Menü

© picture alliance / imageBROKER | uwe umstätter

Die Infantilisierung der Gesellschaft?

Demokratie ist etwas für Erwachsene. Wenn das jemand sagt, der sich einst als Jugendlicher unbefangen und manchmal wohl auch unbedacht, jedenfalls voller Elan in die politische Auseinandersetzung stürzte, könnte der Verdacht aufkommen, dass hier einer seine eigene Vergangenheit verleugnet und nun in altväterlicher Borniertheit jungen Menschen das Recht und die Fähigkeit absprechen wollte, sich mit eigenen Ideen und eigenen Aktionsformen in die politischen Diskussionen und Entscheidungen unserer Demokratie einzumischen.

Das aber ist hier nicht gemeint. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, dass ein Großteil der Jugend sich heute als ausgesprochen erwachsen erweist, erwachsener als viele Ältere, die stumpfsinnig ihren betagten Routinen folgen. Das lässt sich nicht zuletzt an der Fridays-for-Future-Bewegung ablesen. Vor allem Mädchen und junge Frauen sind es, die sich in einer Lebensphase, in der sie üblicherweise die Weichen für ihre berufliche Zukunft und ihre private Lebensplanung stellen, mit hohem Zeitaufwand und großem Verantwortungsbewusstsein sozial und politisch engagieren. Erwachsensein ist eben nicht einfach eine Frage des Alters, es ist vielmehr ein intellektueller und emotionaler Reifezustand, der sich bei manchen Menschen früher, bei manchen später und bei manchen überhaupt nicht einstellt.

Für das Erwachsensein, so der Ökonom und Psychiater Stefan Brunnhuber in seinem Buch Die Kunst der Transformation. Wie wir lernen, die Welt zu verändern, sind vor allem jene Fähigkeiten bezeichnend, die im Fachjargon der Psychologen und Lebenswissenschaftler Exekutivfunktionen heißen, also: »die Fähigkeit zum zielgerichteten Handeln, zur Vorwegnahme von Problemkonstellationen, zur Priorisierung von Fragestellungen, zum strategischen Vorgehen, die Fähigkeit zur Impulskontrolle, zur Aufmerksamkeitslenkung, die Fähigkeit, Wünsche und Bedürfnisse aufzuschieben, sowie die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel«. Vor allem diese Eigenschaften sind es auch, die wir bei Demokraten meinen voraussetzen zu dürfen, an die wir appellieren, wenn es in öffentlichen Debatten darum geht, sich der gemeinsamen Faktenbasis zu vergewissern und zwischen verschiedenen Personen und Programmen eine vernünftige Wahl zu treffen.

In der Coronakrise haben sich die Deutschen – jedenfalls bisher – in diesem Sinne in großer Mehrheit als erwachsen erwiesen. Das schien noch vor gar nicht langer Zeit ganz anders zu sein. Es ist nur wenig mehr als zehn Jahre her, als, ausgelöst durch Benjamin Barbers mehr pamphletisch alarmierenden als stringent argumentierenden Bestseller-Essay Consumed! auch in Deutschland eine aufgeregte Diskussion darüber stattfand, wie der Markt Kinder und Erwachsene gleichermaßen verführt, immer mehr Menschen infantilisiert und so die Bestandsvoraussetzungen der Demokratie untergräbt. Die moderne Konsumwelt, so konnte man in den Nullerjahren und auch noch danach von kritischen Intellektuellen häufig hören und lesen, biete ein umfassendes und nahezu unwiderstehliches Regressionsangebot, das absehbar dazu führen müsse, dass schließlich adulte Kinder nicht mehr von den infantilisierten Erwachsenen zu unterscheiden seien. »Der infantilisierte«, schrieb damals Ludger Lütkehaus in seinem Essay Die infantilisierte Gesellschaft, »ist der ideale, widerstandslose Konsument, das hörige Objekt einer altersübergreifenden kommerziellen Bewusstseinsindustrie, die die Kindlichkeit der Kinder zum Dauerzustand, die Reinfantilisierung sogenannter Erwachsener zum Regressionsziel macht«.

Was dabei in den westlichen Demokratien oft an augenzwinkernder Scheinpolitik herauskommt und als »Normalität« gefeiert wird, hat der amerikanische Satiriker Eric T. Hansen 2013 in der Zeit einmal so dargestellt: »Wir (linken) Amerikaner wollen einen friedliebenden Präsidenten, trotzdem soll er uns vor einem erneuten 11. September schützen. Die Franzosen wollen den Sozialismus, aber mit allen Vorteilen des Kapitalismus, mais oui. Die Deutschen wollen eine weiße Weste, aber ohne wirtschaftliche Nachteile, mit Verlaub. Die heimliche Funktion von Politik in diesem Sinne ist eben nicht, die Welt wirklich besser zu machen, sondern uns nur das Gefühl zu vermitteln, dass wir eine bessere Welt ohne Krieg, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Leid wollen – während wir faktisch eine ganz andere Welt anstreben: eine, in der wir billig essen und uns billig einkleiden können. Das aber ist keine Politik, das ist Unterhaltung.«

Der Demokratie, so die naheliegende Schlussfolgerung, komme auf diese Weise allmählich ihr Subjekt abhanden, der urteils- und kritikfähige Bürger, der sich den wirklichen Problemen stellt, in Wahlen vernünftig begründete Entscheidungen fällt, sich in der Zivilgesellschaft engagiert, von den Vertretern der Exekutive Rechenschaft einfordert und sich ansonsten an die Gesetze und an die Regeln des Anstands und der Zivilität hält. In gewisser Weise wurde dieser Befund, jedenfalls für die USA, auch durch die Ergebnisse einer groß angelegten wissenschaftlichen Untersuchung bestätigt, die die beiden Politikwissenschaftlerinnen Heather Ondercin und Mary Lizotte vor einiger Zeit in dem amerikanischen Fachblatt American Politics Research veröffentlichten. Auf einer breiten Datenbasis belegen sie, dass die Animosität und Unfähigkeit zu argumentativer Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der Demokraten und der Republikaner in den USA im Zeitraum von 1980 bis 2016 stetig zugenommen habe und dass dies darauf zurückzuführen sei, dass für die Demokratie so wichtige Tugenden wie Realismus und Kompromissfähigkeit, Impulskontrolle und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel immer mehr Menschen durch die Einkapselung in medial organisierten Echoräumen abhanden kommen.

Ist also die zunehmende Verfeindung zwischen den beiden politischen Lagern in den USA ein schlagender Beleg für das, was Barber mit seiner Infantilisierungsthese meinte? Ist die Tatsache, dass Donald Trump, nach allem, was er sich in seiner vierjährigen Amtszeit an Lügen, Tabubrüchen und offenkundigen Fehlern leistete, die Zahl seiner Wähler noch einmal steigern konnte, nur mit der Infantilisierung großer Teile der amerikanischen Wählerschaft zu erklären? Bestätigt die Tatsache, dass Trump und seine Anhänger sich bis heute als unfähig erweisen, die offenkundige Wahlniederlage von 2020 zu akzeptieren, Barbers These? Oder sollten wir die Tatsache, dass Trump nicht gewonnen und die Mehrheit der Amerikaner den auf Ausgleich und Versöhnung setzenden Joe Biden zum Präsidenten gewählt haben, eher als Beleg dafür ansehen, dass es ganz so schlecht um die Amerikaner und um ihre Demokratie nun doch nicht steht?

Und wie sieht es in dieser Hinsicht in Deutschland aus? Schließlich gibt es auch in Deutschland lautstarke Gruppen, die es unter den Bedingungen einer Pandemie als ihr gutes Recht ansehen, sich mit beliebig vielen anderen zum Feiern zu treffen, die trotzig das Tragen einer Maske und Abstandhalten verweigern und damit sich selbst und ihre Mitbürger gefährden. Es gibt verstörte, um nicht zu sagen: gestörte Menschen, die an groteske im Internet verbreitete Verschwörungstheorien glauben und sich zusammen mit Rechtsradikalen unter Demonstranten mischen, die in den Anti-Corona-Maßnahmen der Regierung nur Behördenwillkür, Missachtung grundgesetzlich garantierter Rechte oder gar einen Versuch der Machtergreifung durch die Exekutive zu erkennen meinen. Offenbar gibt es bei diesen Demonstrationen auch Menschen, die die Maßnahmen mit diskutablen Argumenten kritisieren. Aber im Hintergrund operieren politische Drahtzieher aus rechten Organisationen und Parteien, die nicht an der kritischen Kontroverse interessiert sind, sondern nur daran, die merkwürdige Mischung aus infantiler Realitätsverweigerung und durchaus bedenkenswerter Kritik für ihr antidemokratisches Zerstörungswerk zu nutzen.

Nach der gängigen Definition sind infantile Menschen leicht beeinflussbar, ichbezogen und unfähig, feste Bindungen einzugehen. Sie neigen zum Trotz, ihr Weltverständnis ist weniger das Ergebnis eigener Erfahrungen und des Abgleichs ihrer Erfahrungen mit denen anderer als ein Produkt ihrer Fantasie und ihrer frustrierten Wünsche, ihnen mangelt es an Umsicht und Verantwortung und sie handeln selten mit klarer Zielsetzung und Struktur. Bestärkt und verfestigt werden solche Persönlichkeitszüge, wenn Menschen in einer der vielen Echokammern des Internets und im exklusiven Umgang mit Gleichgesinnten ständig nur Bestätigung erfahren. Die hieraus resultierende Selbstbezüglichkeit hindert solche infantilen Menschen allerdings nicht daran, öffentlich für ihre kruden Thesen und gegen ihre imaginierten Feinde aufzutreten. Wenn sie aber bei dieser Gelegenheit mit anderen Meinungen oder mit Fragen nach der Begründung des eigenen Standpunkts konfrontiert werden, lassen sie sich zumeist auf Diskussionen gar nicht ein, sondern gebärden sich trotzig-aggressiv, schreien mit dem Fuß aufstampfend ihr Gegenüber an – kurz, sie verhalten sich, wie es den meisten von uns aus dem Umgang mit Kindern in der Trotzphase vertraut ist.

Aber wir sollten uns davor hüten, uns durch das auffällige Gebaren einer Minderheit zu einer falschen Einschätzung des Phänomens insgesamt verleiten zu lassen. Schon bei den Pegida-Demonstrationen war die Behauptung »Wir sind das Volk« eine dummdreiste Anmaßung, und auch jetzt wieder handelt es sich bei den Aufmärschen sogenannter »Querdenker« um den Versuch einer kleinen, zumeist im Hintergrund agierenden Minderheit, uns einzureden, die deutsche Regierung sei im Zuge der Pandemiebekämpfung drauf und dran, eine Diktatur zu errichten. Das ist zwar absurd, aber ein Beweis für die zunehmende Infantilisierung der Gesellschaft ist es sicher nicht. Wer registriert, wie gelassen und vernünftig die große Mehrheit der Deutschen nach wie vor auf die Einschränkungen reagiert, die durch die COVID-19-Pandemie notwendig werden, wird Barbers allzu pauschale These nicht akzeptieren können.

Freilich muss dies auch nicht heißen, dass wir als Gesellschaft in der großen Mehrheit tatsächlich bereit sind, uns den großen Herausforderungen der Zeit mit Mut und Realismus zu stellen. Die Tatsache, dass sich die große Mehrheit der Deutschen in der Coranakrise als vernünftig und erwachsen beweist, ist keine Garantie dafür, dass nun endlich auch wir uns als fähig erweisen, die sich abzeichnenden Bedrohungen im Zusammenhang mit der Klimaveränderung, die wachsende Ungleichheit und die Entmündigung der Menschen im globalen Süden klar ins Auge zu fassen, die sich ergebenden Handlungsmöglichkeiten wahrzunehmen, Wünsche und Bedürfnisse, die der Notwendigkeit zu handeln im Wege stehen, vorerst hintanzustellen, um entschlossen an den Umbau der Gesellschaft zu gehen. Und es ist keineswegs gesagt, dass wir auf Dauer gegen die autoritäre Versuchung gefeit sind.

Zwar scheint die Mehrheit der Deutschen und der Bevölkerung in den meisten anderen westlichen Industriestaaten zur Zeit im Großen und Ganzen mit den etablierten Strukturen und Verfahren der Demokratie zufrieden zu sein. Aber das heißt nicht, dass die westliche Demokratie ihnen als alternativlose Staatsform gilt, die sie um keinen Preis zur Disposition stellen würden. Viktor Orbán in Ungarn hat sich – mit weitgehender Zustimmung der ungarischen Bürger und viel Geld aus Brüssel – als Autokrat bereits fest installiert, Jarosław Kaczyński und die polnische PiS und Janez Janša in Slowenien sind auf dem besten Weg, es ihm gleich zu tun. Überall in Europa, nicht nur in den USA, finden mehr oder weniger charismatische Autokraten mit ihren populistischen Parolen Anklang.

Die liberale Demokratie, das sollten wir nicht übersehen, ist nicht für alle von vornherein anziehend. Wo sie mit dem Kapitalismus als ihr eigentliches Betriebssystem eng verbunden ist, neigt sie zu einem weltfremden Individualismus, der die existenzielle Angewiesenheit der Menschen auf ihre Mitmenschen systematisch negiert. Als Projekt ist sie vielen Menschen zu anstrengend, erst recht, wenn die zu bearbeitenden Problemlagen in einer globalisierten Welt immer komplizierter werden. Freiheit im Sinne einer Kultur des argumentativen Streits und der Deliberation mag für ein Großteil der gebildeten Eliten per se attraktiv sein, wenn wir von der altbekannten elitär-vitalistischen Minderheit, die das »Gerede« und »Gefeilsche« in den Parlamenten schon immer verachtete, einmal absehen. Für das »gemeine« Volk ist sie es aber zumeist nicht. Für die große Mehrheit der Menschen scheint die Demokratie nur solange akzeptabel, solange sie ihnen handgreifliche Vorteile und ein Gefühl der Zugehörigkeit und der Beheimatung bietet. Wo dies nicht der Fall ist, ist die Regression in eine trumpsche Welt auch bei uns in Europa jederzeit möglich.

Sandra Heep, Professorin für Wirtschaft und Gesellschaft Chinas an der Hochschule Bremen, hat kürzlich mahnend auf diesen Umstand hingewiesen. In einem Aufsatz für das Online-Magazin ipg schreibt sie »(…) demokratische Ordnungen mit ihren hohen Anforderungen an Eigenverantwortlichkeit, Kompromissbereitschaft und Fähigkeit im Umgang mit Ungewissheit [erscheinen] nicht wenigen Menschen als unbequem und überkomplex, während autoritäre Bewegungen mit ihren Scheinangeboten simpler Lösungsansätze, ihren übersichtlichen Freund-Feind-Schemata und ihrer affektiven Kommunikation versprechen, den Einzelnen von der Last der Verantwortung zu befreien und ihm kognitive Orientierung und emotionale Einbindung zu bieten.« Nach ihrer Ansicht genügt es nicht, wenn die Repräsentanten der Demokratie kühl und sachlich an die Vernunft der Menschen appellieren und auf Angebote der emotionalen Identifizierung mit der Demokratie verzichten. Darum rät sie dazu, der Demokratie einen »emotionalen Anstrich« zu geben und »durch Charisma, affektive Kommunikation und kreative Ideen Angebote zur Orientierung und Identifikation zu unterbreiten, die im Gegensatz zu den Offerten der Autoritären nicht Abgrenzung und Wut, sondern Gemeinschaftssinn und Zuversicht in den Mittelpunkt stellen und so die demokratische Bürde erleichtern. Demokratische Parteien sollten sich bei der Auswahl ihres Spitzenpersonals (…) wieder vor Augen führen, dass charismatische Führung kein Alleinstellungsmerkmal autoritärer Regime ist, sondern dass auch Demokratien Politiker benötigen, die es verstehen, Wähler zu begeistern und sie so zu politischem Engagement zu motivieren.«

Das ist sicher ein erwägenswerter Gedanke und zugleich auch als Kritik an unserem oft allzu nüchtern-sachlichen und emotionsarmen politischen Führungspersonal zu verstehen. Allerdings glaube ich nicht, dass ein solcher »emotionaler Anstrich« der Demokratie genügt, um die Gefahr des Autoritarismus zu bannen. Hinzukommen muss eine entschlossene Politik sozialer Gleichheit, die auch vor Umverteilung im nationalen und im internationalen Rahmen nicht zurückscheut, weil alle Rhetorik von Gemeinschaftssinn und Zuversicht wenig glaubwürdig wirkt, wenn sie ohne praktische Folgen bleibt und damit der Lebenswirklichkeit des »gemeinen Volks« den Respekt versagt.

Kommentare (1)

  • Martin Riedl
    Martin Riedl
    am 25.02.2024
    Was wir brauchen ist automatische Bildung und echte Demokratie anstelle Republik.
    Dann verliert Niemand den Bezug zur Wahrheit und pe Kooperation werden die Probleme gelöst.
    Siehe www.mit-rede.de

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben