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Die Ideologie der Ungleichheit

Nach seinem Überraschungsbestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert (siehe Rezension in NG|FH 6/2014) hat Thomas Piketty mit Kapital und Ideologie nun ein zweites Mammutwerk vorgelegt, das explizit auf dem früheren Buch aufbaut. Schon im Titel bleibt das »Kapital« erhalten. Wie er in der Einleitung darlegt, geht es ihm aber jetzt nicht so sehr um die Beschreibung der Ungleichheit, sondern darum zu ergründen, warum sie so schwer zu bekämpfen ist bzw. wie man sie bekämpfen könnte. Piketty vermutet die Hindernisse im Bereich der Ideologie und der Politik, weniger in der Wirtschaft selbst.

Denn wie er schon in seinem ersten Buch dargelegt hat (diese Ergebnisse fasst er in der Einleitung nochmal zusammen), kann man Ungleichheit durchaus bekämpfen; dieser Umschwung gelang schon einmal zwischen 1920 und 1970. Von ihrem Höchststand vor dem Ersten Weltkrieg, als die Vermögen etwa das Siebenfache des Bruttoinlandsproduktes und die Einkommen der reichsten 10 % fast die Hälfte ausmachten, sanken diese Werte bis 1950/60 auf das Dreifache bzw. ein Drittel, um ab 1970 wieder anzusteigen und sich den Zuständen von vor über 100 Jahren wieder anzunähern. Mehr Gleichheit ist also möglich – vor allem dank progressiverer Besteuerung und auch noch ohne die von Marktapologeten verkündeten dramatischen Kosten, denn das Wachstum war in Zeiten der geringeren Ungleichheit sogar höher.

Ein kolossaler Kraftakt in vier Hauptabschnitten

Um also die politischen und ideologischen Wurzeln der Ungleichheit offenzulegen, analysiert Piketty in zwei (von insgesamt vier) Hauptabschnitten (zu je ca. 250 Seiten!) zum einen die Ungleichheitsregime der Vergangenheit in Europa sowie zweitens in Sklavenhaltergesellschaften (Antillen, US-Südstaaten), Kolonien (Afrika, Indien) und vom Imperialismus beeinflussten Gesellschaften (vor allem China, Japan, Iran). In einem dritten Hauptabschnitt untersucht er die oben umrissene große Transformation der Ungleichheit im 20. Jahrhundert (1914–1975), um sich im vierten (und letzten) den politischen Bedingungen für Strategien gegen Ungleichheit zuzuwenden.

Die ersten beiden Hauptabschnitte enthalten eine Fülle von Informationen und Einschätzungen, die leider nicht immer ideal geordnet und auch relativ unterschiedlich strukturiert sind. So zeichnen sich die Teile über die feudalen Regime Europas und über die Sklavenwirtschaften durch sehr umfangreiche, auch quantitative Analysen der Ungleichheit aus, während dort die Herrschaftsideologien etwas weniger Raum einnehmen. Bei den Kolonien, insbesondere Indien, und den übrigen asiatischen Gesellschaften vermisst man dagegen weitgehend Daten zur Einkommens- und Vermögensverteilung. Stattdessen konzentriert sich Piketty auf die Größe der verschiedenen Schichten (Regierungseliten/Krieger, religiös/intellektuelle Eliten, produzierende »Unterschichten«) und auf die Ideologien, die diese Gesellschaftsstrukturen begründen.

