NG/FH: Herr Mau, was passiert da gerade in den europäischen Gesellschaften?
Steffen Mau: Wenn man es historisch einordnet, ist es der definitive Abschied von einer Nachkriegszeit, in der es relativen Konsens gab, eine gut organisierte politische Struktur, eine hohe Integrationsfähigkeit der Gesellschaften. Jetzt wandern wir in eine Zeit mit sehr grundsätzlichen Konflikten, mit einer neuen Frontstellung zwischen liberalen und autoritären, meist rechtspopulistischen Kräften. Das wird die politische Landschaft über lange Zeit bestimmen. Früher liefen die Kontroversen im alten Rechts-Links-Konflikt zwischen Marktliberalismus und Sozialstaatlichkeit, das ist anders geworden.
Gibt es einen Kern dieser großen Erschütterung?
Nein, da ist der Begriff der Polykrise schon recht angemessen. Es ist eine Überlagerung unterschiedlicher Faktoren. Zentral ist dabei die Erschöpfung eines lange Zeit dominanten Fortschrittsbegriffs, der ja auch Bindungskräfte und Loyalitäten erzeugt hat. Da waren die Leute dabei, weil sie im Großen und Ganzen doch eine Verbesserung der eigenen Situation erwarten konnten. Dieses Versprechen kann man heute nicht mehr mit hoher Überzeugungskraft geben.
Ist es denn nicht doch weiterhin so, dass die verschiedenen demokratischen Politikkonzepte verschiedenen Gruppen mehr oder weniger nutzen?
Das schon. Aber wir haben im Zentrum doch eher das, was Andreas Reckwitz Risikopolitik nennt. Eine Politik des Negativen, in deren Mittelpunkt das Ziel steht, Schaden zu minimieren – aber nicht irgendein Hoffnungsversprechen.
Schadensbegrenzung ist aber nicht automatisch rechts, oder?
Natürlich nicht. Die Verunsicherungen betreffen die Gesellschaft bis in die obere Mittelschicht hinein und sie werden von den Menschen sehr unterschiedlich aufgenommen. Mit dem Ergebnis zum Beispiel, dass Leute den Schwerpunkt darauf legen, sich nur um sich selbst zu kümmern. Andere suchen eine neue Form von Gemeinschaftlichkeit, die auch ethnisch oder kulturell definiert werden kann. Auch um damit Besitzstände zu verteidigen, zumal in Konkurrenz zu anderen Gruppen.
Aber die Gesellschaft kann sich dabei nicht mal mehr über die Realität verständigen?
Genau. Früher konnten wir davon ausgehen, dass die Leute mehr oder weniger einig darüber waren, was Sache ist. Seit der Coronaphase und auch mit dem Aufstieg der sozialen Medien ist das immer weniger gegeben. Diese Aufsplitterung der Öffentlichkeit ist für die Demokratie hoch riskant.
Wenn man in den USA zwischen Fox und CNN hin- und herschaltet, hat man das Gefühl, es wird über völlig unterschiedliche Welten berichtet. Wenn die Basis der Wirklichkeitsdefinition erodiert, ist das auch für die Demokratie hochproblematisch.
Ist das Kriterium »Was hat es mit MIR zu tun?« oder »Wo werde ICH gehört?« eigentlich schon potenziell antidemokratisch?
»Wir sind in einem Übergang von der Mitwirkungsdemokratie zu einer Einforderungsdemokratie.«
Es ist ein legitimes Anliegen, auch wenn das manchmal so verabsolutiert wird, dass nur noch die eigenen Interessen ihren Platz finden. Wir sind jetzt aber in einem Übergang von der Mitwirkungsdemokratie, die stark von Teilnahme und auch Regelbasiertheit getragen war, hin zu einer Einforderungsdemokratie. Da wird zunächst mal gefragt, welchen Nutzen man selbst daraus ziehen kann. Das ist schon ein anderes Verständnis. Die Politikwissenschaft spricht von Input- und Output-Legitimität. Input-Legitimität bedeutet, eine Entscheidung zu akzeptieren, wenn sie auf demokratische Weise zustande gekommen ist. Output-Legitimität meint: Ich akzeptiere nur, was mir nützt.
