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Eine historische Perspektive Die gegenwärtige Krise der Sozialdemokratie

Glanz und Elend, Siege und Niederlagen, Größe und Mittelmäßigkeit lagen in der Geschichte der Sozialdemokratie, wie in der Geschichte anderer großer historischer Bewegungen auch, immer im Gemenge. Aber in sehr unterschiedlichen, sich dramatisch verändernden Mischungsverhältnissen.

Die mehr als anderthalb Jahrhunderte alte Geschichte der Sozialdemokratie ist reich an nicht vorhergesehenen Wandlungen und Anpassungen an veränderte Zeitumstände. Die Zeit von 1958 bis 1960 zum Beispiel: Stuttgarter Parteitag, Verabschiedung des Godesberger Programms, die außenpolitische Kehrtwende der Partei unter Herbert Wehner. Es gab überraschende Wenden hin zum Erfolg – vielleicht sind diese auch in Zukunft wieder möglich.

Ich möchte kurz vier Stationen abschreiten, an denen meines Erachtens sozialdemokratische Stärken überwogen – nicht nur in Bezug auf die Geschichte der Partei, sondern auch in Bezug auf die deutsche Geschichte generell.

Das Kaiserreich von 1871 bis 1918 war die formative Periode der deutschen Sozialdemokratie. Sie ertrug und überlebte die bismarcksche Verfolgung, sein Anti-Sozialistengesetz – die Sozialdemokraten als Opfer und Sieger zugleich, das prägte ihre Erinnerung für Jahrzehnte. Die Sozialdemokratie wurde zur Massenbewegung, zur bei Weitem größten Partei im Reichstag vor 1914: eine Bewegung des Protests und der Emanzipation, aber auch der Bildung, des sozialen Aufstiegs und der Integration der Arbeiterklasse in Gesellschaft und Staat. Das war kein obrigkeitsstaatliches Unternehmen, sondern eine zivilgesellschaftliche Initiative, eine multidimensionale Bewegung mit großen Organisationen, Partei und Gewerkschaften, aber auch mit unzähligen kleinen Vereinen im Alltag und einer sich wechselseitig stützenden Milieukultur gelebter Solidarität. Diese sozialistische Bewegung definierte, was links war – immer eindeutiger in marxistischen Kategorien, mit Wirkung bis heute. Ein charismatischer Führer, August Bebel, hielt sie trotz zunehmender Heterogenität zusammen, was ihm auch deshalb gelang, weil diese Bewegung von der bürgerlichen Gesellschaft und dem Staat kräftig geschnitten und ausgegrenzt wurde. Umgeben von Feindschaft, zumindest von Ablehnung und Geringschätzung, schlossen sich die Reihen der Sozialdemokratie als Kampfgemeinschaft.

Aber das hatte seinen Preis, brachte Nachteile und führte zu Verwerfungen, die ebenfalls lange weiterwirken sollten. Die Sozialdemokratie hatte keine Bündnispartner und keinen Zugang zu den Institutionen der Macht. Sie lernte, sich im fundamental-oppositionellen Abseits einzurichten und sich dabei selbst zu genügen. Fern der Macht, gesinnungsstark und kritisch, pflegte sie den »revolutionären Attentismus«, die siegessichere Erwartung der Revolution und des Sozialismus, aber ohne jeden praktisch-politischen Versuch, diese herbeizuführen. Sie war, zu Recht, stolz auf ihre wachsende Organisation, die noch fest in der Alltagskultur der Klasse wurzelte. Aber wozu sie diente, war nicht immer klar.

Die SPD in der Weimarer Republik – es fallen einem vor allem die Negativa ein: als erstes die Spaltung der Arbeiterbewegung in der Revolution und im darauffolgenden Bürgerkrieg, eine Spaltung, die im kollektiven Gedächtnis bis heute präsent, kontrovers und belastend geblieben ist. Dann der partielle Rückzug der SPD nach Friedrich Eberts Tod, zurück ins eigene Milieu, ausgegrenzt, auf Reichsebene meist nicht in der Regierung. Die SPD wurde zur Zielscheibe eines immer härteren Zangenangriffs seitens des bürgerlich-nationalen, zunehmend nationalistischen Establishments einerseits und der an Boden gewinnenden kommunistischen Linken andererseits. Schließlich folgte die Niederlage gegen den Nationalsozialismus in der großen Krise von 1932/33, ohne viel Gegenwehr, enttäuschend und traumatisierend.

Andererseits aber fehlte es der SPD-Geschichte auch in der Weimarer Zeit nicht an Größe und Würde. Erst durch die Entscheidungen der Mehrheitssozialdemokratie von 1918/19 wurde die Weimarer Republik möglich, deren demokratische Verfassung, Fortschrittlichkeit und Sozialstaatlichkeit mittlerweile höher eingeschätzt werden als noch vor einigen Jahren. Der Einsatz der Scheidemanns, Eberts und Noskes gegen die Räterepublik und gegen das Vorbild der Russischen Revolution von 1917 und für Nationalversammlung, allgemeine Wahlen und parlamentarische Demokratie waren entscheidend. Ohne diesen Einsatz keine Weimarer Republik. Und wer die Geschichte der parlamentarischen Demokratie, des Rätewesens und der daraus oft hervorgehenden Diktatur seitdem kennt, weiß heute, 100 Jahre später, dass dies die richtige Entscheidung war.

Die Sozialdemokratie trieb den Ausbau des Sozialstaats voran – wahrscheinlich über die Möglichkeiten der Weimarer Republik hinaus, aber mit prägenden Langzeitfolgen bis heute. Und am Ende war sie zwar wehrlos, aber nicht ehrlos. Das half nicht gegen die sich durchsetzende Barbarei, aber der antifaschistische Widerstand der Sozialdemokraten bleibt ein gewichtiger Pluspunkt, nicht nur für das Selbstverständnis der Partei, sondern auch für das Selbstverständnis der Deutschen. Nicht alle haben nachgegeben.

In der Bundesrepublik fungierte die SPD als regierende Partei von 1966 bis 1982, zunächst in der Großen Koalition, dann mit Willy Brandt und Helmut Schmidt im Kanzleramt. Nie war der sozialdemokratische Einfluss auf die deutsche Geschichte größer als in diesen Jahren, als die SPD mit 46 % der Stimmen (1972) ihr Maximum erreichte und nun – dank des Gewinns der Unterstützung durch zahlreiche Angestellte, Beamte, Intellektuelle und andere Bürger – auch nach sozialer Zusammensetzung und Wählerschaft von einer Klassen- zu einer Volkspartei wurde. Unter teils charismatischer, teils staatsmännischer Führung verwirklichte sie viel von der sozialdemokratischen Agenda, übrigens insbesondere in der Großen Koalition 1966–1969, so unbeliebt diese in der Partei auch war. Dazu gehörte ein entschiedener Aufbruch in Richtung mehr Demokratie, mehr Mitbestimmung und Gewerkschaftsrechte, sehr viel mehr planender, eingreifender Staat als bisher, ein rasch expandierender Sozialstaat, der Ausbau des Bildungszugangs für alle, die Öffnung der Gesellschaft, der Abbau überkommener Privilegien und die Pluralisierung der Kultur. Dazu gehörte die »Neue Ostpolitik« als erfolgreicher Versuch, den Ort der Bundesrepublik in der internationalen Politik neu zu bestimmen. Insgesamt war dies ein breites Spektrum politischer Initiativen weit über die klassischen SPD-Themen hinaus. Die Bundesrepublik veränderte sich, sie wurde sozialliberaler und sozialdemokratischer.

Zur Verlustseite dieser Erfolgsgeschichte gehört gesamtgesellschaftlich ein gewisser Mangel an Maß und langfristiger Stabilität, was sich in der aus dem Ruder laufenden staatlichen Gesamtverschuldung (damals mit rasch wachsender Zinsenlast) besonders klar zeigte; und innerparteilich die Unfähigkeit, die zentrifugalen, kritischen, sich gegenseitig bekämpfenden Kräfte zu bändigen – die neuen sozialen Bewegungen und die Grünen etablierten sich außerhalb, als Konkurrenz.