Diese Analysen dienen dem Zentralanliegen des Autors, der Kritik der Ideologie der Ungleichheit, da sie Ungleichheitsregime präsentieren, deren Legitimität nahezu vollständig verschwunden ist. Kaum jemand wagt heute noch Sklaverei, Kolonialismus oder feudale Strukturen, in denen Adel und Klerus den Rest der Gesellschaft ausnutzen, zu rechtfertigen. Aber der eigentliche Skandal, den Piketty enthüllt, sind weniger diese Regime selbst, sondern die Prozesse ihrer Ablösung, die nicht zu Gleichheit, sondern zu Eigentumsregimen führten, die ähnlich oder noch stärker ungleich waren. Die Revolutionäre von 1776 und 1789 tasteten das Eigentum, auch an Sklaven, nicht an. Und bei der Abschaffung der Sklaverei wurden die Sklavenhalter opulent entschädigt, nicht etwa die Sklaven, die vielmehr meist gezwungen wurden, weiter zu dienen – formal frei, aber de facto unterdrückt und ausgebeutet. Frankreich etwa hat Haiti, den Staat der einzig erfolgreichen Sklavenrebellion, gezwungen, als Entschädigung Zahlungen an Frankreich bzw. die Sklavenhalter in Höhe von drei Jahresvolkseinkommen zu leisten, was mit den dafür notwendigen Krediten und Zinsen einen kontinuierlichen Aderlass bedeutete, der bis 1950 (!) anhielt und bis heute nicht wiedergutgemacht wurde.

Daneben wandert Piketty etwas vom Hauptstrang seiner Argumentation ab, indem er immer wieder die internationalen Verhältnisse in den Blick nimmt, also letztlich die Verteilung der Einkommen in der Welt zwischen den Ländern und nicht innerhalb der Länder. Zwischen beiden bestehen Zusammenhänge, aber sie werden nicht systematisch diskutiert, sondern nur fallweise. So zeigt er quantitativ, wie hoch die Auslandsvermögen (und die daraus resultierenden Einkommen) Frankreichs und Großbritanniens waren. Aber Piketty konzentriert sich eher auf die Machtverhältnisse, wobei auffällt, dass der Begriff des »Imperialismus« bei ihm nicht auftaucht, auch wenn er die in diesem Begriff unterstellten Befunde weitgehend teilt.

Im dritten Hauptabschnitt widmet er sich der Krise der Eigentumsgesellschaften in USA und Westeuropa, die durch zwei Weltkriege, die Große Depression und die Herausforderung durch die Russische Revolution und die staatssozialistische Alternative eine starke Reduktion der Ungleichheit erlebten. Dazu dienten eine massive Besteuerung der hohen Einkommen und Vermögen sowie der Ausbau des Wohlfahrtsstaates mit seinen Sicherungssystemen und freier Bildung und Gesundheitsfürsorge. Die Rechte der Eigentümer wurden nicht nur durch Besteuerung, sondern auch durch Mitbestimmungsrechte (vor allem In Deutschland und Skandinavien) und Verstaatlichungen (Frankreich, Großbritannien) eingeschränkt. Aber, wie er im zweiten Kapitel dieses Teils darlegt, blieb dieses sozialdemokratische Projekt trotz großer Fortschritte in den 30 Jahren zwischen 1945 und 1975 (»Les Trente Glorieuses«) unvollendet. Vor allem die Bildungsrevolution trug paradoxerweise zum Scheitern der Sozialdemokratie (im weiten Sinne von den US-Demokraten bis zur SPD, Labour, etc.) bei, als sie sich von der Vertretung der bildungsarmen Unterschichten zu der der gebildeten Klassen entwickelte und so den Rückhalt bei den ärmeren Schichten verlor.

Die zweite Ursache des Scheiterns der sozialdemokratischen Regime war der Niedergang und schließlich der Zusammenbruch des Realsozialismus, der alle antikapitalistischen Strategien und Kräfte untergrub und der neoliberalen Konterreform von Ronald Reagan und Margaret Thatcher triumphale Glaubwürdigkeit bescherte. Was man in diesem Kontext vermisst, ist allerdings eine Analyse der wirtschaftlichen Schattenseiten am Ende der »Trente Glorieuses« (Massenarbeitslosigkeit, Stagflation, Staatsverschuldung, Ölkrisen etc.), die den neoliberalen Rezepten Schwung gaben. Die dann folgende globale Entfesselung des Kapitalismus (Privatisierung, Deregulierung, freie Kapitalbewegung, Steuerkonkurrenz) brachte einen Hyperkapitalismus hervor, der nicht nur die Ungleichheit wieder zu neuen Höhen trieb, sondern auch archaische Kräfte des Rassismus und Nationalismus wiederbelebte.

