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Das Friseurhandwerk zwischen Utopie und Kapitalismus Die haarige Kunst

Die päpstlichen Gesandten in Northumbria und ihre Gegenspieler, die iroschottischen Mönche aus den keltischen Klöstern der buchtenreichen Eilande, schienen im September 664 ganz aus dem Häuschen, als alle Parteien der Geistlichkeit in Whitby zu einer Synode zusammenkamen, um ihre Streitigkeiten zu klären. Es ging um alles zwischen den Parteigängern des römischen Papstes und den mächtigen und eingesessenen Äbten der Schottenklöster. Die geistliche Haartracht, Insignie der Demut und des Dienstes, war in ihrer Form strittig geworden: Wie war eine gottesfürchtige Tonsur zu rasieren? Auf römische Weise, auf dem Haupt tellerförmig, oder auf keltische Weise, quer von Ohr zu Ohr? Und: War gab den Stil vor?

Was im Grunde eine politische Grundsatzentscheidung war, nämlich ob die keltisch-monastische Tradition oder die römisch-episkopale Tradition, also ob die Mönchskirche oder die Bischofskirche wichtiger sei, wurde nicht immer direkt verhandelt. Vielmehr stritt man auf zahlreichen Nebenschauplätzen: Die Tonsur, das Datum des Osterfests, das Zusammenleben von Männern und Frauen in Simultanklöstern, die Geltung der Benediktsregel anstatt der iroschottischen Regel des Hl. Columban. Glaubt man den Zeugen der Synode, wie etwa Beda Venerabilis oder Stephen of Ripon, dann ging es besonders in der Frage der rechtmäßigen Form der Tonsur hoch her. Die Eitelkeit der Kleriker befeuerte ihre emotionale Involviertheit in der Frage – wessen Frisur auf wessen Haupt war wichtiger?

Politik mit Haut und Haar

Es ist kein Geheimnis, dass die Autor:innen von religiösen Texten offenbar auch von einem Haarfetisch beseelt zu sein schienen: Von Vorschriften der Kopfbedeckung im Islam und Judentum für Frauen nach der Heirat, über die scholastischen Dispute von Albertus Magnus zur Haarfarbe der Jungfrau Maria, ein unüberschaubares Inventar an Haarreliquien in den Kathedralen der Welt, die vollständige Kopfrasur bei buddhistischen Mönchen als Zeichen ihrer Entsagung von den Welt, die Schläfenlocken (פֵּאוֹת) der Chassidim nach Tora und Halacha, der Austausch von Haarlocken in Briefwechseln der Romantik.

Auch keine politische Bewegung scheint vollständig ohne eine stilgebende Haartracht: Von der schwerelosen Goldbräune des Donald-J-Trump-Barnets, dem dämonisch-ikonischen Hitlerbärtchen, über das weiße, schwarzlinierte Arafat-Kopftuch (der arabische Kefije), dem Bubikopf und Bob bei Suffragetten oder grellen neonfarbigen Kurzrasuren der Feministinnen der dritten und vierten Welle, den anarchistischen Punkfrisuren, bis zu den Varianten von Dreadlocks und Afro oder dem G.I.-Haircut frei nach Elvis. Der Haar-Stil sowie die Typen seiner Bedeckung sind eine unübersehbare soziale Metapher. Die Ideologinnen und Ideologen dieser haarigen Propaganda sind jedoch nicht die üblichen Verdächtigen, die sich wortreich in die Öffentlichkeit drängen. Stattdessen finden wir sie in einem meist nicht akademisierten Milieu, in einer Profession, die nicht unbedingt Status und Prestige besitzt, in der kapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft rubriziert als körpernaher Service gegen Geld, meist dominiert und manipuliert von den großen Herstellern von Pflege- und Stylingprodukten.

Zwischen Kim Jong-un und Angela Davis

Im Friseurhandwerk scheint als stetige Produzentin dieser sozialen Metaphern aus dem Unterbewusstsein der Gesellschaft heraus zu arbeiten; Friseure und Friseurinnen gehen mit den Erwartungen, aber auch mit den Lebenssituationen ihrer Klienten tagtäglich um. Wie diese kurze Revue am Beginn dieses Essays zeigen, erschöpft sich aber die Frisur keineswegs in einer Stilkunde, in einer Beschreibung von Haartypen, Techniken und Arbeitsmitteln. Vielmehr operiert sie als körpernahe Dienstleistung im Zentrum der Intimität, mit der Wucht menschlicher Expressivität. Friseure bringen dabei mit Effilierschere, Lockenwickler, Fön, Haube, Bürste und Rasierer die kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Tonlagen des menschlichen Daseins hervor.

