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Mina Gerngross

Ein Gespräch mit Martin Schulz über die Idee Europa und die zentrale Aufgabe für das neue Europaparlament»Die Impulse müssen auch aus Brüssel kommen«

 

NG/FH: Wie kann Europa mit positiven, zugkräftigen Ideen verknüpft werden?

Martin Schulz: Man bekommt Menschen sicherlich nicht dazu, sich zum europäischen Gedanken zu bekennen, wenn man nur die Funktionsweise von Institutionen beschreibt. Vom Grundsatz her ist Europa ja eine Idee: Respekt, Toleranz, Würde – über Grenzen hinweg. Das sind die Elemente, die man für eine friedliche Gesellschaft nach innen braucht. Gesellschaften, die nach innen friedlich sind, sind auch in der Lage, auf der Grundlage von Respekt für das andere Volk, Toleranz für die andere Kultur, über Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten.

Die Nationalisten behaupten dagegen, dass Zusammenleben sich nur im nationalen Rahmen gut organisieren lässt…

…was Unsinn ist. Die Europäische Union beweist in einer mehr als 75-jährigen Geschichte der Kooperation, dass es geht.

Nun werden Europawahlkämpfe diesbezüglich fast schon wie Glaubenskämpfe geführt. Warum ist der Sicherheits- und Wohlstandsschirm Europa für manche Leute nichts mehr wert?

»Erfolge der Europäischen Union werden in der Regel als Erfolge der eigenen Regierung verkauft und wahrgenommen.«

Sicherheit und Wohlstand: Das ist der zweite zentrale Punkt, wenn es um die Idee Europa geht – neben der kulturellen Errungenschaft der Demokratie, der Würde. Allerdings fragen Menschen immer auch: Wer schützt mich? Was bringt es mir? Erfolge der Europäischen Union, die es en masse gibt, werden jedoch in der Regel als Erfolge der eigenen Regierung verkauft und wahrgenommen. Misserfolge werden den komplexen europäischen Institutionen zugeschrieben. Darin sind nationale Politiker aller Couleur Meister. Sie machen die tatsächlichen Leistungen der EU damit für viele Menschen unsichtbar.

Sollte auch die Bundesregierung stärker darauf hinweisen, wenn positive Impulse – Beispiel: Regulierung der KI – aus Brüssel kommen? Sich selbst dann zurücknehmen, auch wenn medial immer nur nach Berlin geschaut wird?

Olaf Scholz ist schon bemüht, deutlich zu machen, dass es ein Gemeinschaftswerk ist, wenn in Brüssel etwas gelingt. Da war Angela Merkel etwas anders gestrickt. Sie hat ihre Europapolitik immer vorrangig innenpolitisch ausgeschlachtet, am liebsten mit sich selbst als »Mutter Europas«. Da will ich den heutigen Kanzler in Schutz nehmen. Aber es liegt natürlich auch an Brüssel selbst: Ein selbstbewusstes Auftreten der Leute an der Spitze der Institutionen hilft, das Bild geradezurücken.

Macht die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen das ausreichend?

Sie versteht es, sich selbst in Szene zu setzen. Man hat aber nie den Eindruck, dass es die durch sie repräsentierte Europäische Union ist, die da handelt. Immer ist es vorrangig sie selbst, das kannten wir ja schon während ihrer nationalen Karriere. Angenehme öffentliche Ausstrahlung, Hochglanz-Aura – aber das ist oberflächlich. Man hat nicht das Gefühl, dass durch sie Europa geprägt wird.

In der deutschen Debatte spielte zuletzt oft die Sorge um die deutsch-französische Zusammenarbeit eine Rolle. Ist das Grundgefühl für deren existenzielle Bedeutung für Europa verloren gegangen?

Nein, da darf man die Tagesdebatten nicht überbewerten. Es gab in der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen immer mal wieder diese Wahrnehmung, speziell wenn man es auf persönliche Beziehungen verkürzt. Gerhard Schröder und Jacques Chirac zum Beispiel haben erst zusammengefunden mit ihrem Nein zum Irakkrieg, vorher war es ein eher angespanntes Verhältnis. Das Verhältnis Adenauer–de Gaulle war prima, Erhard–de Gaulle funktionierte schon nicht mehr so gut. Brandt-Pompidou war am Anfang auch nicht einfach. Aber vor allem gab es immer wieder auch mal unterschiedliche Interessen zwischen Deutschland und Frankreich.