Nennen Sie Letzteres noch eine demokratische Haltung?
Es geht in der Politik immer um Interessen. Aber die Voraussetzung zum Funktionieren der Demokratie ist natürlich, dass man sich an Entscheidungen gebunden fühlt, auch wenn sie einem selbst nicht zum Vorteil gereichen – weil man die Spielregeln akzeptiert. Teile der Bevölkerung rücken davon jetzt ab. Sie werfen der Ampelregierung vor, den Willen des Volkes nicht mehr hinreichend zu vertreten…
…und die Rechtspopulisten behaupten, nur sie stünden noch für den Volkswillen. Wenn sie dafür gewählt werden: Ist das nicht auch Demokratie?
Das ist eine populistische Spielart von Demokratie. Die hat es auch immer gegeben: mit der These, es gebe so etwas wie einen homogenen, einheitlichen Volkswillen. Die Populisten sagen: Es geht nur darum, dass das imaginierte Volk irgendwie Recht bekommt.
Es gibt inzwischen aber auch aus der Wissenschaft den Vorwurf, dass in der Praxis das Recht die Politik auffrisst. Ist sie tatsächlich wegen der vielen rechtlichen Begrenzungen entscheidungsunfähig geworden?
Philipp Manow sagt das sehr dezidiert und meint, die Verrechtlichung des Politischen sei selbst ein Problem. So zugespitzt teile ich das nicht. Aber das hohe Maß an Verregelung und Verriegelung ist andererseits da. Wenn die Politik dann selbst ihren geringen Handlungsspielraum beklagt, zum Beispiel wegen europäischer Zuständigkeiten, sorgt das natürlich für Frust.
Haben wir also eine Komplexität erreicht, die in ihrer wechselseitigen Regulierung Politik oft unmöglich macht? Und schließt das nicht tatsächlich ich-bezogene Politikerwartungen aus?
In gewisser Weise schon. Und man muss sich dann fragen, wie sinnvoll diese Regeln eigentlich sind und ob manche Aspekte nicht wieder stärker in den Zuständigkeitsbereich der demokratisch beeinflussbaren Politik einbezogen werden müssten.
Von den Rechtspopulisten kommen Sätze wie »Was Deutschland nicht nutzt, wollen wir nicht«. Landen wir am Ende dann im Namen der Demokratie genau da?
Das ist nun wirklich ein nationalchauvinistisches Politikverständnis. Wir leben in einer globalisierten Zeit. Märkte sind nicht mehr in Staaten eingebettet, sondern umgekehrt Staaten in Märkte. Um das noch bewältigen zu können, müssen Staaten kooperieren und auch supranationale Entscheidungsformen organisieren. Sonst gibt es keine Gestaltungsmacht mehr. Schauen Sie auf den Standortwettbewerb in der IT-Branche, auf die Steuerpolitik: Staaten sind darauf angewiesen, dass sie Regelungskompetenz auf einer höheren Etage erzeugen, sonst werden sie untergehen. Das Problem ist: Die Demokratisierung und Parlamentarisierung der Europäischen Union kommt nicht wirklich voran.
Sie sagen ja voraus, dass der Osten anders bleiben wird als der Westen. Ist Europa so ein Thema, das Sie damit meinen - auch weil Europas Osten die Europäisierung des Denkens nie so konsequent vollzogen hat wie der Westen?
Grundsätzliche Einigkeit in den Europafragen war bei der deutschen Vereinigung zunächst mal eine sehr westdeutsche Einbildung. Sowohl die Westbindung wie die NATO und die Orientierung auf die EU waren im Paket mit drin. Das ist in Ostdeutschland nie groß diskutiert worden. Man hat es als Mitgift der Vereinigung mitgenommen. Jetzt stößt man sich öfter daran…
…und erschrickt?
Man wollte mit der westdeutschen Bundesrepublik zusammen sein. Aber auf dem Beipackzettel stand noch viel mehr, auch wenn das kaum gelesen wurde. Vielleicht kamen all diese vielen Schritte zu schnell.