Gleichzeitig sind die Orte, darin dieser Beruf ausgeübt wird, nicht selten unersetzliche Stätten sozialer Kohäsion und zwischenmenschlicher Präsenz. Trotzdem erfahren weder bei der Ausbildung noch in der Fortbildung von Friseuren die sozialarbeiterischen und psychologischen Dimensionen dieser Arbeit Thematisierung. Während kein Schulbetrieb ohne schulische Sozialarbeit, Kinder- und Jugendpsychologie, aber auch Schulpastoral denkbar wäre, kein Klinikbetrieb ohne medizinische Sozialarbeit oder interreligiösen Krankenhauspastoral und Ethikberatung professionell scheint, bleiben Akteure in weniger akademisierten Sektoren der Wirtschaft oft ohne diese wichtigen Skills, die für die kulturellen, religiösen und sozialen Aspekte ihrer Arbeit sensibel machen.

Während ich für ein Buch recherchiere, führe ich zahlreiche Interviews mit Friseuren und Friseusen, auch Hundefriseuren, in Wien. Dabei fällt mir der massive Wandel der Branche auf: Neben zahlreichen Einzelunternehmer:innen und kleinen Salons existieren in der Großstadt freilich auch Friseur-Ketten mit nicht selten 100 bis 150 Standorten. Zugleich differenzierte sich der Beruf in einer massiven Weise aus. Neben den Trendsettern und Stars der Stylisten-Szene öffnen Salons, die andere Nischen bedienen: Da feiert der explizit für Männer ausgelegte Barbershop mit angeschlossener Gin-Hausmarke eine testosteronreiche Renaissance, dort gründen drei Syrer und ein Marokkaner einen Salon, der aus kultureller Gewohnheit nur männliche Kunden bedient. Hier ist ein Friseur, der eng mit einem Hundefriseur zusammenarbeitet, dort ist Haareschneiden Teil eines Spa- und Beautykonzepts, inklusive farblicher Koordination mit bestehenden Tattoos.

Professionelle und soziale Rolle

Den Mitarbeiter:innen in diesen Salons ist ihre soziale Rolle, neben ihrer professionellen Rollen, höchst bewusst. So berichtet eine Friseurin davon, dass sie seit dreißig Jahren alle sechs Wochen lange eine Dame frisiert, die ihr bei jeder Sitzung ihr Leid klagt. Sie weiß alles über ihre Kundin, deren Herkunft, Familienumstände, Schicksalsschläge, Frustrationen und Freuden. Zugleich ist ihr das nicht geheuer, weiß sie kaum, wie sie Grenzen ziehen kann zwischen einer Rolle, in die sie die Kundin hineindrängt und dem regelmäßigen Verdienst, den ihr die Kundin beschafft. Ein weiterer Friseur aus einem eingesessenen Salon im 9. Wiener Bezirk berichtet von einer Kundin, die ihm von den widerwärtigsten Zuständen ihrer Partnerschaft berichtet, ohne dass er sich in irgendeiner Weise genötigt fühlt, sich zu involvieren, bis eines Tages die Kundin nicht mehr kommt und er nicht weiß, warum.

Ein Hundefriseur erzählt von einer Kundin, die ihm droht, nachdem er ablehnt das Fell ihres afghanischen Windhunds zu bändigen, weil er glaubt, sie quäle das Tier. Eine andere Friseurin staunt über die Differenz zwischen den Haltungen der jungen Frauen, die bei ihr in den Salon kommen, um elaboriertes Galaxy Hair zu bekommen, und ihrer eigenen Haltung. Die nächste Friseurmeisterin bringt es nicht unter einen Hut, dass gutaussehende und selbstbestimmte Frauen ihr Haar kurzrasieren und färben lassen. Und immer wieder trifft man bei den Gesprächen auf die Differenz zwischen den weltanschaulichen Positionen, die kulturellen Hintergründe von Klienten, die deshalb diesen oder jenen Style wollen, und das Verständnis der Friseure, die diesen Style herstellen sollen.

