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Demoskopische Befunde zur politischen Stimmung in Zeiten multipler Krisen Die großen neuen Sorgen

Geahnt haben es Politik und Bevölkerung schon im letzten Jahr, dass in der neuen Legislaturperiode größere Probleme zu bewältigen sein dürften als in der vorausgegangenen. Zu groß war der Handlungsdruck vor allem in den Bereichen Klimawandel, Digitalisierung und Entbürokratisierung, als dass ein Weiter-so erfolgversprechend gewesen wäre. Keine Partei vermochte aber ein stimmiges Gesamtkonzept zur Lösung aller Probleme vorzulegen. Entsprechend groß war die Volatilität vor der Bundestagswahl 2021.

Zu Beginn des Wahljahres lag die Union noch klar vorne, dann kurzzeitig die Grünen, dann wieder die Union, und am Ende hatte zur Überraschung (fast) aller die SPD die Nase vorne, nicht zuletzt weil Olaf Scholz, anders als seine beiden Kontrahent/innen, Erfahrung in Sachen Krisenbewältigung vorweisen konnte. Als einzig mehrheitsfähig erwies sich am Ende eine Koalition aus den erstarkten Grünen und der FDP, die auf den ökologischen Umbau der Wirtschaft beziehungsweise einer Modernisierung des Staates drängten, sowie der SPD, die die Bürger vor allem vor gravierenden sozioökonomischen Folgen schützen sollte.

Schon im Titel ihres gemeinsamen Regierungsprogramms »Mehr Fortschritt wagen« wurde deutlich, dass sich die drei Partner der mit der Regierungsverantwortung verbundenen Herausforderungen bewusst waren, denn schon die Coronapandemie, die Überschwemmungskatastrophe im Westen der Republik und der überstürzte Rückzug der NATO aus Afghanistan waren überdeutliche Belege dafür, dass Deutschland in vielerlei Hinsicht nicht mehr auf der Höhe der Zeit agierte.

Weder Politik noch Wählerschaft aber konnten zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass die im Herbst 2021 bereits erkennbaren Probleme allenfalls einen Vorgeschmack liefern würden auf das dann im Frühjahr auf sie einstürzende Krisenszenario. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und in dessen Gefolge Energiekrise, Inflation und Flucht bilden zusammen mit dem Klimawandel ein Bedrohungsszenario mit noch unabsehbaren Folgen.

Den Deutschen war sehr schnell klar, dass der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands die Friedensordnung in Europa massiv infrage stellt mit möglicherweise auch gravierenden Auswirkungen auf die eigene Lebenssituation. Acht von zehn Bundesbürgern rechneten laut ARD-DeutschlandTREND 4/22 von Infratest dimap unmittelbar nach dem russischen Überfall mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation auch in Deutschland, drei von vier mit Einschränkungen in der Energieversorgung und zwei von drei hielten sogar eine Ausweitung des Krieges auf ganz Europa für denkbar.

Vor diesem Hintergrund benannten 37 Prozent der Bundesbürger den Krieg in der Ukraine als wichtigstes Problem, um das sich die deutsche Politik vordringlich kümmern sollte, es folgten der Anstieg der Lebenshaltungskosten (23 Prozent), der Klimawandel und die soziale Gerechtigkeit (22 Prozent). Die lange Zeit dominierende Sorge um die Folgen der Coronapandemie spielte kaum mehr eine Rolle (ARD-DeutschlandTREND 6/22).

Je länger aber der Krieg dauerte, desto stärker rückten dessen direkten und indirekten Folgen für die eigene Lebenssituation in den Vordergrund. Im Oktober 2022 machen sich die Deutschen vor allem Sorgen um eine drohende Energiekrise (49 Prozent) und den massiven Anstieg der Lebenshaltungskosten (40 Prozent), der Krieg selbst, den immerhin noch gut jeder Vierte als vordringliches Problem unserer Zeit anführt, folgt an dritter Stelle.

