Menü

Wie die EU sozial gestärkt und ihre internationale Rolle gefestigt werden kann Die Idee Europas ist in Lebensgefahr

Die Idee einer europäischen Arbeitslosenversicherung ist nicht neu. Schon Mitte der 70er Jahre wies eine hochkarätig und europäisch besetzte Gruppe um den französischen Wirtschaftswissenschaftler Robert Marjolin darauf hin, dass eine gemeinsame Währung die Zinsen trotz unterschiedlicher Kreditwürdigkeit vereinheitliche und den Mitgliedstaaten die Möglichkeit nehme, ihre Währungen nach Bedarf auf- oder abzuwerten. Sie schiebe so die Last der Anpassung an wirtschaftliche Schocks oder beschleunigten Strukturwandel auf den Arbeitsmarkt. Der Druck auf flexible Löhne, meist nach unten, oder auf regionale Mobilität, meist durch Arbeitslosigkeit erzwungen, nehme zu. Darum läge der Gedanke einer europäischen Arbeitslosenversicherung nahe.

Danach geriet diese Idee in Vergessenheit bis erkennbar wurde, dass der 2002 eingeführte Euro nicht die erhoffte Konvergenz bescherte. Im Gegenteil. Nach anfänglich positiven Anzeichen – die Arbeitslosenquoten der EU-Mitglieder näherten sich etwa bis 2007 an – zerschlug die Finanzkrise von 2008/09 diese trügerischen Hoffnungen. Bestehende Divergenzen bei der Wirtschaftskraft und den sozialen Lebenslagen verstärkten sich weiter. Darüber hinaus verschärfen die Digitalisierung und die Alterung der europäischen Bevölkerung die Situation: Der Fachkräftemangel droht zu einem ruinösen Wettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten auszuarten; die Aufholjagd neuer oder immer schon schwächelnder Mitgliedstaaten erscheint aussichtslos. Heute ist die Idee Europa in Lebensgefahr.

Modelle für eine europäische Arbeitslosenversicherung

In der Zwischenzeit schälten sich vor allem zwei konkurrierende Modelle heraus: eine genuin europäische Arbeitslosenversicherung und eine Rückversicherung. Der erste Vorschlag visierte eine einheitliche europäische Arbeitslosenversicherung an, die für alle europäischen Erwerbsbürger/innen einen relativ bescheidenen Versicherungsschutz für die ersten sechs bis zwölf Monate bieten sollte. Alle Beschäftigten zahlen einen bescheidenen Beitrag in den europäischen Topf und erwerben nach einer gewissen Beitragszeit Anspruch auf Lohnersatzleistungen. Auf dieser Grundlage könnten dann die nationalen Arbeitslosenversicherungen bei Bedarf die Höhe der Leistung aufstocken und die Dauer des Arbeitslosengeldbezugs verlängern.

Diese Variante lässt sich jedoch nach dem gegenwärtigen Europarecht nicht verwirklichen. Sie verstößt vor allem gegen Artikel 125 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der weder der EU noch einzelnen Mitgliedstaaten erlaubt, für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten einzutreten. Darüber hinaus verbietet Artikel 153, Abs. 4 AEUV den Erlass von Maßnahmen, die das Recht der Mitgliedstaaten beschränken, die Grundprinzipien ihrer Systeme sozialer Sicherheit selbst zu bestimmen.

