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Über die politische Kraft einer poetischen Grabbeigabe Die harte Schale der Einsamkeit

Jedes Jahr sterben Menschen, ohne dass sich jemand darum kümmert. Sie werden irgendwann ohne besonderes Ritual bestattet. Um dies zu ändern, initiierte der Niederländer Bart FM Droog während seiner Zeit als Stadtdichter in Groningen das Einsame Begräbnis.

Das Einsame Begräbnis ist ein Abschiedsgruß an Menschen, die allein ihren letzten Weg antreten. Es ist ein lyrisches Projekt, für das Dichterinnen und Dichter ein persönlich gewidmetes Gedicht verfassen und zum Begräbnis verlesen. Das Gedicht begleitet die Verstorbenen, die Dichtenden verabschieden sie aus einem Leben, in dem sie allein auf sich gestellt waren. Dieses kleine Ritual – ein paar Blumen, das Verlesen – wirft ein Licht auf die »vergessenen Leben«. Es erweist den Verstorbenen Respekt und Würde und ist ein Zeichen der Solidarität. Das Gedicht wird im Nachgang der Beisetzung auf einer Webseite publiziert. Sie dient in Gestaltung und Funktion als digitale Stele dem Gedenken über das Begräbnis hinaus. Zudem wird das Gedenken bei jeder Lesung wiederbelebt.

Neben der digitalen Publikation sind diverse Bücher zu dieser Arbeit des Gedenkens erschienen. 2016 etwa in der Edition Korrespondenzen Das einsame Begräbnis. 40 Geschichten und Gedichte zum vergessenen Leben, das von Maarten Inghels und Frank Starik herausgegeben und aus dem Niederländischen von Stefan Wieczorek übersetzt wurde, 2018 erschien die englische Übersetzung The Lonely Funeral von David Cormes. Im Herbst 2023 wird eine schweizerische Anthologie im Zürcher Limmatverlag erscheinen.

2002 übernahm in den Niederlanden Frank Starik diese Arbeit und institutionalisierte sie in Amsterdam. Mittlerweile begleiten zudem Dichtende aus Den Haag, Rotterdam, Utrecht, Zannstad, Hengelo, Groningen, Arnhem und Nimwegen einsame Begräbnisse. Später wurde das Projekt im belgischen Antwerpen initiiert, dann in Leuven und 2022 in Brügge.

Bürokratische Hürden

In Zürich wurde das Projekt Das Einsame Begräbnis von mir initiiert. In der Deutschschweiz läuft es seit 2017. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Initiative nicht beliebig in Gang setzen lässt. So hat zum Beispiel der Versuch in Wien gezeigt, dass in einer Stadt dieser Größe so viele Menschen einsam versterben, dass eine Begleitung die Anzahl der Dichtenden übersteigen würde. In Köln lässt sich der Status »einsam« offenbar bürokratisch nicht feststellen. Auch in Zürich ist »einsam« eine künstliche Kategorie, wie noch erläutert werden wird.

Aufgabe eines Dichters, einer Dichterin ist es, einem einsam verstorbenen Menschen das letzte Geleit zu geben. Geleit trifft es sehr gut: Es ist ein Geleiten der Urne eines Verstorbenen, seines eingeäscherten Körpers auf dem letzten Weg und eine Erinnerung an ein vergessenes Leben. Der Tod liegt außerhalb menschlicher Erfahrung. Die Arbeit an den Gedichten für das Einsame Begräbnis bedeutet daher auch vielmehr, Aspekte von Einsamkeit im Leben der Verstorbenen und ihr Alleinsein auf dem letzten Weg zu thematisieren.

Wenn in Zürich ein Mensch verstirbt und keine Angehörigen involviert sind, die sich für die Beisetzung zuständig fühlen, sucht das Friedhofsamt international nach diesen. Bleibt die Suche erfolglos, wird die verstorbene Person im Gemeinschaftsgrab auf dem Friedhof Nordheim in Zürich Oerlikon beigesetzt. Diese Sammelbeisetzungen der Einsamen finden einmal jährlich Ende September statt.

