniert mit einer Eisenhower-Biografie zurück in den Lehnstuhl. Wahrscheinlich wird aber auch er Trump wiederwählen. Die alten Muster sind zu wirkmächtig. Die Angst vor Veränderung ist übergroß, gesellschaftlicher Fortschritt und technologischer Wandel werden weiterhin vor allem als Unruheherde verstanden, die nicht entfacht werden sollen. Vom amerikanischen Traum ist nicht einmal der Mut geblieben, sich die Mitverantwortung der eigenen Partei am Niedergang der amerikanischen Demokratie einzugestehen. Pam und Daniel stehen den politischen Veränderungen nicht minder ratlos gegenüber. Weil sie, wie so viele in ihrer Generation, die den angeblich so coolen Eighties nachtrauern, sich vor allem ums eigene Wohlergehen kümmern. Statt die Widersprüche zu erkennen und Konsequenzen zu ziehen, verkennt das Bürgertum in den USA, ob liberal, links oder konservativ, weiter Gefahr und Macht der trumpistischen Barbarisierung.

Wer den »alten, weißen Mann« der amerikanischen Mittelschicht noch genauer kennenlernen möchte, dem seien die neuen Erzählungen von Richard Ford empfohlen. Der 1944 geborene Schriftsteller, der unter anderem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, gehört zu den Kennern der amerikanischen Seele. Mit präzisen Worten vermag er die zumeist männlichen Protagonisten in ihrer kraftlosen Verlogenheit zu beschreiben. Seine traurigen Helden stehen für und leben in den good old times, in denen Männerträume noch als Maßstab galten: »Er war bodenständig, unterm Strich nicht besonders raffiniert, ein großer, netter Kerl aus Chicago mit einigem Grips, der mit Öl reich geworden war. Dass er der Glückliche war, in den sich Charlotte Porter verliebt hatte, würde daran nie etwas ändern.«

Richard Fords Figuren haben ihre Wurzeln im Milieu der irischen Einwanderer, sie sind katholisch und konservativ. Und sie scheitern, weil sie den Wandel der Welt kaum mitbekommen, während sie in der Provinz dem amerikanischen Traum nachhängen, obwohl sie sich vor allem als Iren begreifen. Für diese Typen bedeutet ein Seitensprung schon das Ende der moralischen Existenz, aber da die Versuchung immer lauert, laufen sie als missgelaunte Sünder durch die Welt. »Insgesamt hatten sie sich ein Leben in Geborgenheit aufgebaut. Was gab es sonst?« heißt es in einer Ehe-Geschichte, die von einem Mann erzählt, der Jura mit dem guten Gefühl studierte, »etwas Beständiges erwischt zu haben« und der nach dem Tod der Gattin damit klarkommen muss, dass nichts im Leben beständig ist. Fords Figuren begreifen sich noch immer als Passagiere, und hassen gerade darum jede Veränderung. Dass ihr Starrsinn ihre Ehen und beruflichen Pläne scheitern lässt, ist die traurige Dialektik dieser Dramen, deren Figuren im wahrsten Sinne des Wortes die Welt nicht mehr verstehen, sich aber in ihr Los fügen. Die beunruhigende Botschaft dieser Erzählungen, die von Sehnsucht nach Ruhe und müden Anti-Helden handeln, die sich eine Heimat wünschen, die es nicht mehr gibt, lautet: Mit Weltflucht ist kein Staat zu machen. Politik erscheint den Figuren, die sich selbst als Wähler der Demokraten immer als wertkonservativ beschreiben würden, als etwas Fernes, als ein korruptes Milieu, das verstörende Nachrichten produziert. Die empörten Fernsehprediger müssen demnach wohl recht haben, wenn sie Washington als Sündenpfuhl beschreiben.

Die Kunst Richard Fords besteht darin, die so widersprüchlichen Lebenswege seiner irischen Passagiere nicht abschätzig zu beurteilen, sondern sich einzufühlen in Biografien, die viel vom Gemütszustand der USA erzählen. »Es gab wenig«, heißt es in der Auftaktgeschichte, »worauf man stolz sein konnte. Nicht dass das jetzt eine besondere Lebensmaxime gewesen wäre, aber damit würde er ganz gut über den Abend kommen und über die zahllosen Abende, die noch vor ihm lagen.« Diese Gedanken kommen einem Mann, der eine frühere Freundin wiedergetroffen hat, am liebsten mit ihr ins Bett gegangen wäre, sich aber nicht für den Ehebruch entscheiden konnte und ebenso erleichtert wie unglücklich zu seiner Frau zurückkehrt.

Richard Ford ist ein feinsinniger Beobachter, der selten auf Knalleffekte setzt. Seine Prosa legt die politische Lesart zunächst nicht zwingend nahe. Die Desillusionierung seiner Figuren beschreibt allerdings eine vermutlich äußerst realistische Stimmungslage, die für das politische Gemeinwesen der USA immer wieder gefährlich werden kann. Sollte Präsident Joe Biden das Vertrauen in die demokratischen Institutionen nicht wiederherstellen und der entwurzelten Mitte der US-Gesellschaft keine Wege in stabilere, ruhigere Verhältnisse bahnen können, werden sich erneut jene Modelle durchsetzen, die auf apokalyptische Heilslehren und charismatische Führer setzen. Denn Angst vor der Unruhe lässt sich in Zeiten großer Umbrüche leichter beschwören als die Bereitschaft zu einem mühsamen, weil demokratisch verhandelten Fortschritt.

Don DeLillo: Die Stille. Roman (Aus dem Englischen von Frank Heibert): Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 112 S. 20 €. – Richard Ford: Irische Passagiere. Erzählungen (Aus dem Englischen von Frank Heibert). Hanser Berlin, München 2020, 288 S., 22 €. – Nell Zink: Das Hohe Lied. Roman (Aus dem Englischen von Tobias Schnettler). Rowohlt, Hamburg 2020, 512 S., 25 €.

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