Darum modifizierte der ehemalige Beschäftigungskommissar László Andor den ursprünglichen Vorschlag des Berliner Ökonomen Sebastian Dullien. Er fokussierte sich nur noch auf die Stabilisierungsfunktion, die sich bei weiter Auslegung mit Artikel 352, Abs. 1 AEUV (der sogenannten Flexibilitätsklausel) vereinbaren lässt. Die Mitgliedstaaten erhalten aus einem EU-Fonds für die ersten sechs Monate zwei Drittel der Ausgaben rückerstattet; Arbeitslosenschutz darüber hinaus tragen die nationalen Mitglieder selber. Der Fonds speist sich aus Beiträgen der Mitgliedstaaten, bietet jedoch die Möglichkeit, dass de facto nur Nettozahlungen strömen. Wenn Länder von Arbeitslosigkeit besonders betroffen sind, finanzieren Länder von geringerer Betroffenheit also zeitweise mit Nettobeiträgen die Arbeitslosengeldzahlungen jener Länder, deren Nationalfonds sonst nicht ausreichte, den Schock für alle (kurzfristig) Arbeitslosen durch Lohnersatzleistungen zu kompensieren. Das mindert auch den politischen Druck auf diese Länder, Kürzungen von Lohnersatzleistungen ausgerechnet in einer Situation hoher Arbeitslosigkeit vorzunehmen.

Die Vertreter einer Rückversicherung – prominent dazu das CEPS (Center for European Policy Studies) – gehen von der Vorstellung aus, die soziale Absicherung solle grundsätzlich völlig in der Hand der Mitgliedstaaten bleiben. Europas Aufgabe könne nur darin bestehen, die makroökonomische Kapazität dieser Absicherung institutionell zu gewährleisten. Da Wirtschaftskrisen die EU-Mitglieder unterschiedlich stark treffen können, bedarf es eines Puffers für bedürftige Mitglieder, um Abwärtsspiralen zu verhindern, in die sonst ganz Europa geraten könnte. Also sollen alle gemeinsam 0,1 % des BIP in einen Stabilitätsfonds einzahlen, und zwar so lange, bis dieser über eine Masse von 0,5 % verfügt. Gerät ein Land in Schwierigkeiten, kann es mit Transfers aus diesem Topf rechnen; Voraussetzung dafür ist eine Arbeitslosenquote von zwei oder mehr Prozentpunkten über der sogenannten Gleichgewichtsarbeitslosigkeit. Um langfristig einseitige Transfers zu vermeiden, sollen diejenigen Mitglieder, die sich über Gebühr aus diesem Topf bedienen, nicht nur 0,1 sondern beispielsweise 0,2 % ihres BIP einzahlen.

Beide Varianten gehen von zwei problematischen Grundannahmen aus. Zum einen stellen sie die makroökonomische Stabilisierungswirkung eines Systems der Arbeitslosenversicherung in den Vordergrund und nicht deren beiden Hauptfunktionen, nämlich die Gewährleistung einer anständigen Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit und parallel dazu einer schnellen und nachhaltigen Reintegration in den Arbeitsmarkt zur Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit. Zum anderen haben sie eine Arbeitslosenversicherung im Visier, die mit Blick auf Gegenwart und Zukunft der Arbeitswelt veraltet ist. Nationale wie europäische Überlegungen zur sozialen Sicherheit müssen den – nicht mehr zu übersehenden – Tatbestand aufgreifen, dass Arbeitsmarktrisiken nicht mehr nur aus Arbeitslosigkeit, sondern auch aus einkommensbedrohenden Übergangsrisiken im Lebensverlauf bestehen. Beispiele dafür sind Einkommensschwankungen durch Arbeitszeitvariation zur Abpufferung saisonaler und konjunktureller Zyklen, die Erosion adäquater Berufsbildung im Erwerbsverlauf, Leistungsminderungen durch Krankheiten in zunehmendem Alter oder Erziehungs- und Pflegeleistungen in der Mitte des Lebens. Nicht zuletzt geht es auch um die Bildung finanzieller Reserven, um die individuelle Autonomie der Berufs- und Arbeitsplatzwahl nicht nur zu Beginn, sondern auch während des Erwerbsverlaufs zu stärken. Der europäische Arbeitsmarkt soll erwachsen werden.