Der Weg zum Gedicht

Nach einer erfolglosen Recherche wird vom Friedhofsamt ein Datenblatt an die Projektleitung verschickt. Hier finden sich je nach Todesfall zumeist der Geburtsort, die letzte Wohnadresse und manchmal Kontaktdaten zu Angehörigen (zum Beispiel im Ausland wohnhaften Geschwistern oder Kindern), aber unter Umständen auch nur der Geburtsort (etwa bei Todesfällen von obdachlosen Menschen). Die Dichtenden vom Dienst bekommen die Informationen unter Wahrung einer Diskretionspflicht und können damit auf Recherchetour gehen. Da alle Beisetzungen öffentlich ausgeschrieben werden, ist dies datenschutzrechtlich unproblematisch, aber aufgrund einer hohen Tabuisierung in Verhandlungen mit zuständigen Ämtern trotzdem ein sensibler Aspekt.

Die Recherche beginnt in der Regel am letzten Wohnort. Jede Recherche ergibt ein Gedicht, aber auch einen Prosatext, den »Bericht«, in dem die Dichtenden von ihrer Spurensuche erzählen. Dieser literarische Bericht spielt eine präsente Rolle, er verweist auf die Entstehungsbedingungen des lyrischen Textes und macht die Autor:innen und ihre Rezeption der Umstände sichtbar. In der persönlichen Erzählung können über die subjektive Perspektive auch sozialkritische Fragen angesprochen werden.

In seinem Gedicht Im Juli '90 schreibt Tomas Tranströmer:

»Ein Begräbnis war es,

und ich spürte, dass der Tote

meine Gedanken besser las

als ich selbst.«

Es ist schwierig, einem unbekannten Menschen ein Gedicht nicht nur zu widmen, sondern als letzte Gabe zuzueignen. Man könnte (wenngleich mir dies noch nie begegnet ist) diesen Beitrag und seine Bedingungen auch als unangemessenes Eindringen in ein fremdes Leben verstehen, sich fragen, ob die Einsamkeit des oder der Betreffenden nicht eine absichtsvoll gewählte gewesen sei. Das darf aber oft bezweifelt werden.

Soziale Isolation nimmt zu

Einsamkeit ist in westlichen Gesellschaften ein sich rasant ausbreitender Zustand. Sie ist auch ein hochpolitisches Thema, das Menschen quer durch alle Schichten betrifft. Laut einer im November 2020 veröffentlichten Umfrage der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG ist zwischen Juni und Oktober 2020 in der Schweiz der Anteil derjenigen, die Angst vor sozialer Isolation und Einsamkeit haben, im Zusammenhang mit der Coronapandemie von 30 auf 46 Prozent gestiegen.

Die Ergebnisse spiegeln den jüngsten Bericht der Fondation de France wider, der den Aspekt der »Einsamkeit« über die letzten zehn Jahre hinweg betrachtet. Aus ihm geht eine Zunahme der sozialen Isolation hervor, von der in Frankreich 15 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. Davon wiederum bezeichnen sich 38 Prozent als »misstrauisch« oder »leidend«, 43 Prozent dagegen als »ausgeglichen« oder »aus freier Entscheidung alleinlebend«.

Soziale Isolation betrifft vor allem Menschen in prekären Situationen oder ältere Menschen, aber auch zunehmend Jüngere. In der Schweiz gaben im Jahr 2017 laut einer Erhebung des Bundesamtes für Statistik 38 Prozent der gesamten Wohnbevölkerung und sogar 46 Prozent der Migrantinnen und Migranten der ersten Generation an, einsam zu sein. Die zunehmende Entfremdung voneinander, aber auch von dem, was wir gemeinhin »Natur« nennen, das Leben in Kleinfamilien, der abnehmende gesellschaftliche Zusammenhalt einer Solidargemeinschaft zeigen deutlich, dass Einsamkeit ein hochevidentes Thema ist.

Einsamkeit als bürokratische Kategorie

Das Einsame Begräbnis setzt dieser Einsamkeit die Sprache, das Gedicht entgegen. Die Arbeit am Text wirft dabei Fragen auf: Wie dichtet man für einen unbekannten Menschen? Will er, will sie dies überhaupt? Und wem nützt das? Wie kann ich es ihm oder ihr zueignen? Nicht nur einmal wurde ich gefragt, wer denn da überhaupt zuhöre.

Der Einsatz für die vergessenen Leben gestaltet sich zudem nicht ganz komplikationsfrei. Die Kategorie »einsam« ist nämlich auch als eine bürokratische zu begreifen: Sobald jemand zuständig erklärt werden kann für das Regeln der Hinterlassenschaften der beizusetzenden Person gilt der verstorbene Mensch nicht mehr als einsam, auch wenn die engagierten Personen zum Beispiel juristische Beistände sind, die eine Beisetzung persönlich nicht begleiten (können).

Verhandlungen mit Friedhofsämtern sind aufgrund des Datenschutzes und sehr strenger administrativer Abläufe zeitaufwändig. Die Abklärung einer Kooperation mit dem Basler Friedhofsamt etwa dauerte mehr als ein Jahr. Die Friedhofsleitung zeigte sich außerordentlich interessiert an der Durchführung des Projektes, eine Kooperation kam dennoch nicht zustande, da die Gedichtlesung nicht in die technischen Abläufe der Beisetzung eingebaut werden konnte.

Jede neue Recherche ist anspruchsvoll, wirft den Dichtenden oder die Dichtende auf sich selbst zurück. Man überprüft die Kleidung, muss ja schließlich »anständig« aussehen. Nur nicht auffallen, ja nicht den Eindruck erwecken, etwas Obskures verkaufen zu wollen. Hände sichtbar vorn und unverschränkt. Nur keinen Verdacht erregen, Mitglied eines religiösen Verbandes zu sein, keine Notizblöcke oder ähnliches herzeigen. Die ersten Blicke im Kontakt sind meistens misstrauische.

Nicht immer ist die Verbindung, die man aufbauen muss, die Position, in die man gerät, sind die Rechercheorte, die man besuchen muss, angenehm. Die Eckkneipe, in denen manche alkoholkranke Menschen das Tageslicht ausblenden, gehört ebenso wenig in die Wohlfühlkategorie wie die der Luxusappartements, wo man erst beim ehemaligen Vermieter läuten muss, der mit den doch noch vorhandenen Angehörigen vielleicht in einem Rechtsstreit liegt. Eine Kontaktaufnahme mit dem noch lebenden Menschen, für den posthum geschrieben wird, hätte womöglich noch mehr Mühe bereitet oder wäre gar nicht möglich gewesen.

Auf eine Art werden die Personen lebendig, nach denen man bei diesen Recherchen sucht und die man in der Erinnerung einer Nachbarin hier oder da auf einem Treppenabsatz antrifft, an einem imaginären Lebensort oder in den Geschichten, den Hinweisen, die die Orte noch mit sich tragen. Das passiert auch, wenn einem niemand über den Weg läuft, der die Verstorbenen gekannt hat.

Das Schreiben als politischer Akt

Im Gedicht werden diese Dinge manifest, formieren sich, werden Sprache, im besten Fall ein Geschenk oder – wie Arnold Stadler über Wolfgang Borchers’ Gedichte schreibt –: ein Schmerzmittel. Dieses Schmerzmittel darf seine Wirksamkeit an den neuralgischen Leerstellen eines kollektiven Gedächtnisses entfalten und kann dem oder der Verstorbenen eine Grabbeigabe, das Geleit sein, aber auch stellvertretend für diese gesellschaftliche Leerstelle ein Gedenken setzen. Das Schreiben der Texte ist somit ein politischer Akt – der Versuch gelebter Solidarität.

Das Gedicht als verdichtete sprachliche Form ermöglicht die zartesten und die stärksten Möglichkeiten zum Sublimen. Es eignet sich hervorragend für diese Erinnerungsarbeit. Soziale Entfremdung tritt in der Vereinzelung von Menschen in roher Gewalt und doch leise zwischen den Zeilen einer Existenz zutage, die wir zu übersehen geneigt und oft auch allzu gewillt sind. Die Gedichte zum Einsamen Begräbnis setzen dem ihre Sprache entgegen. Sie halten auf der virtuellen Plattform Stellung, sind dort zum Gedenken festgeschrieben, finden ihren Weg in Bücher, in Lesungen.

Dass Sprache, eben das Einander zusprechen, die harte Schale von Einsamkeit aufbrechen und somit auch politisch und gesellschaftlich wirksam werden kann, macht diese Arbeit als Dichtende vom Dienst an diesem Gedenken im Leben erfahrbar.

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