Wir wurden in den letzten Jahren mit einer Reihe von Schockwellen konfrontiert: zuerst die globale Finanzkrise, dann Kriege und Unterentwicklung, die größere Migrationsströme auslösten, der sich verschärfende Klimawandel, zuletzt eine beispiellose Pandemie, die eine neue wirtschaftliche Rezession mit sich brachte, und aktuell ein explosiver militärischer Konflikt mit der Gefahr, einen Dritten Weltkrieg zu entfachen. Vor diesem Hintergrund sind die Europäische Union und die Vereinten Nationen stärker denn je aufeinander angewiesen, um ihre Versprechen einzulösen.
Nach der Ablösung von Donald Trump durch Joe Biden in den USA und vor dem Krieg in der Ukraine gab es eine neue Hoffnung, der Multilateralismus könnte wiederbelebt werden. UN-Generalsekretär Antonio Guterres stellte nach seiner Wiederwahl an der Spitze der Vereinten Nationen eine neue gemeinsame Agenda vor. Gleichzeitig begann die Europäische Union, Instrumente für eine Stärkung der eigenen Souveränität in den Bereichen Haushalt, Wirtschaft, Soziales und Umwelt zu entwickeln und sich als politische Einheit zu präsentieren, die ein vitales Interesse daran hat, ein multilaterales System auf globaler Ebene zu verteidigen und zu erneuern, und den Aufbau einer globalen Koalition von Verbündeten voranzutreiben.
Diese Hoffnung basierte auf der Erarbeitung eines dritten Szenarios, das über die beiden vorhandenen hinausgeht:
Das erste wäre eine Art Wiederbelebung des Westens, insbesondere aufgrund der Ablösung von Trump durch Biden in den USA. Dadurch mag sich an der amerikanischen Einstellung in Handelsfragen nicht viel ändern, die amerikanische Haltung gegenüber Klima- oder Menschenrechtsstandards wird aber sicherlich eine andere sein, auch wird es dadurch zu einem erneuerten amerikanischen Engagement im UN-System kommen.
Das zweite Szenario erkennt an, dass wir jetzt in einer neuen Welt leben, und das Wahrscheinlichste wäre die fortschreitende Fragmentierung der derzeitigen globalen Ordnung und die Herausbildung einer polyzentrischen Struktur mit Einflusszonen, einschließlich jener, die mit China verbunden ist. Diese unterschiedlichen Pole und Einflusszonen könnten auch dazu neigen, sich stärker nach innen zu wenden und ein geschwächtes multilaterales System dann nur für ihre speziellen Bedürfnisse zu nutzen.
Aus diesem Grund ist ein drittes Szenario erforderlich und der richtige Weg: die Erneuerung der internationalen Zusammenarbeit mit einem Multilateralismus für das 21. Jahrhundert. Die Chancen für ein solches Szenario hängen vom Aufbau einer großen Koalition von Kräften ab, die bereitwillige Staaten, regionale Organisationen, zivilgesellschaftliche Einheiten unterschiedlicher Art und auch willige Bürgerinnen und Bürger überall auf der Welt umfasst, selbst unter autoritären und anti-multilateralen politischen Regimen. Dies wäre eine globale Koalition fortschrittlicher Kräfte, die auf einen stark engagierten Kern sowie auf ein variables Zusammenspiel entsprechend den unterschiedlichen Zielen zählen könnte.
Daher war die von den Sozialdemokraten und insbesondere von der SPD vorgeschlagene »Allianz der Multilateralisten« ein guter Ausgangspunkt, um das Risiko einer großen Spaltung der Welt zwischen den konkurrierenden Führungen der USA und Chinas zu verhindern. Jetzt, da sich der russische Krieg gegen die Ukraine mit gravierenden Auswirkungen auf die europäische und globale Ordnung entfaltet, sollten wir fragen, wie weit er den Weg behindern kann, den diese progressiven Akteure zu eröffnen versuchten. Doch zunächst sollen die Brücken identifiziert werden, die zwischen der gemeinsamen Agenda der Vereinten Nationen und der europäischen Agenda bestehen.
Die Dilemmata der Europäischen Union
Zunächst einmal hat der internationale Kampf gegen COVID den One-Health-Ansatz gestärkt und die Interdependenz eines gesunden Lebens für die Menschheit aufgezeigt. Der Zugang zu Impfungen wurde als neues öffentliches Gut wahrgenommen, aber es gibt noch viel zu tun, um die weltweite Verfügbarkeit für eine vollständige Kontrolle der Pandemien sicherzustellen. Die Europäische Union hat ihre Kapazität zur internen Koordinierung und externen Zusammenarbeit verbessert, zögert jedoch bei der Unterstützung des Aufbaus von Kapazitäten und des Zugangs zu Rechten des geistigen Eigentums in den Entwicklungsländern. Die EU könnte bald vor dem Dilemma stehen, sich für die nächste Booster-Impfung der eigenen Bevölkerung zu entscheiden, anstatt sich stärker um globale Solidarität zu bemühen.