Komplizierte Gemengelage

In der Diskussion um eine europäische Arbeitslosenversicherung befinden wir uns also in einer verzwickten Lage: Zum einen muss gemäß gegenwärtiger Gesetzeslage die Hauptverantwortung der Einkommenssicherung bei den nationalen Arbeitslosenversicherungen bleiben; zum anderen sind die Schwächen dieser Systeme unübersehbar. Viele EU-Mitglieder haben ein nur rudimentär ausgebildetes System der sozialen Absicherung bei Arbeitslosigkeit. Damit drohen nicht nur weiter wachsende Armut und soziale Ungleichheit, sondern bei einer nicht auszuschließenden erneuten Wirtschafts- und Finanzkrise die Gefahr, dass die ökonomische Instabilität einzelner Mitglieder auf Gesamteuropa übergreift. Schließlich öffnet sich eine zunehmende Kluft zwischen den neuen sozialen Risiken der digitalen Arbeitswelt, denen wachsende Forderungen nach sozialer Inklusion gegenüberstehen und zu deren Lösung keine oder nur unzureichende institutionelle Kapazitäten gegenüberstehen. In dieser komplizierten Gemengelage ist es angebracht, zunächst die Ambitionen einer Europäisierung sozialer Sicherheit auf pragmatische und machbare Schritte zu begrenzen, auf lange Sicht aber ehrgeizigere Ziele anzuvisieren, die über das tradierte System der Arbeitslosenversicherung hinausgehen. Eine Arbeitslosenversicherung, die auch Einkommensrisiken wechselnder Lebenslagen einschließt, wäre konsequenterweise auch mit einem neuen und wegweisenden Begriff zu fassen, nämlich einer europäischen Arbeitsversicherung.

Perspektiven einer europäischen Arbeitsversicherung

Zunächst stellt sich die Frage, ob eine europäische Einkommenssicherung auf dem Prinzip der Sozialversicherung oder der Bedarfsorientierung basieren soll. Für eine Beibehaltung und Stärkung des Sozialversicherungsprinzips sprechen mehrere Gründe, vor allem der daraus resultierende eigentumsrechtliche Schutz gegen politische Willkür. Danach stellt sich die Frage, ob die europäische Einkommenssicherung im Kern auf einer uniformen Arbeitslosenversicherung aufbauen soll, die je nach nationaler Tradition etwa im Hinblick auf Generosität und Umfang einzelstaatlich ergänzt werden kann, oder ob sie im Kern nach wie vor aus nationalen Versicherungssystemen bestehen soll, die von der EU ergänzt und hinsichtlich ihrer institutionellen Kapazitäten verstärkt werden.

Im Folgenden argumentiere ich für die zweite Lösung, womit die erste Lösung nicht ausgeschlossen ist, aber allenfalls in ferner Zukunft infrage kommt, wenn ein einheitlicher europäischer Arbeitsmarkt existiert, die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen sind und ein mehrheitlicher politischer Wille zur weiteren Vertiefung Europas in Sicht ist. Gegenwärtig kann davon keine Rede sein. Eine einheitliche europäische Arbeitslosenversicherung birgt darüber hinaus die Gefahr einer weiteren Absenkung von Mindeststandards der Einkommenssicherung, ohne komplementär steigende Anstrengungen und Kapazitäten für Arbeitsförderung zu gewährleisten. Mitgliedstaaten mit gut ausgebauten Systemen der Arbeitslosenversicherung könnten bei einer Vergemeinschaftung geneigt werden, ihre Standards (und Kosten) weiter zu senken, während Mitgliedstaaten mit schlecht ausgebauten Systemen sich auf den europäisch garantierten (und finanzierten) Einkommensschutz beschränken könnten.

Deshalb muss es zunächst darum gehen, in den Mitgliedstaaten überhaupt erst einmal vergleichbare Kapazitäten für eine Beschäftigungs- und Einkommenssicherung zu schaffen. Kurzfristig könnte eine europäische Arbeitsversicherung positive Elemente der US-amerikanischen Arbeitslosenversicherung aufgreifen. Sie würde die eigenständigen nationalen »Arbeitslosenversicherungen« festigen und durch eine zweckgebundene europäische fiskalische Kapazität ergänzen. Diese Ergänzung hätte eine Rückversicherungs- und eine Sozialversicherungsfunktion. Das Rückversicherungselement würde EU-Mitgliedern mit (eventuell verbilligten) Krediten aus der Patsche helfen, deren Versicherungsfonds in Rezessionen erschöpft sind; das Sozialversicherungselement würde den Aufbau und den Erhalt institutioneller Kapazitäten fördern und kritische Übergänge durch Lohnersatzleistungen oder Lohnergänzungen und Arbeitsförderung kofinanzieren. Um diese beiden Funktionen zu erfüllen, könnte ein Europäischer Arbeits- und Sozialfonds (EASF) etabliert werden, der auf den bisherigen Sozialfonds (ESF) und Globalisierungsfonds (EGF) aufbaut und diese mit neuem Leben erfüllt.

Ein europäischer Arbeits- und Sozialfonds (EASF)

Was soll und kann der anvisierte EASF bezüglich der Anforderungen an eine inklusive nationale Einkommenssicherung bei Arbeitslosigkeit beitragen? Zunächst wäre der Einsatz dieses Fonds mit Mindeststandards nationaler Versicherungssysteme zu verknüpfen. Eine erste Legitimationsquelle für Richtlinien solcher Standards wäre Artikel 153 AEUV, der die EU auffordert, die Aktivitäten ihrer Mitglieder in den Bereichen der sozialen Sicherheit und des Sozialschutzes für Beschäftigte zu unterstützen. Zweitens erlaubt Artikel 352 AEUV dem Rat, bei Einstimmigkeit seiner Mitglieder und Zustimmung des Europäischen Parlaments Vorschriften zu erlassen, um Ziele der Verträge (z. B. Vollbeschäftigung und sozialer Fortschritt, Gerechtigkeit, Kohäsion, Solidarität nach Art. 3, Abs. 3 EUV) zu verwirklichen. Eine weitere Legitimationsquelle ist die »Europäische Säule sozialer Rechte«, die in Göteborg am 17. November 2017 feierlich vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission verabschiedet wurde. Diese Säule proklamiert nicht nur neue soziale Rechte wie ein Mindesteinkommen, das ein würdevolles Leben gewährleistet, das Recht auf adäquaten Sozialschutz unabhängig von der Art des Arbeitsverhältnisses oder das Recht auf lebensbegleitende Weiterbildung, sondern sie verpflichtet (siehe § 14) die Union und ihre Mitglieder auch dazu, auf geeigneter Ebene Gesetze zu erlassen und Institutionen aufzubauen, welche die Umsetzung dieser hehren Prinzipien auch gewährleisten.

Im Zusammenhang mit der Arbeitslosenversicherung müssten diese Standards vor allem einen angemessenen Deckungsgrad der Versicherung sowie ein würdiges Niveau der Einkommenssicherung gewährleisten. In Analogie zum deutschen Kurzarbeitergeld könnte sogar ein Rechtsanspruch auf Sozialschutz bei konjunkturbedingter Arbeitszeitanpassung gewährleistet werden. Solche Standards würden ein Mindestmaß institutioneller Kongruenz fördern, keinesfalls jedoch zur Harmonisierung der nationalen Versicherungssysteme zwingen. Nach Verhandlungen könnten solche Standards mit Mehrheit verabschiedet werden und einzelnen Mitgliedstaaten im Rahmen eines Sozialprotokolls erlauben, davon Abstand zu nehmen.