Ist das nicht ein viel zu verständnisvolles In-Watte-Packen? Müsste einer nationalistischen, fremdenfeindlichen Grundstimmung nicht viel deutlicher widersprochen werden?
Wir sind eine Demokratie, die Leute stimmen frei ab. Wir können nicht einen Teil der Bevölkerung stimmlos machen, dieser Teil ist da, selbst wenn man Verbotsverfahren anstrengen würde. Wir müssen ihnen zugleich nicht nach dem Mund reden oder sozialtherapeutisch begegnen. Da ist eine harte Auseinandersetzung besser. Aber die politische Auseinandersetzung mit ihnen hat das Risiko, dass sie vielleicht nicht ganz so erfolgreich ist, wie wir uns das erhoffen. Das ist übrigens kein Ost-West-Konflikt, sondern er zeigt sich in unterschiedlicher Intensität überall. Es ist inzwischen sogar ein Ost-Ost-Konflikt. Die ostdeutsche Gesellschaft ist in der Mitte gespalten zwischen demokratischen und autoritären, oft auch russlandfreundlichen, antiwestlichen Parteien. Es ist natürlich ein Konflikt mit sozialstruktureller Grundierung: Je niedriger die soziale Schichtung, desto mehr Sympathie gibt es für autoritäre Kräfte. Die Ostdeutschen sind aber nicht von Anfang an demokratierenitent gewesen. Sie haben lange Zeit mit großen absoluten Mehrheiten demokratische Parteien gewählt. Jetzt verlieren diese nach und nach ihre Bindungskräfte.
Nun kommt noch eine Generationenspaltung hinzu. Wie erklären Sie das rechte Wahlverhalten der Jungen?
Das kommt stark aus der Veränderung der politischen Sozialisation mit den sozialen Medien. Die sind ihre primäre Quellen, stark mit Affektcharakter, emotionalisiert. Mit einer Ästhetik, die jungen Leuten nahe liegt. Dort hat es die AfD vor allem sehr erfolgreich geschafft, das Bild des rückständigen Ostens umzudrehen in ein Bild des avantgardistischen Ostens, der zur Speerspitze einer neuen Entwicklung wird.
Wir erleben also einen Umbruch speziell in der Ästhetik des Politischen, der die altgewohnten Mechanismen, auch die Parteien mit ihren geregelten Umgangsformen überdeckt?
Ja. Parteien sind langsam, nicht stark genug in der Emotionalisierung. Die sozialen Medien sind nun mal Affekt-Generatoren. Ich weiß nicht, ob die demokratischen Parteien da werden gleichziehen können. Bei Andy Babler in Österreich oder Kamala Harris in den USA gibt es durchaus vielleicht Ansätze in diese Richtung. Aus der Forschung weiß man allerdings: Es gibt da immer einen strukturellen Vorteil von negativen Gefühlen.
Wird das traditionelle Politikkonzept des rationalen Diskurses darüber für die Jungen fremd und überflüssig?
In gewisser Weise kann das passieren. KI-erzeugte Videos, das haben wir in Brandenburg gesehen, können eine bedrohliche Welt vorgaukeln, in der nur noch Messermänner und Kopftuchfrauen auf der Straße sind und das schöne Land zerstören. So etwas hat speziell bei jungen Leuten eine unglaubliche Sogwirkung.
Wo ist der Gegensog? Und bleibt es nicht wichtig, dass demokratische Politik nicht ständig nur charismatische Figuren hervorbringt, die Affekte bedienen?
Unsere Politik ist nach wie vor eine Politik der Apparate, der Organisationen und der Hierarchien. Sie wird herausgefordert durch Bewegungs- und Plattformparteien, die schnell intensiv mobilisieren können. Dem auf ihrem Spielfeld entgegenzutreten ist unglaublich schwer. Da sind wir bei den Mühen der Ebene: politische Bildung, Schulen, diskursive Formate. Ich bin ein Fan von Bürgerräten, die über Losverfahren zusammengesetzt werden. Ich erhoffe mir davon Selbstwirksamkeitserfahrungen, relative Immunität gegenüber Extremismen. Vielleicht sind es dann auch Probebühnen für politische Talente, eine Art Eintrittskarte in Richtung Parteiensystem. In Zukunft wird Personalisierung und Emotionalisierung aber auch im politischen Alltag wichtiger werden, im Vergleich zu traditionellen Parteitagen und ihren Beschlussmechanismen zumal.
