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Die Glosse: Linke Stammtisch-Bewegung

Der deutsche Stammtisch ist eine Institution. Dort wird nicht Politik gemacht – aber Stimmung. Längst hat er die Wirtshäuser verlassen und ist ins Internet umgezogen. Hier wird einander zugepostet statt zugeprostet. Inzwischen gibt es Stammtischkönige neuen Typs, selbst in höchsten Staatsämtern. Der größte unter ihnen ist unbestritten Donald Trump, der seine digitale Twitter-SA gleich mehrmals am Tag zur Freude seiner fanatisierten Anhängerinnen und Anhänger losschickt.

In Deutschland unterhält zurzeit die AfD den größten digitalen Stammtisch, in dem nahezu wöchentlich zu einer zünftigen Wirtshausschlägerei aufgerufen wird. Dass sie Parlamente mit Wirtshäusern in eins setzt, ist übrigens Absicht.

Wenn es nach dem Willen von Sahra Wagenknecht geht, soll diesem Treiben endlich etwas Wirksames entgegengesetzt werden. Sie und ihre Freundinnen und Freunde rufen auf einer neuen Homepage dazu auf, eine linke Stammtischbewegung zu bilden. Die Aufforderung, die der Titel »#aufstehen« beinhaltet, erscheint eher eigentümlich, weil sich die Neugierigen erst einmal hinsetzen müssen, und zwar vor ihre eigenen Bildschirme, um sich in die Gästeliste einzutragen. Schon insoweit zeigt sich das Elend einer Initiative von oben, die eine soziale Bewegung sein möchte, aber eine digitale Stammtischangelegenheit ist. Die beklagte Tragödie, dass dem Neoliberalismus keine wirkliche Bewegung entgegentritt, wiederholt sich damit als Farce. Diese ist ein eigenwilliges, bisweilen derbes, jedenfalls komisches Lustspiel. Die dort auftretenden Figuren gleichen Epigonen einer versunkenen Welt, die in eine Zeit zurückwollen, die vor der Globalisierung und Europäisierung, vor der Auflösung des einfachen, weil bipolaren Denkens und vor dem Aufstieg neuer diktatorischer Mächte lag. Dies ist eigenwillig, weil es unhistorisch ist. Umso derber wird vom Leder gezogen: gegen Großkonzerne und Lobbyisten, gegen die Aufrüstung und die Agenda-Politik von Rot und Grün, Schwarz und Gelb. Zu kompliziert erscheint es, die realen Widersprüche unserer Zeit aufzulösen: den Widerspruch zwischen anhaltendem Wirtschaftsaufschwung, Konsolidierung der Staatsfinanzen und dem Abbau der Massenarbeitslosigkeit auf der einen Seite bei gleichzeitig wachsender Armut und steigender sozialer Ungerechtigkeit auf der anderen Seite; dass die NATO vor allem von den USA getragen wird, aber ein US-Präsident diese effektiver untergräbt als jede deutsche Friedensbewegung oder dass ein G20-Treffen in Deutschland massive Protestbewegungen auslöst, aber kein Besuch von Autokraten und Diktatoren.

Geradezu komisch wird es, wenn diejenigen, die sich seit vielen Jahren, manche seit Jahrzehnten, in Parlamenten und Parteipolitik aufhalten, nicht einmal ihre eigene Wirkungslosigkeit hinterfragen, ihre eigene Politik überprüfen oder gar an sich selbst zweifeln. Denn die Frage, warum eigentlich keine tragfähigen politischen Mehrheiten diesseits der CDU/CSU zustande gekommen sind, richtet sich längst auch an diejenigen, die sich darüber beklagen, dass sie nicht zustande gekommen sind.