Für Länder, die sich zu solchen Standards bekennen, könnte der EASF die nationalen Systeme durch rückzahlbare Kredite unterstützen, wenn sie in die Defizitzone geraten, um die Stabilisierungsfunktion nationaler Versicherungen zu stärken. Dabei müssten (zum Teil automatische) Regelsysteme geschaffen werden, z. B. die Definition des Falls einer wirtschaftlichen Rezession, der maximalen Verschuldung oder der Rückzahlungskonditionen. Darüber hinaus könnte der EASF genutzt werden, um spätestens nach 52 Wochen der individuellen Arbeitslosigkeit in Regionen mit besonders großen Beschäftigungsproblemen ein Übergangsgeld zu finanzieren, das zu verschiedenen Zwecken eingesetzt werden kann. Dieses »Übergangsgeld« soll Risiken bei kritischen Übergängen im Lebensverlauf abdecken. Die Mittel sollten sich daher auf aktive Sicherheiten konzentrieren wie Weiterbildung, Kombination von Kurzarbeit oder Teilzeit und Weiterbildung, Lohnversicherung bei Übergang in niedriger bezahlte Jobs, Überbrückung unfreiwilliger Teilzeit, Lohnkostensubventionen zur Überbrückung geringer Produktivität am neuen Arbeitsplatz, Anpassung von Arbeitsplätzen an Behinderungen und Förderung des Übergangs in Selbstständigkeit.

Das »Übergangsgeld« sollte grundsätzlich im Schnitt zu jeweils 50 % von der EU und den Mitgliedstaaten kofinanziert werden, wobei die Anteile der Kofinanzierung je nach Wirtschaftskraft der Mitgliedstaaten variieren könnten. Mittel für Übergangsgelder könnten mittelfristig zugewiesen werden. In schweren Rezessionen wäre – wiederum nach dem Vorbild der USA – auch ein vom EASF finanziertes Notstandsarbeitslosengeld nicht auszuschließen, weil Lohnersatzleistungen nicht nur konsumtiven, sondern auch investiven Charakter haben, indem sie eine Arbeitssuche ermöglichen, die produktiver und nachhaltiger ist als ohne anständige Einkommenssicherung. Finanzierungsinstrument dafür könnten Reserven des EASF oder der Europäische Währungsfonds sein.

In guten und in schlechten Zeiten

Erstrebenswert wäre längerfristig, dass Europa eigenständige EASF-Beiträge zur Finanzierung erhebt. Diese Beiträge müssten so beschaffen sein, dass sie in guten Zeiten Reserven aufzufüllen in der Lage sind, die in Notzeiten genutzt werden können. Allein schon ein sehr konservativ angesetzter Beitragssatz der EU-Mitgliedstaaten von 0,2 % ihres BIP erbrächte eine fiskalische Kapazität von etwa 32 Milliarden Euro im Jahr. Zum Vergleich: Das Gesamtbudget der Europäischen Union beträgt laut Haushaltsplan für 2018 ca. 160 Milliarden und macht nur 1 % der EU-Wirtschaftskraft aus. Zieht man einen noch drastischeren Vergleich, ist daran zu erinnern, dass der Bundeshaushalt der USA etwa 20 % des dortigen BIP »auffrisst«.

In die nationale Beitragsfinanzierung des EASF könnte auch ein solidarisches Element eingebaut werden, das direkt an der Problematik einer einheitlichen Währung (dem Euro) bei stark unterschiedlicher Wirtschaftskraft ansetzt. Wenn es richtig ist, dass chronisch hohe Exportüberschüsse de facto Arbeitslosigkeit »exportieren«, dann wäre es nur konsequent, wenn die Beitragssätze zum EASF entsprechend variierten, d. h. höher oder (bei anhaltend hohem Importüberschuss) niedriger anzusetzen wären. Damit wäre auch ein ökonomischer Anreiz geschaffen, gegen chronisch hohe Exportüberschüsse etwas zu unternehmen, z. B. in Form starker Lohnsteigerungen mit Breitenwirkung, hoher öffentlicher Investitionen und einer Steuer auf Kapitalexporte.