In den drei Jahrzehnten nach der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten waren die Deutschen mit einer Reihe von Krisen konfrontiert, aber zu keinem Zeitpunkt war die Verunsicherung in der Bevölkerung größer als heute. Dem ARD-DeutschlandTREND zufolge erreichte der Anteil derer, die mit Beunruhigung in die Zukunft blicken, im Oktober mit 85 Prozent einen neuen Höchststand. Kein Wunder, sind doch im Unterschied zu früheren Krisen die Folgen der Energiekrise und der drastische Anstieg der Lebenshaltungskosten für alle unmittelbar spürbar. Knapp zwei Drittel der Bundesbürger gaben im August an, dass die aktuellen Krisen ihr Leben stark (15 Prozent) oder zumindest etwas beeinflussen (47 Prozent).

Zum Vergleich: In der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009 berichtete nach Untersuchungen des Instituts für Demoskopie Allensbach nur jeder Vierte von unmittelbaren Auswirkungen auf die eigene Lebenssituation. Für die kommenden zehn Jahre rechnet jeweils eine klare Mehrheit mit weiteren Einschränkungen, etwa in der Alters- und Gesundheitsversorgung (83 Prozent), dem Sinken des allgemeinen Wohlstands in Deutschland (78 Prozent), einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit (78 Prozent), sowie mit einer Zunahme gesellschaftlicher Spannungen (79 Prozent). Erstmals scheint der Gründungsmythos der Bundesrepublik, das identitätsstiftende Konzept der »Wohlstandsgesellschaft« in Gefahr.

Ein Lebensbereich fehlt in dieser Auflistung: die Sorge um den eigenen Arbeitsplatz, die nach der Wiedervereinigung bis Mitte der Nullerjahre durchweg die Problemagenda der Deutschen dominierte. Wie die Große Koalition in der Finanz- und Wirtschaftskrise und während der Coronapandemie reagierte auch die Ampelkoalition bemerkenswert früh, zielgenau und effektiv auf das heraufziehende Krisenszenario auf dem Arbeitsmarkt: Der Mindestlohn wurde erhöht, das Kurzarbeitergeld bis 2022 verlängert, in Not geratene Firmen erhielten finanzielle Unterstützung.

Dies dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass aktuell nur jeder fünfte Beschäftigte sich derzeit sehr große (sechs Prozent) oder große Sorgen (13 Prozent) um seinen/ihren Arbeitsplatz macht (ARD-DeutschlandTREND 10/22 von Infratest dimap). Bei der Sicherheit des eigenen Arbeitsplatzes ist allerdings eine ausgeprägte soziale Schieflage zu verzeichnen. In den höheren Einkommensgruppen (über 3.500 Euro Monatseinkommen) plagen nur jeden Zehnten derlei Sorgen, in den unteren Einkommensschichten (unter 1.500 Euro) fast jeden Zweiten (42 Prozent).

Die Tatsache, dass Bürgerinnen und Bürger mit einem höheren sozialen Status ungeachtet aller Widrigkeiten eher optimistisch (42 Prozent) als pessimistisch (35 Prozent) in die Zukunft blicken, in den unteren sozialen Schichten dagegen die pessimistische Zukunftssicht laut Institut für Demoskopie Allensbach klar überwiegt (72 Prozent gegenüber 14 Prozent), deutet auf eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft hin.

Hoher Erwartungsdruck

Mit Umfang und Dringlichkeit der wahrgenommenen Probleme stiegen naturgemäß auch die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an die Politik. Schon vor der Bundestagswahl 2021 hielten immerhin 40 Prozent der Wahlberechtigten einen grundlegenden Wandel der Politik für dringend erforderlich – seinerzeit vor allem zur Eindämmung des Klimawandels. Eine knappe Mehrheit (51 Prozent) bejahte grundsätzlich die Notwendigkeit von Veränderungen, dachte dabei aber eher an »Kurskorrekturen«. Mit dem Status quo zufrieden waren nur ganze sechs Prozent der Deutschen, die wollten, »dass im Wesentlichen alles so bleibt, wie es ist« (ARD-Wahlreport von Infratest dimap zur Bundestagswahl 2021).