Schließlich die rot-grüne Regierungszeit von 1998 bis 2005: Durch Postindustrialisierung, beschleunigte Globalisierung und beginnende Kommunikationsrevolution unterschieden sich diese Jahre deutlich vom sozialliberalen Jahrzehnt der »langen 70er Jahre«. Es wurden neue Antworten von der Politik verlangt.

Die sozialdemokratische Erinnerung an die Regierungszeit Gerhard Schröders ist gebrochen bis negativ. Die Kritik an seiner Agenda-Politik hat sich verfestigt, und das Ende seiner Regierungszeit – mit den wütenden Protesten der Basis und der Gewerkschaften gegen eine Regierungspolitik, die als Abweichung von sozialdemokratischen Werten, Abbau sozialstaatlicher Sicherungen und als Kotau vor dem neoliberalen Zeitgeist empfunden wurde – wird als Beginn des sozialdemokratischen Niedergangs erinnert. An dieser Stelle kann nicht die noch ausstehende Diskussion über den historischen Ort der schröderschen Reformpolitik nachgeholt werden. Die Fehler, die Einseitigkeiten jener Politik, an der übrigens – über Bundesrat und Vermittlungsausschuss – viele Köche beteiligt waren, sind auch nicht zu leugnen. Aber ich will meine Überzeugung nicht verheimlichen, dass diese Politik im Grundsatz historisch notwendig war und dem Land sehr gutgetan hat. Unter dem Druck der verschärften Globalisierung stand die Reform des Sozialstaats überall an, besonders aber in Deutschland, das in den ersten Jahren des Jahrhunderts mit gutem Grund, sozialökonomisch als »kranker Mann Europas« galt. Die Reformen haben erheblich zur sehr positiven sozialökonomischen Entwicklung der Bundesrepublik in den letzten anderthalb Jahrzehnten beigetragen. Die enge Verknüpfung von »Fördern und Fordern« überzeugte – als gerecht wahrgenommen – auch viele aktuelle und potenzielle Wähler der SPD. Die Sozialdemokratie war in den Schröder-Jahren noch stark. Noch 2006 erreichte sie in Umfragen höhere Werte als die CDU. Es glückte ihr, große Teile der Arbeiterschaft und des Bürgertums noch einmal für sich zu gewinnen. Mit den Agenda-Reformen gelang es der Sozialdemokratie, dem Gemeinwesen Bundesrepublik einen großen Dienst zu erweisen: auch ein Stück Glanz oder Größe, bezahlt mit Selbstüberforderung und beginnender Erosion.

Blickt man auf den gesamten Zeitraum, fragt man sich erstens, warum die SPD sich für ihre großen Leistungen nicht mehr Selbstanerkennung gewährt; zweitens, wie sie dazu in der Lage war; und drittens, wieso dies derzeit nicht mehr funktioniert.

Zum ersten: Der SPD fällt es immer schwer, sich für Erreichtes zu loben. Selbstkritisch zieht sie es vor zu betonen, was noch nicht erreicht worden ist und noch erreicht werden muss. Sie macht sich damit schlechter als sie ist. Dadurch unterscheidet sie sich von allen anderen Parteien.

Woher nahm die Sozialdemokratie – die schließlich keine Initiative von Eliten war und die über Ressourcen wie Reichtum, Wissen, Macht und Reputation nur sehr bedingt verfügte – historisch die Kraft zu den großen Leistungen, von denen ich einige skizziert habe? Eine Antwort unter mehreren möglichen: Der Sozialdemokratie gelang lange das Kunststück, einerseits handfest und effektiv die Interessen der schlechter gestellten, ärmeren, schwächeren sozialen Existenzen, der breiten Bevölkerung und besonders der Arbeiter zu vertreten und andererseits einen Teil der Mittel- und Oberschicht, den progressiven Teil des Bürgertums anzusprechen. Dies gelang ihr, indem sie natürlich das Soziale, die Arbeit, die Nöte und Ansprüche der breiten Bevölkerung betonte, aber zugleich programmatisch und strategisch immer weit darüber hinausgriff, gesamtgesellschaftliche Verantwortung schulterte und sich um Freiheit, Vernunft und Fortschritt in vielen Lebensbereichen kümmerte, auch in der Kultur, im intellektuellen Leben und in der Außenpolitik. Der SPD gelang dieser Spagat, sie war keine Partei der Extreme, sondern die Partei der Vermittlung par excellence. Das machte sie zu der zivilisierenden Kraft, die sie lange war.