Das ist ein ganz entscheidender Punkt, der Beweis letztlich auch für den Blödsinn der Antieuropäer. Die Europäische Union hat ja nicht die Nationalstaaten abgeschafft. Deutschland ist ein souveräner Staat, Frankreich ist ein souveräner Staat und vetoberechtigt im UN-Sicherheitsrat – und eine Atommacht, was Deutschland nicht ist. Die Europäische Union hat nur einen Rahmen gesetzt, innerhalb dessen souveräne Staaten mit unterschiedlichen Interessen friedlich umgehen können. Verkürzt: In Brüssel werden Papierkriege geführt, die gehen einem oft sehr auf die Nerven. Aber sie sind keine Kriege. Vor 100 Jahren hätte ein Moment des Interessensunterschieds zwischen Berlin und Paris zu massiver Konfrontation geführt. Heute führt er zu Schlagzeilen und Spekulationen über das persönliche Verhältnis zwischen Kanzler und Präsident. Ehrlich gesagt: Letzteres ist mir lieber.

Wird die Frage, was eigentlich die französischen Interessen sind – oder auch die polnischen –, in Berlin und in der öffentlichen Debatte ausreichend berücksichtigt?

Das kann man vor allem hinsichtlich der öffentlichen Debatte zu Recht bemängeln, aber es zeigt letztlich doch auch wieder: Es gibt die nationale Souveränität, nach wie vor. Das ist auch richtig so, die Bundesrepublik Deutschland ist kein Teilstaat eines Staates Europa. Wir wollten nie eine Kopie der USA auf europäischem Boden. Was wir nie richtig hinbekommen haben, ist, dass es zusätzlich zur vibrierenden nationalen Debatte eine Debatte über den europäischen Mehrwert gibt. Das Legitimationsproblem auf europäischer Ebene entsteht exakt aus diesem Defizit.

Wie lässt es sich dann erreichen, dass wieder konstruktiv – und nicht in Abwehrhaltung – über die Zukunft Europas gesprochen wird?

Die Europäische Union hat sich immer dann weiterentwickelt, wenn sie von außen unter Druck stand. Leider – kann man da ja sagen. Solange es gut läuft, sagen alle Leute in allen Hauptstädten: Es läuft doch. Jetzt steht Europa ökonomisch gigantisch unter Druck. China, die USA, der ASEAN-Pakt, viele Wettbewerber machen Druck. Dann gibt es die militärische Bedrohung. Mit einem Trump-Amerika wächst der Druck noch mehr. Wenn Krisen erst da sind, wird in der EU aber auch meistens sehr seriös über Konsequenzen geredet.

Ein Kernthema dabei ist klar: Mit dem Einstimmigkeitsprinzip werden wir zu oft zum Stillstand verurteilt. Wir brauchen den Mut zu häufigeren Mehrheitsentscheidungen – und Olaf Scholz tritt auch dafür ein. Aber aus den vielen sogenannten Konferenzen zur Zukunft Europas, die von der Kommissionspräsidentin groß angekündigt worden waren, ist rein gar nichts entstanden. Die Empfehlungen sind immer die gleichen: mehr Transparenz, verständlicher werden, Sicherheitspolitik besser machen, eine andere Steuerpolitik. Es wird Zeit, dass etwas passiert.

Brauchen wir dann nicht gerade jetzt so etwas wie einen gemeinsamen deutsch-französischen Reformimpuls?

»Im Europa der 27 braucht es Antworten, die nicht von einigen wenigen Ländern vorgegeben werden.«

Das reicht nicht, dieser bilaterale Ansatz ist heute keine ausreichende Antwort mehr. Es gibt immer mehr Mitgliedstaaten, die klar sagen: Die deutsch-französischen Interessen können Europa nicht alleine steuern. Es ist gut, dass mit Donald Tusk als polnischem Ministerpräsidenten jetzt wieder ein Partner im Weimarer Dreieck mit Deutschland und Frankreich da ist, aber selbst das reicht nicht. Dänemark, Österreich, Italien, die Osteuropäer und viele andere: Im Europa der 27 braucht es Antworten, die nicht von einigen wenigen Ländern vorgegeben werden. Weil das so ist, müssen die großen Impulse auch aus Brüssel kommen und die Nationalstaaten gezwungen werden, sich ihrerseits dazu zu verhalten. Das betrifft vor allem die Reformen, die notwendig sind, bevor die EU erweitert werden kann.