Mit dem Ukrainekrieg wurde rasch klar, dass wesentliche Grundlagen der deutschen Außen-, Sicherheits- und Energiepolitik quasi über Nacht massiv infrage gestellt wurden. Wohl nie zuvor stand die Bundesrepublik vor vergleichbaren Herausforderungen, nie eine gerade neu gewählte Regierung und ihre Spitzenpolitiker/innen vor einer derart massiven und drängenden Bewährungsprobe. Und nie war es wichtiger, die schwierigen getroffenen Entscheidungen einer stark verunsicherten Bevölkerung überzeugend zu vermitteln.

Anfangs wurde die Politik dem hohen Erwartungsdruck weitgehend gerecht. Die Bundesregierung reagierte schnell und entschieden auf den Überfall Russlands. Bereits drei Tage nach Kriegsbeginn kündigte der Bundeskanzler in einer vielbeachteten Regierungserklärung eine radikale Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik an. Zudem unternahm die Bundesregierung erhebliche Anstrengungen, um die absehbaren Folgen der westlichen Sanktionspolitik gegen Russland abzufedern.

Dieser als »Zeitenwende« bezeichnete Politikwechsel stieß in der deutschen Bevölkerung auf große Zustimmung, insbesondere die darin zum Ausdruck gebrachte Unterstützung der Ukraine und ihrer Bürger/innen in ihrem Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit. Die zuvor leicht gesunkenen Zustimmungswerte für die Ampel stiegen wieder an und lagen im März deutlich über den Zustimmungswerten der Großen Koalition im Sommer/Herbst letzten Jahres. Drei von vier Wahlberechtigten bewerteten die Arbeit der Scholz-Regierung als »gut« (Polit-Barometer 3/22 der Forschungsgruppe Wahlen).

Positiv beurteilt wurde zu diesem Zeitpunkt auch die Arbeit der wichtigsten Protagonisten der neuen Bundesregierung. Im weiteren Verlauf des Ukrainekrieges verloren der Kanzler und seine Mitstreiter jedoch zunehmend an Zustimmung. Das lag nicht zuletzt an der von vielen als widersprüchlich wahrgenommenen Haltung der Regierung und vor allem des Bundeskanzlers gegenüber der Ukraine. Zwar wurde die pragmatische und zurückhaltende Positionierung des Kanzlers in diesem Konflikt mehrheitlich positiv bewertet, seine Weigerung, die Ukraine auch durch die Lieferung von Panzern zu unterstützen, sorgte aber zunehmend für Streit in der Koalition.

Für großen Unmut sorgten vor allem die als unzureichend erachteten Maßnahmen zur Linderung der Kostenexplosion für Bürgerschaft und Unternehmen. Das umstrittene und am Ende auch gescheiterte Projekt einer »Gasumlage« beschädigte vor allem den Ruf des bis dahin wegen seiner offenen Kommunikation hochgeschätzten Wirtschaftsministers Habeck.

Hinzu kamen öffentlich ausgetragene Konflikte innerhalb der Koalition, etwa über den Weiterbetrieb von Atomreaktoren oder den künftigen Kurs gegenüber China. Erst das von der Regierung in Aussicht gestellte Maßnahmenpaket zur Abfederung des Kostenanstiegs vor allem im Energiebereich – Stichwort »Gaspreis- und Strompreisbremse« – trug wieder etwas zur Aufhellung der Stimmung bei, mehrheitlich begrüßt wurde auch die verlängerte Nutzung der drei noch betriebenen Atomkraftwerke.