Das gleiche Dilemma für die Europäische Union zeigt sich beim Klimawandel. Bei der letzten Weltklimakonferenz in Glasgow war es möglich, das Regelwerk zur Umsetzung des Pariser Abkommens zu genehmigen, aber es war nicht möglich, den Global Green Fund zu stärken, um eine Anpassung und eine Verminderung der Treibhausgasemissionen in Entwicklungsländern zu unterstützen. Die Europäische Union hat sich nun verpflichtet, ihre Dekarbonisierung voranzutreiben, aber der Erfolg wird von ihrer Fähigkeit abhängen, denselben Trend auch im Umgang mit Entwicklungsländern zu unterstützen. Letztlich wäre dies eine Bedingung für den Erfolg beim European Green Deal und dem neuen Paket Fit for 55.
Und das gleiche Dilemma gibt es bei der Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals; SDGs) und der Agenda 2030 der Vereinten Nationen. In der Europäischen Union konnte der sogenannte Europäische Semesterprozess zur Koordinierung der nationalen Politiken der Mitgliedstaaten bei Sparmaßnahmen in Richtung einer Erholung und Resilienz und einer stärkeren Ausrichtung an den SDGs übergehen.
Diese nationalen Pläne werden durch eine stärkere europäische Haushaltskapazität unterstützt, die auf gemeinsame Schuldenprobleme und neue Steuerquellen setzt. Es fehlt jedoch noch ein qualitativer Sprung, wenn es darum geht, Entwicklungsländer mit erheblichen Mitteln zu unterstützen, damit diese in die SDGs investieren. Das offensichtlichste Beispiel ist die aktuelle Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und Afrika. Darüber hinaus sollten die EU-Handelsabkommen aktiver zur Förderung der SDGs genutzt werden.
Auch die digitale Transformation ist ein Politikfeld, auf dem die Brücke zwischen der UN und der EU sehr fruchtbar werden kann. Die UN fördert einen Global Digital Compact, um das Beste aus digitalen Lösungen zur Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung herauszuholen. Aus ihrer Sicht kämpft die Europäische Union darum, einen eigenen Weg der Digitalisierung zu definieren, der sich von dem amerikanischen und dem chinesischen unterscheidet. Die Unterschiede können sehr relevant sein, vor allem, weil der europäische Weg besonders darauf ausgerichtet sein sollte, bessere Produkte und Dienstleistungen bereitzustellen, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen, und den universellen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen sicherzustellen. Dies erfordert, dass ihre Neuorganisation durch Umschulungsanbieter und -nutzer und durch die Entwicklung von Algorithmen für künstliche Intelligenz im Einklang mit europäischen Werten unterstützt wird.
Ein weiterer markanter Unterschied betrifft den Schutz der Privatsphäre, der gerade bei den großen digitalen Plattformen in ein anderes Geschäftsmodell übersetzt werden sollte – ganz im Sinne der europäischen Tradition eines regulierten Kapitalismus. Ebenso sollte sichergestellt sein, dass die grundlegenden Arbeitnehmerrechte eingehalten werden, einschließlich einer sozialen Absicherung. Schließlich besteht ein weiterer großer Unterschied bei der Besteuerung, da die Europäische Union über die Bedingungen einer koordinierten Digitalsteuer diskutiert, die über die kürzlich auf internationaler Ebene vereinbarte Mindestkörperschaftssteuer hinausgeht.
Der im September 2021 veröffentlichte Bericht Our Common Agenda der Vereinten Nationen schlägt zwei Schlüsselkonzepte zur Verbesserung der globalen Governance vor: einen neuen Gesellschaftsvertrag und einen neuen Global Deal. Ein neuer Gesellschaftsvertrag sollte sowohl arbeitsmarktrechtliche Regelungen als auch einen Sozialschutz beinhalten, um den inneren Zusammenhalt auf nationaler Ebene zu gewährleisten. Innerhalb der Europäischen Union gibt es derzeit relevante Bestrebungen, um die kürzlich proklamierte europäische Säule sozialer Rechte umzusetzen.