Wird so etwas im künftigen Parlament mit nochmal mehr Rechtsextremen nicht noch unrealistischer, zudem bei einer noch konservativeren EU-Kommission?

Ein mutiger Präsident des Europäischen Rates zum Beispiel – mutiger jedenfalls als der jetzige, Charles Michel – könnte den Staats- und Regierungschefs klar sagen: Ihr müsst Euch bewegen. Es geht so nicht, dass wir ständig alle 27 zusammen sitzen und der einzige Fortschritt ist der kleinste gemeinsame Nenner. 26 werden dann vielleicht sagen: An uns liegt es nicht, es liegt an Viktor Orbán. Dann aber muss der Präsident des Europäischen Rates den Kampf mit Orbán aufnehmen. Die Kommission ist ja wieder vor Ungarn eingeknickt und hat gesperrte Gelder ausgezahlt, unfassbar für mich. Dass das Europäische Parlament nun deswegen die Kommission verklagen muss, würde eigentlich dafür sprechen, dass Frau von der Leyen keine zweite Amtszeit bekommen sollte.

Wenden wir es konstruktiv: Was könnte realistisch in der nächsten Legislaturperiode des Europaparlaments bewegt werden?

Die Erfahrung ist, dass alle sich werden bewegen müssen, wenn der Druck im Kessel steigt. Auch im nächsten Parlament wird es eine große Mehrheit der Proeuropäer geben: Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale, Grüne. Also kann es doch nur einen Weg geben. Die Mehrheit der Proeuropäer muss sich zusammenschließen und präzise Bedingungen für die Person, die für das Amt als Kommissionspräsident/in vorgeschlagen wird formulieren. Das ist der Hebel, den jedes Parlament zu Beginn der Legislaturperiode hat, denn ohne die Zustimmung des Parlaments kann niemand an die Spitze der Kommission kommen. Von der Leyen ist nun ja virtuelle europaweite Spitzenkandidatin der Christdemokraten, was ich auch für einen schlechten Witz halte…

…und zugleich in der Kommission die Vertreterin eines Deutschlands, das von einer Ampelregierung geführt wird.

Alleine diese Konstellation zeigt schon den Mangel an klaren, für die Menschen überschaubaren Verhältnissen – aber es ist jetzt so. Ich würde für die Zustimmung zu egal welcher Kommissionsspitze klare Bedingungen stellen und verbindliche Zusagen verlangen. Reform vor Erweiterung zum Beispiel. Dauerhafte Finanzierungszusagen für die Programme Green New Deal und NextGenerationEU. Aus sozialdemokratischer Sicht: Der Stabilitäts- und Wachstumspakt in der heutigen Form würgt die Investitionsmöglichkeiten der Staaten ab. Verbindlich zu klären ist, wie er reformiert werden sollte. Ich würde so die Rechte des Parlaments zurück erkämpfen – und die Kandidatin oder den Kandidaten in die Situation bringen, sich in den genannten Punkten vor der Abstimmung im Parlament mit den Staats- und Regierungschefs auseinandersetzen zu müssen, um verlässliche Zusagen machen zu können.

Was bedeutet, dass es auf den Mut zur Führungsrolle im neuen Parlament ankommen wird?

Es bedeutet, dass das Parlament sehr selbstbewusst auftreten muss. Die vier Fraktionschefs von Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen müssen sich zusammensetzen und einen gemeinsamen Katalog aufstellen. Wenn man die Wahlprogramme nebeneinanderlegt, ist das nicht unmöglich. Wer will, dass sich in Europa etwas bewegt, darf nicht darauf warten, dass eine konservative Kommission oder ein konservativ geführter Europäischer Rat sich zu irgendetwas bequemt. Das neu gewählte Parlament muss mit dem Schwung handeln, den eine Europawahl immer mit sich bringt. Das wünsche ich mir – und so sollten es auch alle Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer den Menschen in Aussicht stellen.

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