Wenn wir über Politik reden, dann meinen wir zumeist die große Politik, die in Berlin gemacht wird oder in Brüssel, bei den Vereinten Nationen in New York, auf G20-Gipfeln oder auf informellen Zusammenkünften wie beim »Weltwirtschaftsforum« in Davos oder bei der Sicherheitskonferenz in München. Dabei kann leicht aus dem Blick geraten, dass die kleine, die kommunale Politik nicht nur für die Organisation des Zusammenlebens der Menschen, sondern auch für die Einübung demokratischer Gepflogenheiten und damit für den Bestand unserer Demokratie von allergrößter Bedeutung ist.
Früher wurde die SPD gelegentlich mit einem geringschätzigen Unterton als »Bürgermeisterpartei« betitelt. Aber steckt darin nicht eher ein Kompliment? Tatsächlich stellt die SPD bis heute in Deutschland mit großem Abstand die meisten Oberbürgermeister und wird von den Bürgern in vielen Städten und Gemeinden immer noch als eine Volkspartei wahrgenommen, die in allen Schichten präsent ist, sich um die Menschen und ihre verschiedenen Bedürfnisse kümmert und als Mitmachpartei für die Impulse zivilgesellschaftlicher Initiativen offen ist.
Im zumeist fernen Berlin wird dies allerdings von den politischen Akteuren und von den Medien nur selten wahrgenommen. Dabei ist auch im Zeitalter der Globalisierung immer noch richtig, dass das tragende Fundament der Demokratie im Lokalen und Kommunalen liegt. Hier wird Demokratie eingeübt, hier spielt sich Politik anschaulich vor den Augen und Ohren der Menschen ab, hier bietet sie den Bürgern vielfältige Mitwirkungsmöglichkeiten, hier vor allem bildet sich jene demokratische »Lebensform« heraus, ohne die die Institutionen der Demokratie auf Dauer nicht bestehen können
Die Feinde der Demokratie, die rechtsextreme Szene und ihr parlamentarischer Arm, die AfD, haben schon seit längerem das kommunalpolitische Feld als strategisch bedeutsam ins Auge gefasst. Wenn in den letzten Jahren zunehmend Kommunalpolitiker demokratischer Parteien zur Zielscheibe von organisierten Hasskampagnen, von Morddrohungen und gewalttätigen Angriffen bis hin zu Mordanschlägen werden, wenn zunehmend ehrenamtliche Bürgermeisterstellen nicht mehr besetzt werden können, weil mögliche Kandidaten um ihr Leben fürchten, so muss dies als eine ernste Bedrohung unserer Demokratie angesehen werden. Zu Recht hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier kürzlich auf einem Treffen mit betroffenen Bürgermeistern festgestellt, dass dies »nicht Angriffe auf einzelne Personen sind, sondern, dass die Wurzeln der Demokratie angegriffen sind«.
Viel zu lange hat auch die SPD-Führung die Kommunalpolitik als bestenfalls nachrangig betrachtet. Im Zeitalter der Globalisierung schien es lange Zeit so, als komme es vor allem darauf an, die Wirtschaft, das Recht und das Institutionengefüge den neuen globalen Gegebenheiten anzupassen. Um den Standort Deutschland im globalen Wettbewerb zu stärken, wurden im vorauseilenden Gehorsam gegenüber dem internationalen Finanzkapital überall kommunale Eigenbetriebe privatisiert, wurden Wohnungen in öffentlicher Hand an private Investoren verkauft, Ausschreibungs- und Förderrichtlinien so verändert, dass die kommunalen Instanzen oft gar keine Chance mehr hatten, Daseinsvorsorge für die Bürger zu leisten, wie sie es als ihre Aufgabe ansahen.
Wer sich trotzdem in einen Gemeinde- oder Stadtrat wählen ließ, stellte nicht selten alsbald fest, dass ihm die Gegenstände weitgehend abhanden gekommen waren, über die er oder sie als gewählte Vertreter der Bürgerschaft eigentlich mitentscheiden wollten. Immer öfter traf so jemand nun auf einen Chef der kommunalen Stadtwerke oder eines andern Kommunalbetriebes, der auf Anfrage erklärte, er führe sein Unternehmen nach rein wirtschaftlichen Kriterien, sozial- oder umweltpolitische Forderungen seien daher unangebracht. Selbst in den Behörden wurden alle Abläufe nach der jeweils neuesten Managementideologie rationalisiert, was für die Arbeitenden zumeist zu zusätzlichem Stress führte und sich im Publikumsverkehr negativ auswirkte.
Inzwischen ist der Neoliberalismus, nicht zuletzt durch den vom ihm beförderten Klimawandel und die von ihm verursachte tiefe Spaltung in obszönen Reichtum auf der einen und bitterste Armut auf der anderen Seite, in Verruf geraten. Überall auf der Welt regt sich Widerstand, der auch in unseren Städten und Gemeinden für eine neue Politisierung sorgt. Neben den großen Themen der Europa- und Flüchtlingspolitik und der wachsenden Sorge um die Erhaltung des Friedens ist auch die Kommunalpolitik plötzlich wieder ein Gegenstand, der auch junge Menschen anzieht. Das Dorf, die Gemeinde erweisen sich als zivile Aktionsräume, in denen Vielfalt gedeiht und Neues ausprobiert wird. Und dieser Aktionsraum könnte noch weit produktiver sein, wenn die große Politik ihn endlich gebührend zur Kenntnis nähme und kommunale Aktivitäten stärker als bisher förderte.
Kein Zweifel, im Zeitalter der Globalisierung ist lokale, regionale, ja, auch nationale Autarkie nicht mehr denkbar. Eine erfolgreiche Kommunalpolitik ist nur möglich, wenn auf den übergeordneten Ebenen bis hinauf zur EU rechtliche, finanzielle und organisatorische Rahmenbedingungen geschaffen und erhalten werden. Was besonders bei der finanziellen Förderung kommunaler Projekte heute oft falsch läuft und was notwendig wäre, damit es besser läuft, kann man in dem faktenreichen Erfahrungsbericht Das Problem sind wir des Bürgermeisters der sächsischen Kleinstadt Augustusburg, Dirk Neubauer, von 2019 nachlesen.
Das Wichtigste ist: Die vertikale Kooperation zwischen den Kommunen, Landratsämtern, Landesregierungen, Bund und EU sollte auf keinen Fall auf immer mehr Zentralisierung hinauslaufen. Hoch zentralisierte Strukturen sind wegen der großen Menge zu verarbeitender Informationen besonders fehleranfällig, sie neigen dazu, von Ort zu Ort, von Gruppe zu Gruppe differierende Bedürfnisse an der Basis zu vernachlässigen oder zu verfehlen, sie haben zumeist erhöhte Transportkosten und Transportverluste zur Folge, verursachen, wenn etwas schief geht, wesentlich größere Schäden als dezentrale Strukturen und erfordern entsprechend einen extrem hohen Sicherheitsaufwand.
Um sicherzustellen, dass die Zusammenarbeit zwischen der kommunalen Basis und den übergeordneten Instanzen, die als Geldgeber und Kontrolleure unentbehrlich sind, besser funktioniert, als dies heute zumeist der Fall ist, ist es dringend erforderlich, sich auf eine genauere Bestimmung dessen zu einigen, was mit dem ansonsten in der föderalen Bundesrepublik und auch in den europäischen Verträgen prinzipiell anerkannten Subsidiaritätsprinzip gemeint ist. Meines Erachtens sind es vor allem drei Gesichtspunkte, die es hier zu beachten gilt:
Erstens sollte im Sinne des Subsidiaritätsprinzips den Städten, Gemeinden und Regionen grundsätzlich die Erledigung aller Aufgaben zugestanden werden, die sie in eigener Verantwortung und weitgehend mit eigenen Ressourcen erledigen können.
Zweitens sollten die nationalen Regierungen und die EU-Kommission stärker als bisher auf direkte vertikale Kooperation zwischen ihnen und den Städten, Gemeinden und Regionen setzen, wo dies zur Erfüllung wichtiger Aufgaben nötig und erwünscht ist.
Und drittens sollte bei dieser vertikalen Kooperation – besonders wenn Fördermittel zum Einsatz kommen – eher der finale Regelungstyp statt des konditionalen angewandt werden, d. h. die übergeordneten Instanzen sollten darüber wachen, dass das vereinbarte Ziel der jeweiligen Maßnahme in einem angemessenen Zeitraum und in rechtlich korrekten Verfahren erreicht wird. Die Mittel, mit denen dieses Ziel angestrebt wird, sollten sie ansonsten aber weitgehend offen lassen, damit je nach lokal oder regional vorhandenen Ressourcen, Erfahrungen und Gewohnheiten unterschiedliche Wege zur Erreichung des vorgegebenen Ziels eingeschlagen werden können.
Eine solche Übereinkunft könnte der kommunalen Demokratie wieder jene Bedeutung einräumen, die ihr als demokratischer Lebensform zukommt. »Die Erfahrung der vergangenen zwei Jahrzehnte zeigt«, schrieb Till van Rahden 2019 in Demokratie. Eine gefährdete Lebensform, »dass eine liberale Demokratie in die Krise gerät, wenn sie es versäumt, jene öffentlichen Räume zu pflegen, die es uns ermöglichen, Freiheit und Gleichheit zu erfahren, jene demokratischen Tugenden einzuüben, welche die Chance eröffnen, dass der leidenschaftliche Streit zur Grundlage des demokratischen Miteinanders wird.« Die SPD, die de facto ja immer noch ein wenig »Bürgermeisterpartei« ist, könnte wesentlich dazu beitragen, die für die Demokratie so wichtigen, aber in den letzten Jahrzehnten allzu oft vernachlässigten öffentlichen Räume wieder zu vielfältigem, eigen- und gemeinsinnigem Leben zu erwecken. Dazu aber müsste ihre Führung der Kommunalpolitik endlich einen höheren Stellenwert einräumen.
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