Sie haben den Begriff Haltelinie benutzt, um deutlich zu machen, dass die offene Gesellschaft Menschen gegen den Populismus im Boot halten muss. Solche Haltelinien können schwerlich digitaler Art sein. Zurück also zur persönlichen Begegnung?
Wie erzeugen die Akteure auf demokratischer Seite neue Bindekräfte? In der Fläche schaffen das die Parteien kaum noch. Also müssen wir Bereiche politisieren, die bisher nebendran standen. Wichtige Leute aus der Wirtschaft zum Beispiel, generell Menschen mit Leitfunktion. Kirchen, Meinungsführer aus den Wissenschaften oder öffentlichen Verwaltungen. Das Problem jetzt der traditionellen Politik zu überlassen, wäre eine Sackgasse. In der Breite der Gesellschaft muss es neue Netzwerke geben.
Wird der Bundestagswahlkampf wirklich über das Thema Wirtschaft entschieden, wie es vor allem die Union vorhersagt?
»Wir haben inzwischen eine stark eingewurzelte rechte Kultur, unabhängig von der ökonomischen Lage.«
Im Osten, wo im Herbst mehrfach gewählt wurde, waren 80 Prozent der Leute zufrieden mit ihrer eigenen wirtschaftlichen Situation. Die Sicherheit der Renten ist ein Thema, aber das sozialpolitische Füllhorn würde nichts bewegen. Ostdeutschland hat eine Arbeitslosigkeit, die fast so niedrig ist wie im Westen. Es hat sich wahnsinnig viel getan. Arbeitslosigkeit wird bei weiter schrumpfender Bevölkerung als Problem kaum mehr existieren. Der Mangel an Fachkräften wird zu deutlichen Lohnsteigerungen führen. Trotzdem haben wir inzwischen eine stark eingewurzelte rechte Kultur, unabhängig von der ökonomischen Lage. Und auch die Union betreibt ja neben dem Wirtschaftsthema viel Kulturkampf – mit der Migration als Mutter aller Probleme. Sie bekämpft das Gendern und die Grünen als Schreckensbild. Das ist viel mehr als ein Wirtschaftswahlkampf.
Ist die große Erschütterung der Gesellschaften also vorwiegend doch eine kulturelle?
Ein Stück weit hat sich das tatsächlich kulturalisiert. Darauf zielt der Begriff von der demobilisierten Klassengesellschaft. Es gibt noch ein Leiden an der Ungleichheit – aber kaum Möglichkeiten, über dieses Thema große Wählerzustimmung zu bekommen. Das ist paradox. Und es liegt auch an dem Mangel eines gesellschaftspolitischen Projektes, das glaubwürdig ist. Wir haben heute keine Vorstellung mehr von einer besseren Zukunft. Auch die CDU hat das ja nicht, sondern eher nur eine Art Retro-Blick auf eine soziale Marktwirtschaft, die mal ein gutes Konzept war. Auf all die realen Veränderungen und Herausforderungen ist das noch keine Antwort.
Wo ist der Positiv-Pfad?
Die grundsätzlichen Anfechtungen der Demokratie sind real. Die Dominanz der Angstszenarien ist real. Wir dürfen Leuten, die auf der Straße stehen und aufstampfen, natürlich nicht jeden Wunsch erfüllen, um sie zu befrieden. Wir müssen antreten mit klassischen inhaltlichen, programmatischen Konzepten, die den Fortschrittsbegriff neu ausfüllen – damit die Leute sagen: Dafür lohnt es sich, mit dabei zu sein. Weder die Politik noch die Wissenschaft haben dazu bisher ausreichende Antworten.
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