Derzeit gelingt das nicht. Warum nicht? Es ist überhaupt schwieriger geworden, Kompromisse zu schließen, in der Politik große und stabile Bündnisse zu schmieden, sich zu verständigen – der Niedergang der Volksparteien ist nicht auf die Sozialdemokratie beschränkt. Dafür gibt es viele Gründe, vor allem den Strukturwandel von Öffentlichkeit und Politik als Folge der Kommunikationsrevolution. Die Sozialdemokratie, als klassische Partei der Vermittlung, der Verständigung und der Kompromisse, trifft es besonders hart.

Dann sind da die weitreichende Professionalisierung der Politik und die Akademisierung der politischen Klasse, die dadurch an Bodenhaftung verliert und in noch größere Distanz zu Teilen der Bevölkerung gerät. Das zeigt sich sehr deutlich an den Politikern, Beratern und Funktionären der Sozialdemokratie, die, anders als noch vor einigen Jahrzehnten, oft kaum noch Herkunfts‑, Berufs- und Alltagsverbindungen zu großen Teilen der Basis besitzen. Diese hat sich überdies dramatisch verändert. Sie besteht nicht mehr aus der kampf- und aufstiegsbereiten Arbeiterklasse des Industriekapitalismus, sondern aus einer in sich ungemein vielfältigen Arbeitnehmerschaft einschließlich kleiner Selbstständiger, mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Interessen, die von vielen Lehrern, Angestellten und qualifizierten Dienstleistern bis zum Prekariat in den sozialen Brennpunkten reicht, in Berlin-Neukölln, Duisburg oder der Lausitz.

Damit aber ist die Schnittmenge von gemeinsamen oder auch nur kompatiblen Erfahrungen, Interessen und Einstellungen kleiner geworden, die jenen Spagat erlaubte, mit dem die klassische Sozialdemokratie so lange gut fuhr. Einerseits sind alte Frontstellungen verblasst, die liberale Bürger und klassenbewusste Arbeiter im selben Boot zusammenbrachte, etwa im Kampf gegen obrigkeitsstaatliche Gängelung, Militarismus oder die Politik des konservativen Dünkels. Dies sind keine drängenden politischen Probleme mehr. Andererseits sind neue Themen nach vorne gerückt: Globalisierungsfolgen, Kosmopolitismus, das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit und vor allem Kontroversen im Umgang mit Zuwanderung – Themen, die trennen und spalten, die auch frühere, jetzige und künftige SPD-Wähler umtreiben und von der SPD weitgehend verdrängt werden. Nirgendwo scheint es der klassischen Linken gelungen zu sein, mit dieser Problemlage so umzugehen, dass sie ihren universalistischen Prinzipien treu bleiben und gleichzeitig breite Basis-Zustimmung behalten konnte. Darunter leidet die SPD als klassische Partei der Vermittlung besonders.

Wenn die SPD rational kalkuliert – was sie nicht immer tut – und sich klar macht, wohin sie die meisten Wähler und Sympathisanten verloren hat – nicht an die Linkspartei, sondern vor allem an die AfD und die Grünen –, dann wird sie trotzdem versuchen, ihre große Tradition als vermittelnde Spagatpartei links von der Mitte wiederzubeleben, mit neuen Inhalten und neuem Schwung. Der Bedarf danach ist weiterhin groß. Einige Großprobleme der Gegenwart – die Zivilisierung des zunehmend globalen Kapitalismus, die Suche nach einem moralisch vertretbaren und zugleich sozial verträglichen Umgang mit Zuwanderung sowie die Bewältigung der ökologischen Krise – werden ohne sozialdemokratische Vermittlungsarbeit nicht zu lösen sein. Wenn die SPD weiter schwächelt, kränkelt und schrumpft, dann jedenfalls nicht aufgrund eines Mangels an Aufgaben.

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