Im vierten Hauptabschnitt widmet sich Piketty den Veränderungen in den Wähler- und Parteienstrukturen und den sozialen Bruchlinien in den untersuchten Gesellschaften (USA, Europa, Indien, Brasilien), die einem Kurswechsel zu weniger Ungleichheit im Weg stehen. Die Verwerfung der in der Nachkriegszeit dominierenden traditionellen Klassenauseinandersetzung durch identitäre Konflikte erlaubt es, Wähler der Unterschichten gegen Ausländer, Fremde, Andersgläubige oder Farbige zu mobilisieren und so von der wachsenden Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, aber auch von Bildungschancen abzulenken.

Im letzten Kapitel entwirft Piketty seine Gegenstrategie eines partizipativen Sozialismus im Inneren der Staaten und eines Sozialföderalismus im Außenverhältnis (auf europäischer oder globaler Ebene). Er setzt dabei auf stark progressive Steuern auf Einkommen, Vermögen und Erbschaften, deren Erträge dazu dienen sollen, Ungleichheit weiter abzubauen, u. a. mit einer Grundkapitalausstattung für alle (120.000 Euro zum 25. Lebensjahr) und eine gleichgewichtigere Finanzierung der Bildungssysteme. Die Partizipation soll sowohl in der Wirtschaft (u. a. mehr Mitbestimmung) als auch in der Politik (Reform der Parteienfinanzierung) gestärkt werden. Im internationalen Bereich stellt er sich eine Parlamentarisierung der supranationalen Politik vor, die die Gestaltung und Akzeptanz der notwendigen Regelungen zur Einhegung des globalen Kapitalismus verbessern soll. Ein zentraler Baustein ist die Erfassung aller Einkommen und Vermögen durch Finanz- und Aufsichtsbehörden und der internationale Austausch dieser Informationen, um die geplante Besteuerung zu ermöglichen.

Überhoben, aber nicht überheblich

Im Zuge der etwa 40 Stunden dauernden Lektüre war der Rezensent wohl ebenso oft fasziniert wie verärgert. Fasziniert von der Fülle der Daten und Argumente, verärgert von der eklektischen Wahl der Literaturverweise, der Vernachlässigung zentraler Titel, dem oberflächlichen Umgang mit Theorieversatzstücken und der teilweise chaotischen Strukturierung der Stofffülle. So behandelt Piketty z. B. an einer Stelle die Folgen des Versailler Friedens mit seinen gigantischen Reparationsforderungen an Deutschland, ohne das dazu klassische Werk von John Maynard Keynes The Economic Consequences of the Peace zu erwähnen, jedoch zwei Seiten Hitlers Mein Kampf zu widmen. Für ein Buch, das sich der Ideologie der Ungleichheit und der Eigentumsgesellschaft widmet, bleiben viele Klassiker vernachlässigt, so z. B. Jean-Jacques Rousseau, Karl Marx, Pierre-Joseph Proudhon, während andere breit präsentiert werden, so z. B. Karl Polanyi und Hannah Arendt. Das neue Buch von Branko Milanović (siehe Besprechung in der NG|FH 4/2020), das zentral zu seinen Thesen passt und eine gute ergänzende (und teils auch klarer strukturierte) Analyse anbietet, hätte eine ausführlichere Betrachtung verdient – statt zweier Fußnoten zu Einzelaspekten.