Hair on Fire

Geraldine Biddle-Perry – die unbestrittene Koryphäe unter den Coiffeuren – stellt in ihrer sechsbändigen Kulturgeschichte des Haares fest: »Als Teil unseres Körpers, ist das Haar Schauplatz von Bedeutung und der Austragungsort von Konflikten.« Und diese Konflikte sind nicht immer medial vermittelt, sondern direkt und vor Ort. Während den meisten Zeitungsleser:innen der Streit um den Hijab von iranischen Frauen mit dem sie unterdrückenden Regime wohlbekannt ist, besitzt man zugleich wenig Gespür dafür, was es für eine deutschsprachige Muslima bedeutet, in Hamburg einen von Männer geführten Barbershop zu betreten und von den männlichen Friseuren zu fordern, dass sie bedient wird. Während manche Professionen und privilegierte soziale Räume erhebliche wirtschaftliche und intellektuelle Ressourcen erhalten, um sich über die pragmatischen Voraussetzungen ihrer Tätigkeit hinaus zu sensibilisieren, stehen Menschen, die in körpernahen Diensten wie dem Friseurhandwerk arbeiten, meist alleine da.

Auch sind ihre Wirkungsstätten – also z.B. Friseursalons – bisher keineswegs adäquat als Orte gesellschaftlicher und individueller Selbstverständigung, als Austragungsorte von sozialen Spannungen und Konflikten oder Instanzen von Segregation und Solidarität wahrgenommen worden. Geraldine Biddle-Perry beschreibt das menschliche Haar als im biologischen Körper verwurzelt und zugleich Textur für soziale und kulturelle Zuschreibungen. Aus diesem Zusammenhang sind Kenntnisse über die Dynamik von gesellschaftlichen Bewegungen und Kenntnisse und Sensibilität für kulturell kodierte Identitätsprozesse auch aus wirtschaftlichen Erwägungen wichtig für Menschen, die ein Handwerk ausüben, das ganz mit der menschlichen Intimität umgeht.

Wo fängt politische Bildung an?

Häufig finden wir diese in Foren, Publikationen und Akademien. Wenn man ehrlich ist, ist das Milieu für politische Bildung sowohl gesellschaftlich als auch professionell gesehen äußerst heterogen: Menschen mit akademischen Abschlüssen referieren etwas für Menschen mit akademischen Abschlüssen. Wo sind die anderen Wirkungsorte von gesellschaftlichen Konflikten und Selbstdefinitionen? Der Friseursalon ist sicherlich ein solcher Ort. Vielleicht wäre es daher zu überlegen, neben zahlreichen Fortbildungen zu Haarpflegeprodukten, die oft auch von ihren wirtschaftlich interessierten Herstellern beworben werden, auch Workshops und grundlegende Sensibilisierung für die gesellschaftlichen, ethischen, kulturellen und religiösen Aspekte eines körpernahen Berufs anzubieten.

Das Friseurhandwerk zählt in Deutschland rund 266.000 Betriebe (2022), in Österreich zählt man etwa 18.000 Fachkräfte in etwa 4.200 Betrieben; die Betriebe finden sich sowohl im urbanen als auch im ländlichen Raum. Es sind Unternehmen, die eine von allen gesellschaftlichen Schichten in Anspruch genommene Dienstleistung vollbringen und daher Begegnungsort all dieser gesellschaftlichen Schichten sind.

Respekt und Kommunikation

Die vielfältigen Themen, die in dieser Branche verhandelt werden müssten, gehen im Übrigen weit über eine robuste Soziologie oder Kulturwissenschaft hinaus. Sie betreffen den Respekt vor dem menschlichen Körper und der Intimsphäre, wofür in diesem Handwerk erhebliche professionelle Strategien der Kommunikation und des Umgangs zu finden sind. Sie beziehen sich zugleich auf Fragen nach Isolation, Einsamkeit und Zuwendung innerhalb eines Klimas das vom Verfall von nachhaltigen Sozialräumen geprägt ist.

Die Stilkunde in ihrer kunsthistorischen Variante der Frisurenkunde erschöpft sich also nicht in Madonnen auf Tapisserien oder Engelsgestalten auf romanischen Kapitellen: Sie beinhaltet eine in der modernen Dienstleistungsgesellschaft komplexe Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die individuelle Stellungnahme zum Körperhaar umfasst persönliche Ideationen und Utopien, Wünsche und Grade des Bewusstseins des Selbst im Hin und Her der Häupter. Am Friseurhandwerk wird zugleich deutlich, wie intellektuelle Ressourcen und Zugänge, die in modernen Zivilisationen verfügbar sind, verteilt sind, was als Ort und Praxis der Verhandlung von gesellschaftlichem Aufbau und Wandel erachtet wird – und was nicht.

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