Dies ebnet den Weg für ein neues soziales Europa, das nicht nur auf Politiken für den wirtschaftlichen, sozialen und regionalen Zusammenhalt basiert, sondern auch auf die Schaffung von Grundlagen für eine europäische Bürgerschaft abzielt. Dazu gehören Grundrechte wie Mindestlohn, Mindesteinkommen, Zugang zu lebenslangem Lernen, Kündigungsschutz im Krisenfall, Kindergarantie (Jedes Kind in Europa, das von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht ist, hat Zugang zu den grundlegendsten Rechten wie Gesundheitsversorgung und Bildung), Jugendgarantie (Instrument zur Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit) und Work-Life-Balance.
Das Konzept des New Global Deal der Vereinten Nationen zielt darauf ab, diesen Gesellschaftsvertrag auf die globale Ebene zu übersetzen, um die Kluft zwischen Entwicklungsländern und entwickelten Ländern zu verringern. Eine Lehre könnte aus den europäischen Erfahrungen gezogen werden: Der Abbau sozialer Ungleichheiten hängt zuallererst von den Bemühungen jedes einzelnen Landes in Richtung guter Regierungsführung, der Bekämpfung von Missmanagement und Korruption und der internen Umverteilung von Reichtum ab. Aber Entwicklungsländern sollten auch bessere Chancen eingeräumt werden, etwa durch die Förderung von fairem Handel, fairer globaler Besteuerung, Schuldenerlass und dergleichen mehr, insbesondere, wenn sich diese Länder wirklich bemühen, die Ziele für nachhaltige Entwicklung umzusetzen.
Trotz einiger Mängel ist es also möglich, zwischen der Agenda der Vereinten Nationen und jener der Europäischen Union wichtige Brücken und Synergien zu identifizieren.
Nun zur schwierigen Frage, inwieweit der Krieg in der Ukraine dieses Potenzial zerstören kann, indem er eine neue globale und eine neue europäische Ordnung hervorbringt, die von einer Fragmentierung und Konfrontation der Großmächte geprägt ist?
Dies wird nicht zuletzt von der Fähigkeit der Europäischen Union abhängen, an den verschiedenen Fronten zu reagieren und zu agieren: Da ist zunächst der humanitäre Bereich; hier muss der Katastrophenschutz für Flüchtlinge gestärkt und ein europäisches Asylsystem geschaffen werden. Zweitens muss die EU ihre Verteidigungskapazitäten stärken einschließlich Friedenserhaltung und Friedenskonsolidierung, wie dies der verabschiedete strategische Kompass der EU in Abstimmung mit der NATO vorsieht. Dies sollte natürlich auch die Cybersicherheit einbeziehen. Drittens sollte Russland mit finanzpolitischen und wirtschaftlichen Mitteln unter Druck gesetzt werden, um ein Waffenstillstandsabkommen zu erzwingen.
Dennoch zeichnet sich ab, dass die stärkste Waffe, die Europa gegenüber Russland einsetzen kann, darin besteht, seine Abhängigkeit von Kohle, Öl und Gas drastisch zu reduzieren. Auch deshalb muss Europa den Umstieg auf erneuerbare Energien forcieren.
Schließlich wird die Fähigkeit, Kriegszeiten zu überstehen und für eine dauerhafte Friedenslösung zu kämpfen, von der europäischen Fähigkeit abhängen, den inneren sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten und die finanziell schwächsten Bevölkerungsgruppen aktiv vor dem Anstieg der Energie-, Nahrungsmittel- und Lebenshaltungskosten zu schützen, wenn sich eine Stagflation abzeichnet.
Darüber hinaus sollte sich die Europäische Union als globale politische Akteurin organisieren, die in der Lage ist, das internationale Spiel zu beeinflussen, indem sie auf eine regelbasierte Global Governance drängt und die multilateralen Institutionen sichert. In der aktuellen Situation ist es entscheidend, das von Putin geführte Russland zu isolieren, eine breite Koalition von Kräften aufzubauen und andere Zögerliche wie China zu neutralisieren.
Es scheint, als könne der traditionelle Ansatz des Westens in die Irre führen: Wir befinden uns in einer neuen Weltlage, und wenn wir wollen, dass das multilaterale System eine Zukunft hat, müssen wir eine weitaus größere Koalition schmieden, eventuell mit variablen Konstellationen. Dies gilt auch deshalb, weil es zwingende Herausforderungen für die gesamte Menschheit gibt, der sie sich nur durch eine integrative Global Governance stellen kann.
Während wir unsere Anstrengungen zur Wiederherstellung des Friedens auf dem europäischen Kontinent verdoppeln, sollten wir immer ein Ziel im Blick behalten: das multilaterale System zu bewahren, um die notwendigen Voraussetzungen für die Umsetzung unserer gemeinsamen Agenda zu schaffen.
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