Laut ZDF-Politbarometer stieg das Ansehen der Bundesregierung im Oktober wieder leicht an (von –0,2 auf 0,1 auf einer Skala von –5 bis +5), und auch die Zustimmungswerte von Scholz (+0,9), Baerbock (+0,9) und Habeck (+0,8) legten etwas zu, nur die des Finanzministers stagnierten bei –0,1 (Politbarometer 10/22 der Forschungsgruppe Wahlen). In den Umfragen verlor allerdings die Ampel ihre Mehrheit, da insbesondere SPD und FDP spürbare Stimmenverluste verzeichneten, die durch leichte Gewinne der Grünen nicht ganz ausgeglichen wurden.

Sinkende Zustimmungswerte für eine Regierung sind aber zu Beginn einer Legislatur nichts Ungewöhnliches, erfordert doch die Bildung einer Koalition von allen Partnern Zugeständnisse, worauf viele ihrer Wähler/innen mit Enttäuschung reagieren. Besorgniserregender erscheint aber der Befund eines schleichenden Vertrauensverlustes in die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung und in das Funktionieren der Demokratie, wie ihn eine aktuelle Umfrage der Bertelsmann Stiftung ausweist. Demnach sind nur 47 Prozent der Bundesbürger zuversichtlich, dass die Bundesregierung in der Lage ist, die drängendsten Probleme des Landes anzugehen, 53 Prozent bezweifeln dies. Und nur noch 54 Prozent äußern ihre Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland – im März waren es noch 66 Prozent.

Grund zur Sorge, nicht zur Beunruhigung

Das Funktionieren der Demokratie mag derzeit in Zweifel stehen, nicht aber die Demokratie als Staatsform. Unverändert sind knapp neun von zehn Wahlberechtigten der Überzeugung, dass die Demokratie »eine gute Staatsform« sei, die nach mehrheitlicher Überzeugung (73 Prozent) eher als autoritäre Staatsformen in der Lage sei, »die Herausforderungen der Zukunft zu lösen« (Institut für Demoskopie Allensbach). Durch die aktuellen Entwicklungen in Russland und im Iran dürfte die Wertschätzung für die Demokratie als Lebensform bei den Bundesbürgern eher noch gestiegen sein.

Auch für die drei Partner der Ampel besteht kein Grund zur Panik. Ihre Maßnahmen zur Bekämpfung von Energieknappheit und Inflation werden zwar mehrheitlich kritisch bewertet, das Vertrauen in ihre Wettbewerber ist jedoch keinen Deut größer. Die Kompetenzzuschreibung bei Union und AfD ist laut DeutschlandTREND 9/22 von Infratest dimap seit der Bundestagswahl sogar eher noch gesunken.

Entscheidend für die Bewertung der Politik der Ampel wird sein, ob die von ihr beschlossenen Maßnahmen zur Sicherung der Energieversorgung, zur Dämpfung der Kostenexplosion, zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und vor allem zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes greifen. In Regionen, in denen die Sorgen um Arbeitsplätze, steigende Lebenshaltungskosten und niedrige Löhne groß sind, besteht allerdings die Gefahr, dass die Bürger/innen ihren Protest nicht nur auf der Straße kundtun, wie derzeit zu Tausenden in den neuen Bundesländern, sondern ihn auf dem Wahlzettel durch Stimmabgabe zugunsten radikaler Parteien zum Ausdruck bringen. (Darauf deuten aktuelle Umfragen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg hin, wo die AfD derzeit stärkste Partei ist.).

Noch aber neigen die Deutschen nicht zu Überreaktionen, wie die jüngsten Wahlen auf Landesebene und auf kommunaler Ebene belegen. Gewonnen haben dort durchweg die Parteien beziehungsweise Politiker/innen, die den Bürger/innen vertraut waren und deren pragmatischen Politikangeboten sie ungeachtet ihrer ideologisch-programmatischen Verortung am Ende das Vertrauen schenkten.

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