Dem Buch hätte ein gründlicheres Lektorat gutgetan. So behandelt Piketty im 11. Kapitel über die Sozialdemokratie Details zur Mitbestimmung, die besser in das 13. Kapitel gepasst hätten. Im 12. Kapitel über die kommunistischen Gesellschaften macht er längere Ausführungen zur Höhe des Staatsvermögens im Allgemeinen, die dort eigentlich keinen Platz haben. Das ganze 13. Kapitel ist eine bunte Mischung aus Methodenfragen, Klima, Geldpolitik (Zentralbankbilanzen), Patriarchat usw. Man hat den Eindruck, dass der Autor von der Lawine eigener Erkenntnisse verschüttet wurde und nicht mehr die Kraft hatte, eine rigide Struktur im Detail durchzubuchstabieren. Er macht zwar am Anfang und Ende eines jeden Kapitels den hilfreichen Versuch, per Rückblick auf das letzte und Vorausschau auf das nächste Kapitel den Leserinnen und Lesern einen roten Faden in die Hand zu geben. Aber vor allem in der zweiten Hälfte des Buches geht dieser oft zwischendurch verloren.

Piketty scheint versucht zu haben, (mindestens) zwei Publikationsziele mit einem Buch zu erreichen: Zum einen wollte er die umfangreichen empirischen Arbeiten präsentieren, die er mit befreundeten Fachleuten seit seinem Großwerk von 2014 durchgeführt und in diversen Fachzeitschriften und vor allem auf seiner Website veröffentlicht hat (deren Besuch sich vor allem lohnt, wenn man noch tiefer einsteigen will). Das sind insbesondere die Studien zur Einkommens- und Vermögensverteilung in China, Indien, Brasilien und Nahost, die seine vorherigen Arbeiten ergänzen, die sich auf die USA und Westeuropa konzentriert hatten, sowie die Arbeiten zu den Wähler- und Parteistrukturen. Zum anderen konnte er sich nicht enthalten, eine Fülle von Einzelüberlegungen zu bestimmten Aspekten vorzulegen, auch gespeist durch eine oft zufällig wirkende Auswahl von theoretischen und – typisch für Piketty – auch belletristischen Werken, also Romanen und Filmen. Während die Kapitel, die die Zwischenarbeiten präsentieren, meist gut strukturiert und empirisch mit Tabellen unterfüttert sind, wirken die anderen Themen oft willkürlich ausgewählt und platziert. Das Buch hätte Stoff für mindestens drei Bücher geboten, die mehr auf ihr jeweiliges Thema und Anliegen fokussiert gewesen wären.

Piketty versöhnt sein Publikum und den Rezensenten im Schlussteil mit einer sehr bescheidenen Selbsteinschätzung seines Werkes, in der er viele Defizite einräumt und das Buch als Einstieg in eine breite Debatte vorstellt. Anspruchsvollen Lesern und Leserinnen sei im Zuge des Erwartungsmanagements empfohlen, damit die Lektüre zu beginnen. Aber trotz aller Schwächen sollte dieses Buch – auch dank des inzwischen berühmten Autors – die Diskussion über die Ungleichheit und ihre Rechtfertigung nochmals intensivieren. Es ist sein großes Verdienst, den Umfang und die ideologische Basis von Ungleichheit und verdrängte politische Optionen zu ihrer Bekämpfung wieder ins Rampenlicht gerückt zu haben. In naher Zukunft dürfte seine Bedeutung angesichts der Corona-Krise nochmals steigen: Denn die stark gestiegene Staatsverschuldung und Verwerfungen der Struktur von Einkommen und Vermögen erfordern unkonventionelle Antworten – wie sie auch nach den beiden Weltkriegen gegeben wurden. Pikettys Vorschläge und seine Dekonstruktion der Eigentümerideologie könnten und sollten den Weg für die Entwicklung sozial ausgewogener Politikoptionen ausleuchten und öffnen.

Thomas Picketty: Kapital und Ideologie. C.H.Beck, München 2020, 1.312 S., 39,95 €. Website: http://piketty.pse.ens.fr/fr/ideology

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