Eine derartig eigenständige fiskalische Kapazität bedarf sicherlich einer Vertragsveränderung. Sie wäre aber notwendig, um beide Funktionen – Rückversicherung wie beschäftigungsorientierte Sozialversicherung – angemessen zu erfüllen. Sie würde, verbunden mit entsprechenden Budgethoheitsrechten des Europäischen Parlaments, mit Sicherheit auch die Identifizierung der Bürgerinnen und Bürger mit Europa erhöhen. Der Austausch von Erfahrungen und guten Praktiken zwischen den europäischen Arbeitsverwaltungen würde intensiver werden, und das jetzige System der europaweiten Arbeitsvermittlung (EURES) könnte zu einer Europäischen Arbeitsagentur ausgebaut werden.

Was zu tun ist

Ein erster Schritt in diese Richtung, der ohne Vertragsveränderung möglich wäre, könnte eine Zusammenlegung des ESF und EGF schon für die nächste mittelfristige Haushaltsperiode (2021–2027) sein, deren Mittel im Verlauf der Programmperiode substanziell aufgestockt werden. Auch wenn zu Beginn die damit verbundenen investiven Transferleistungen gering sein müssen, sollte der symbolische Wert einer echten transnationalen europäischen Institution der Beschäftigungs- und Einkommenssicherung nicht unterschätzt werden. Europa würde für seine Bürgerinnen und Bürger fassbarer werden. Die Priorität des EASF sollte von vornherein auf Kapazitätsbildung und Arbeitsförderung gelegt werden. An erster Stelle stünden der zügige Ausbau des europäischen Arbeitsvermittlungssystems (EURES) und gezielte Mobilitätsförderung (finanziell, sprachlich, Hilfe bei der Wohnungssuche) von Arbeitslosen, die bereit sind, für einen neuen Job in eine andere Region oder gar in ein anderes Land zu ziehen. An zweiter Stelle stünde die gezielte Förderung der Beschäftigung, vor allem für Jugendliche, beispielsweise die Förderung der Beschäftigung in kleineren und mittleren Betrieben durch eine Kombination von verbilligten Investitionskrediten und Einstellungssubventionen. In der derzeit höchst kritischen Situation wäre auch ein mutiges Programm von befristeten Lohnkostenzuschüssen für Unternehmen denkbar, die in Regionen mit besonderen Beschäftigungsproblemen aus dem Arbeitslosenpool zusätzlich Beschäftigte einstellen. Auch Kurzarbeit zur Erhaltung qualifizierter Arbeitskräfte sollte nicht ausgeschlossen werden, vor allem in der Kombination von Arbeitszeitverkürzung und Qualifizierung.

Solche Transfers dienten nicht nur der konjunkturellen Stabilisierung, um die regionale Kaufkraft aufrechtzuerhalten, sondern auch der sozialen Inklusion, um Langzeitarbeitslosigkeit zu vermeiden und die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zu vermindern. Mehr regionale Mobilität ist sicher notwendig und von Teilen der europäischen Bevölkerung auch gewünscht, insbesondere von Jugendlichen. Dieses Flexibilitätspotenzial ist aber aus verschiedenen Gründen begrenzt und auch nicht unbedingt erwünscht, vor allem nicht von erwachsenen und älteren Fachkräften. Eine langfristig angestrebte Arbeitsversicherung begnügt sich eben nicht mit den Ausgleichsmechanismen von Lohnflexibilität und Arbeitsmobilität, wie es neoliberaler Logik zugrundeliegt. Sie bemüht sich auch darum, Arbeit etwa durch Weiterbildung oder Arbeitszeitflexibilität am Ort zu halten oder »Arbeit zu den Menschen« und nicht nur »Menschen zur Arbeit« zu bringen. So wäre auch einem nicht reaktionär-exklusiven, sondern einem weltoffen-inklusiven Bedürfnis nach Heimat gedient.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben