Es ist kein historischer Zufall, dass die dramatischen Ereignisse in der Ukraine gerade jetzt stattfinden, im Jahr 2022. Denn aus Sicht des Kreml schien die globale Konstellation sowohl bedrohlich als auch günstig zu sein. Bedrohlich, weil sich die Gewichte weiter in Richtung einer Systemrivalität zwischen den USA und China verschoben hatten, bei der Russland keine zentrale Rolle mehr spielen würde. Und günstig, weil das russische Regime ein geschwächtes und uneiniges westliches Bündnis vor sich glaubte, welches im Falle einer militärischen Operation machtlos bliebe. Beide Faktoren zusammen ließen Russlands Präsidenten handeln.
Tatsächlich hat Russland weder ökonomisch noch technologisch eine Bedeutung, die an jene des Westens oder Chinas heranreicht. Ob bei Innovationen, der Wirtschaftskraft oder Standortattraktivität: Mit einer Wirtschaftsleistung, die lediglich rund ein Fünftel jener der EU beträgt, ist der Abstand des Landes zu den anderen globalen Mächten enorm. Lediglich militärisch ist die Atommacht auf Augenhöhe, wenngleich der Krieg in der Ukraine auch demonstriert hat, dass die Modernisierung der russischen Streitkräfte offenbar noch nicht so weit fortgeschritten ist wie viele Beobachter angenommen hatten. So gab es insbesondere zu Beginn der Invasion gravierende Fehleinschätzungen der Kampfkraft des Gegners sowie strategische Mängel in der Kriegsführung.
Völlig unterschätzt hatte Moskau zudem die Fähigkeit der westlichen Länder und der NATO, einmütig und kraftvoll auf den russischen Angriffskrieg zu reagieren. Mit einer eindeutigen politischen Positionierung und massiven Sanktionen zeigte sich das Bündnis geschlossen. Mit der Entsendung zusätzlicher Truppen nach Europa haben die USA ihre Präsenz dort zudem wieder signifikant ausgebaut. Wie im Zeitraffer hat die russische Aggression so also manche Wunde geheilt, die dem Bündnis vor allem während der Präsidentschaft von Donald Trump zugefügt worden war. Der 45. amerikanische Präsident hatte eine Geringschätzung der NATO an den Tag gelegt, die sowohl die Glaubwürdigkeit der Allianz untergraben wie grundsätzlich die Stabilität des Bündnisses in Zweifel gezogen hatte.
Der Krieg gegen die Ukraine verändert gleichzeitig die strategische Landkarte. Da mit weiteren russischen Aggressionen gerechnet werden muss, werden die USA ihre Präsenz in Europa weiter vergrößern. Gleichzeitig scheint Europa aber nun erstmals fest entschlossen, sich in Fragen der Sicherheit nicht nur auf die Vereinigten Staaten verlassen zu wollen. Alleine die Entscheidung Deutschlands, den Wehretat massiv aufzustocken und die Bundeswehr aufzurüsten, dürfte Signalwirkung entfalten – was mittelfristig auch die USA entlasten dürfte. Im Ergebnis wird eine neue Sicherheitsarchitektur entstehen, in der Europa eine zentrale Rolle spielen und nicht mehr nur als Anhängsel der USA wahrgenommen werden wird.
All dem vorausgegangen sind tektonische Verschiebungen, die nicht etwa nacheinander, sondern gleichzeitig stattfanden. Erstmals in der jüngeren Vergangenheit befinden sich die drei größten globalen Akteure China, Russland und die USA parallel in tiefgreifenden Transformationsprozessen. Zwei davon haben sich klar einem autokratischen bis diktatorischen Weg verschrieben und der dritte Akteur, die USA, befindet sich auf einem unklaren Pfad.
Denn auch wenn der Krieg in Europa die politischen Dynamiken in den USA ändern sollte, so ist nicht ausgemacht, ob die Präsidentschaft von Joe Biden eine Abkehr vom Populismus des Donald Trump markiert oder lediglich eine Zwischenphase darstellt. Eine Antwort hierauf wird es erst bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024 geben. Doch schon jetzt steht fest, dass die USA, der zentrale Stützpfeiler liberaler Demokratie, nicht immun sind gegen Autoritarismus. Die Wahrheit ist: Die Jahre unter Donald Trump haben eindrücklich gezeigt, dass auch die amerikanische Demokratie kippen kann.
Steht das Ende der »Pax Americana« bevor?
Die Instabilität der USA kommt dabei zu einer Zeit, in der China nicht nur ökonomisch weiter in rasantem Tempo wächst. Das Land dominiert, greift aus und betreibt, wenn es sein muss, rücksichtslose Machtpolitik. Dies gilt nach innen wie nach außen. Im Inneren werden Kritiker und unliebsame Minderheiten unterdrückt, Hongkong wird gleichgeschaltet, es wird ein Sozialkreditsystem eingeführt, das Wohlverhalten belohnt und Unbotmäßigkeit bestraft und mehr denn je in den letzten 30 Jahren gilt das Primat der Partei. Präsident Xi Jinping, ein Leninist reinsten Wassers, lässt sich huldigen in einer Weise, die es seit Mao nicht mehr gegeben hat.
Dem Personenkult nach innen steht eine Politik nach außen gegenüber, die kaum weniger absolut auftritt. Peking arrondiert sein Terrain wo immer möglich, unverhohlen droht es Taiwan und erhebt Ansprüche im Südchinesischen Meer. In den 20 Jahren seiner Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation (WTO) hat es elementare Verpflichtungen missachtet. Ob es sich um unzulässige staatliche Subventionen handelt, um die anhaltende Verletzung geistigen Eigentums oder die Weigerung, bestimmte Märkte für ausländischen Wettbewerb zu öffnen. China folgt vor allem den eigenen Prioritäten.
Diese Prioritäten bleiben nicht auf China beschränkt. Schon vor Jahren hatten chinesische Vordenker wie der ehemalige chinesische Vize-Außenminister He Yafei das Ende der »Pax Americana« prophezeit. »Viele Länder, insbesondere Entwicklungsländer, haben sich zu fragen begonnen, ob das ›chinesische Modell‹ eine Alternative zum Neoliberalismus darstellt. Sollte es einen Pekinger Konsens anstelle des Washingtoner Konsenses geben?«, fragte He Yafei in einem Aufsatz.
Das war nichts weniger als ein unverhohlener Angriff auf die bestehende, vom Westen geprägte Weltordnung. Der sogenannte Washingtoner Konsens propagiert Freihandel, freie Wechselkurse und offene Märkte. Auf diesen Prinzipien beruht auch das Handeln von Institutionen wie der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds. Peking glaubt hingegen, dass ein Mix aus autoritärer Politik und kapitalistischer Wirtschaft die besseren Wachstumsraten produziert.
Die USA, die China als einen »pacing threat« beschreiben, eine Herausforderung, die wächst und simultan auf vielen Feldern auftritt, haben ihre liebe Not mit dem neuen Konkurrenten. Technologisch rückt China immer mehr an die USA heran, auch militärisch und ökonomisch. Von China fühlen sich die USA angegriffen wie von keinem Land zuvor. Es geht nicht mehr alleine um Atombomben, Militär und einen Wettlauf im All, wie das noch bei der Sowjetunion der Fall war. Bei China geht es um mehr: um eine Vormachtstellung umfassender, grundsätzlicher Art. Es geht darum, wer die Werte und Normen der Zukunft bestimmt. Deshalb sind die USA so nervös und fast schon obsessiv auf China ausgerichtet. China lässt sich weder aussitzen noch ökonomisch niederringen. Mit China spielt ein Gegner erstmals wieder in der gleichen Liga wie die USA.
Und diese USA sind verletzlich wie nie. Die Jahre der Präsidentschaft von Donald Trump haben massiv das Vertrauen in den Glauben erschüttert, dass sich das Land selbst aus dem Sumpf ziehen kann. Mit Baustellen überall: Wahlgesetzen, die die Manipulation von Wahlbezirken erlauben und ein obskures Wahlmännergremium über den Volkswillen stellen; einem Abgeordnetenhaus, das alle zwei Jahre und damit viel zu oft gewählt wird; einem Senat, der nicht nach Bedeutung sondern nach überkommener Parität besetzt ist und in dem ein Mini-Staat wie Wyoming genauso viel zu sagen hat wie Kalifornien; einem Obersten Gerichtshof, dessen Mitglieder ähnlich dem Papst in Rom nur durch Tod oder Rücktritt ausscheiden können; sowie einer Verfassung, die wie in Stein gemeißelt unveränderbar scheint. Die Liste ließe sich noch problemlos verlängern.
Doch erst in einer Zeit tiefer gesellschaftlicher Zerrissenheit und politischer Lagerbildung entfalteten diese Strukturprobleme ihre ganze destruktive Kraft. Solange Republikaner und Demokraten noch Wege der Kooperation fanden, schienen die Hürden überwindbar. Doch das ist vorbei und nicht erst seit Donald Trump. Er hat lediglich als Brandbeschleuniger einer Entwicklung gewirkt, die unter dem republikanischen Mehrheitsführer im Kongress, Newt Gingrich, bereits in den 90er Jahren richtig in Fahrt gekommen war. Seitdem wird vor allem gegeneinander und nicht miteinander gearbeitet, über den politischen Gegner werden Mistkübel ausgeschüttet, sekundiert durch Kabelsender und soziale Medien. »Confirmation Bias« ist das buzzword dieser Zeit in den USA, mit dem zu erklären versucht wird, was gerade in der Gesellschaft vor sich geht. Regionalzeitungen verschwinden oder sind bedeutungslos und treiben die Menschen in Echoräume, in denen sie vor allem ihre eigene Meinung bestätigt finden.
Obwohl all diese Probleme auf dem Tisch liegen, obwohl sie offen diskutiert werden und etwa im Fernsehen Sendungen mit dramatischen Titeln wie »Demokratie in Gefahr« laufen, kann sich das Land nicht zu einer gemeinsamen Anstrengung aufraffen. Wie das Kaninchen vor der Schlange sitzen die USA im Warteraum vor den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024, spielen mögliche Horrorszenarien durch. Wie lange würden die demokratischen Institutionen eine weitere Amtszeit von Trump noch aushalten? Wann wären Justiz, Medien, Wahlkommissionen gleichgeschaltet? Würde Trump nach weiteren vier Jahren im Weißen Haus überhaupt zurücktreten?
Die politische Schwäche des Westens
Diese in weiten Teilen paralysierten USA bieten so viele offene Flanken, dass das brutale Machtspiel Wladimir Putins mit der Ukraine keine Überraschung ist. Russland nutzt die politische Schwäche des Westens aus, um die Grenzen der eigenen Einflusssphäre auszudehnen. Putin will das, was er als historische Fehler betrachtet, korrigieren indem er selbst die Geschichte umschreibt, wie in seinen Betrachtungen über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, die Rechtfertigung des Hitler-Stalin-Pakts und seine Schuldzuweisungen an Polen. Indem er jeden im Inneren mundtot macht, der Kritik übt oder der, wie die Menschenrechtsorganisation Memorial, an stalinistisches Unrecht erinnert. Oder indem er eben die russische Militärmaschine in Gang setzt.
Von jenem Wladimir Putin, der 2001 in Berlin vor dem Bundestag auf Deutsch noch eine leidenschaftliche Rede über Kooperation und Integration hielt, bis zum russischen Autokraten, der annektiert, einmarschiert und die Diktatoren und Schurken dieser Welt umarmt, war ein bemerkenswert kurzer Weg. Es ist dabei im Übrigen müßig darüber zu sprechen, was Moskau einst vom Westen versprochen wurde oder nicht. Selbst wenn es gebrochene Versprechen geben sollte, nichts davon rechtfertigt Wladimir Putins Wende zum Despoten und Kriegstreiber.
Es ist diese Welt, in der sich Deutschland und Europa wiederfinden, die sich eigentlich so gerne anderen Fragen zuwenden möchten: dem Kampf gegen den Klimawandel, der Fortschreibung der Energiewende, dem Abbau sozialer Ungerechtigkeit. Nur: Die Realität ist eine andere. Es verschieben sich die Prioritäten. Jetzt geht es um die Sicherung von Grenzen, um Verteidigung, um militärische Fähigkeiten, um Solidarität mit bedrohten Nachbarn, um Allianzen, und eben auch ums Überleben. Die verteidigungspolitische Kehrtwende Berlins nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ist dabei nur der Anfang. Der Sicherheitspolitik werden auch andere Felder untergeordnet werden, ob es sich dabei um den Außenhandel, die Energiewirtschaft oder technologische Abhängigkeiten handelt.
Die Welt erlebt eine nicht für möglich gehaltene Trendumkehr. Autoritarismus wird nicht nur wieder salonfähig, Autokraten werden gar von großen Teilen der jeweiligen Gesellschaft getragen und kommen durch Wahlen an die Macht – wie frei man diese auch immer nennen mag. Es scheint, als wenn demokratische Freiheiten schrittweise an Bedeutung verlieren und vergessen wird, unter welchen Opfern diese im letzten Jahrhundert errungen wurden. Nur: Kann der Krieg in der Ukraine ein Umdenken bewirken? Kann die Brutalität dieses Angriffskrieges eines Despoten das notwendige Gegenmittel gegen die vermeintliche Attraktivität autoritärer Systeme sein?
Aus dieser Vielstimmigkeit sind die langen Linien nur schwer herauszulesen. Können sich die demokratisch verfassten Gesellschaften gegen die Erosion von innen erfolgreich wehren? Lassen sich die Autokraten zurückdrängen? Lassen sich in einer Phase, in der der Westen unter massiven Druck geraten ist, Systeme überhaupt modernisieren – oder vielleicht gerade dann? In den USA glaubten die Optimisten, dass es die existenzielle Krise geradezu braucht, um eine lagerübergreifende Einsicht in das Notwendige zu schaffen. Mit dem Krieg in der Ukraine ist diese Krise nun womöglich schneller gekommen als erwartet.
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