Die Antwort darauf liegt auf der Hand: Diejenigen, die sich gern als (verlorene) Seelen der SPD, der GRÜNEN oder der Linkspartei darstellen, sind im eigentlichen Wortsinn Renegaten und Schismatiker. Renegaten, weil stets die anderen falsch liegen, aber sie immer recht haben. Schismatiker, weil sie bereit sind, notfalls die Linke ein weiteres Mal zu spalten, aber programmatisch mit immer denselben leeren Händen dastehen. Und weil sie niemals ihr eigenes politisches Scheitern einräumen werden. Denn scheitern tun immer nur die anderen. Indes scheuen sie vor diesem letzten Schritt der Abspaltung zurück, denn sie fürchten in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Es gibt aber zwei weitere, tiefere Gründe, warum eine solche linke Sammlung scheitern muss. Der erste klang bereits an. Die Sammlungsbewegung ist keine reale gesellschaftliche Bewegung, und sie bietet nichts Neues. Die Leidenschaft zu wecken, sich (wieder) an den öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen, hängt – wie bereits Hannah Arendt eindringlich beschrieben hat – mit der tatsächlichen Erfahrung eines Neuanfangs zusammen und dem Stolz darauf, dabei sein zu können. Das markiert aber in diesem Fall den Unterschied zwischen »La République en Marche!« und dem ziemlich spröden Charme von »#aufstehen«.

Der zweite Grund liegt in einem mangelnden Urteilsvermögen, dem ein völlig verengtes strategisches Konzept folgt. Der politische Schnitt, den die Sammler/innen machen, ist falsch angesetzt, nämlich links von der Union und abseits der Führungen von SPD, GRÜNEN und Linkspartei. Das große politische Beben findet innerhalb der Union statt. Das hat der mit konservativ-revolutionärer Rhetorik aufgeladene Streit um die Flüchtlings- und Europapolitik deutlich werden lassen. Nach dem großen Beben begann in der Unionsfamilie das große Zittern – um den Bestand der eigenen politischen Formation. Überall in Europa hat sich ein Parteiensystem längst aufgelöst, welches auf der Konkurrenz zwischen einer großen christ- und einer großen sozialdemokratischen Partei beruhte. In Deutschland dauerte dies nach 1989 bedeutend länger, weil die Union es verstanden hatte, die Konstellation des Kalten Krieges in die deutsche Innenpolitik zu verlängern und als gleichsam uneigennützig-konsequente Aufarbeitung der DDR-Geschichte auszugeben. Der Eigennutz der »Rote-Socken-Kampagnen« bestand darin, die eigene Anhängerschaft zu stabilisieren, indem man ihr ein mobilisierungsfähiges Feindbild verschaffte und damit für eine asymmetrische Lagerbildung sorgte. Tatsächlich verläuft die politische Lagerbildung jedoch mitten durch die Union, über die SPD und DIE GRÜNEN bis in die regierungsfreudigen Reihen der Linkspartei des Ostens. Die Unionspolitiker/innen, die einen Bruch mit Angela Merkel wollten, bemerkten alsbald, dass eine nach rechts abrückende Union unter dem Druck einer rechtspopulistischen Strömung ebenso rasch unter die Räder geraten kann wie die Konservativen in Frankreich. Denn sie hätte einen erheblichen Teil ihrer Anhänger/innen in die Wahlenthaltung oder gleich zur SPD und zu den GRÜNEN getrieben. Die »Bewegung Wagenknecht« kommt insoweit mit ihrem Projekt einer Stabilisierung der Union entgegen, indem sie ihre unspezifische Kritik an der Großen Koalition verschärft. Damit sorgt sie für eine Einigelung der Linken, nicht aber für deren Erneuerung und Ausweitung.

Und um der Klarheit willen muss noch ein dritter Grund für die zum Scheitern verurteilte Sammlungsbewegung benannt werden. Jede moderne europäische politische Bewegung, die die Gesellschaft veränderte, hatte sich mit der sozialen Frage zu beschäftigen und musste die Depravierten in den Blick nehmen und sie mitnehmen. Aber es waren nicht die Elenden und die Vernachlässigten, die eine solche Bewegung trugen. So ist es geblieben. Nicht die Hartz-IV-Empfänger/innen überwinden Hartz IV und nicht die/der vom Staat alleingelassene Alleinerziehende überwindet die Armutsfalle, so tapfer er bzw. sie für die Kinder und sich auch kämpfen mag. Diejenigen, die frei von Furcht und Not sind, die – um noch einmal auf Hannah Arendt zurückzukommen –, die Befreiung und Freiheit kennen, können und müssen eine neue Bewegung für soziale Gerechtigkeit tragen. Ein Appell, wie der von »#aufstehen« müsste sich also gerade auch an die nicht-depravierten Mittelschichten wenden.

 

Kommentare (1)

  • Deine mom
    Deine mom
    am 10.12.2020
    Schmutz zu lang

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