Die »Johanna« ist eigentlich die Johanna-Eck-Schule, eine Integrierte Sekundarschule im Süden Berlins, benannt vor etwa zehn Jahren nach einer Frau, die dadurch bekannt wurde, dass sie 1973 als Gerechte unter den Völkern geehrt wurde: für ihren außerordentlichen Mut, vier Menschen vor nationalsozialistischer Verfolgung versteckt und gerettet zu haben. Da sie keinem Widerstandskreis angehörte, sondern nur verlässliche Bekannte einweihte, ist einerseits bedauernswert wenig über sie bekannt, was andererseits die Chance für unsere Jugendlichen bietet, selbst Anknüpfungspunkte zu suchen. Eine Chance, die wir seit über fünf Jahren gründlich nutzen. Wir verstehen nämlich das gemeinsame, wenn auch individuell sehr unterschiedliche »Aufwachsen in Europa« nicht nur geografisch, sondern auch als Boden, auf dem interkulturelle Bildung gedeihen und gelingen kann, wenn man sich glaubwürdig darum bemüht.
»Zum Gelingen interkultureller Bildung haben wir weder als Schule noch als Gesellschaft eine Alternative.«
Zum Gelingen interkultureller Bildung haben wir weder als Schule noch als Gesellschaft eine Alternative, schon wegen der vielfältigen kulturellen Hintergründe in Schüler- und Elternschaft oder unter den Mitarbeitenden. Mit zeitweise zehn Willkommensklassen an zwei Standorten bieten sich reichlich Gelegenheiten, die wir auf sehr unterschiedliche Weise nutzen – nicht nur curricular – und immer nach dem Blaupausen-Prinzip, denn alle Konzepte stricken wir so, dass sie zur Nachahmung taugen und natürlich modifizierbar sind.
Wir sind immer erfreut, wenn unsere Einladung zur Kontaktaufnahme genutzt wird und nicht selten erstaunt über die mutlosen Reaktionen (etwa: »Das klingt aber aufwändig, das wird bei uns nicht klappen.«) Genervte Fragen wie: »Was sollen wir denn noch alles machen?« und Einwände wie: »Das kann doch nicht unsere Aufgabe als Schule sein« mag die Johanna-Familie nicht gelten lassen und hält geschlossen entgegen: »Die Zeit, die wir in die Realisierung unserer Konzepte stecken, führen in anderen Bereichen zu satten pädagogischen Dividenden!«
Einige unserer »Anknüpfungspunkte« für interkulturelle Bildung, die wir nutzen, seien an dieser Stelle genannt. Und sie sollen nicht im Ungefähren bleiben, sondern konkret sein und durchaus anekdotisch. Denn die Anlässe und Gelegenheiten, mit denen wir interkulturelle Klischees aufgreifen und lieber nachzeichnen und konterkarieren, statt den Zeigefinger zu erheben, erreichen nicht selten hohen Unterhaltungswert.
»Solidarität unter Landsleuten«?
Ein türkischstämmiger Vater kommt zum Elterngespräch für seinen Sohn, der noch nicht verstanden hat, dass sein Charme bei Regelverstößen an der Johanna nicht verfängt, und der meint, er könne sich aussuchen, welchen Mitgliedern der Schulfamilie er Respekt zollt und welchen nicht. Respekt übrigens, den er jederzeit bereit ist, für sich selbst einzufordern. Vorab hat der Vater in Verkennung des Problems schon mal im Sekretariat angerufen, um zu klären, ob der Schulleiter wirklich Türke sei. Die Sekretärin hört diese Frage nicht zum ersten Mal, wenn auch mit unterschiedlichen Konnotationen und Untertönen. Hier geht es zweifelsfrei um die Erwartung einer »Solidarität unter Landsleuten«.
Sie antwortet routiniert, dass der Schulleiter Deutscher sei und schiebt scheinheilig und mit einem Schmunzeln, das der Vater ja nicht sehen kann, die Frage hinterher, warum der Vater meine, dass die Nationalität des Schulleiters eine Rolle für das Elterngespräch spielen könne. Der Vater antwortet ausweichend bis gar nicht und bestätigt nur den Termin.
»Sein Gesicht hellt sich auf, als er den türkischen Familiennamen der Sekretärin sieht.«
Als er zum Gespräch erscheint, schaut er zunächst auf die Namen am Sekretariatsschild und sein Gesicht hellt sich auf, als er den türkischen Familiennamen der Sekretärin sieht. Nur kurz zeigt er sich irritiert, dass die Namensträgerin so gar nicht seinem Bild einer türkischen Angestellten entspricht: Sie ist ausgesprochen groß, blond und dazu offensichtlich weitgehend frei von Türkischkenntnissen. Auf die Idee, dass die glücklich verheiratete Sekretärin den Namen ihres türkischstämmigen Ehemanns angenommen haben könnte, kommt er nicht sofort.
Seine Irritation steigert sich noch, als der Schulleiter auf ihn zukommt: Er mustert diesen eingehender, als es höflich wirken kann und ist sich nun dessen türkischer Wurzeln ganz sicher und deshalb auch zunächst erleichtert. Automatisch wechselt er trotz Anwesenheit einer Lehrkraft, die des Türkischen nicht mächtig ist, in seine türkische Muttersprache, in der Erwartung, dass der Schulleiter froh sein werde, ebenfalls ins Türkische wechseln zu können. Obendrein äußert er jovial seine Vermutung, dass man sich sicher einig sei, dass es bei dem Respekt, der Lehrkräften und anderen schulischen Autoritäten von den Kindern und Jugendlichen zu zollen sei, »natürliche Abstufungen« gäbe, was Frauen und Männer, was ältere und was jüngere Erwachsene beträfe.
Der Schülervater irrt in dieser Erwartung kumpelhafter Solidarität »unter Landsleuten« und ist, als er das erkennt, nur noch mehr irritiert. Zögerlich und mit leichtem, gleichwohl erkennbaren Widerwillen fügt er sich in die offensichtliche Weigerung des Schulleiters, dieses offizielle Gespräch in einer anderen als der schulischen Amtssprache Deutsch zu führen und räumt schließlich auch ein, dass sein Sohn allen Mitgliedern der Schule Respekt zu erweisen habe, weitere Abmachungen zum künftigen Verhalten des Sohnes werden erzielt.
Als er mit seinem Sohn hinausgeht, kreuzt ihr Weg zufällig den eines weinenden Mädchens, das aufgelöst ins Sekretariat kommt. Der Schulleiter kennt sie und weiß, dass sie gerade Liebeskummer hat. Also spricht er sie tröstend, und in diesem Fall gerne auf Türkisch an. Der Vater dreht sich verblüfft um und sagt – mit einer Mischung aus Überraschung sowie leichter Entrüstung – und bemerkenswerterweise auf Deutsch: »Also können Sie ja doch Türkisch!«
»Woher soll ich das wissen?«
Im Geschichtsunterricht geht es um Nationalsozialismus, dessen Terrorherrschaft über Europa, um Widerstand und Exil. Schüler E. ist genervt. Er beklagt demonstrativ, nicht zu wissen, was ihn das alles angehe, seine Familie habe damals noch gar nicht in Deutschland gelebt. Sein Geschichtslehrer hört diesen Einwand nicht zum ersten Mal und ist vorbereitet. Er eröffnet die Diskussion darüber, ob das »nur ein Thema für Deutsche« sei, wie E. sagt, der übrigens auch einen deutschen Pass hat.
Schülerin M. mag das nicht gelten lassen. Sie hat für ihren Beitrag zum alle zwei Jahre ausgelobten Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, an dem sie sich auch dieses Jahr wieder beteiligen wird, intensiv zu Biografien Geretteter recherchiert und ist dabei auf prominente Exilanten gestoßen, die vor nationalsozialistischer Verfolgung in die Türkei flohen, etwa den späteren Berliner Bürgermeister Ernst Reuter. Sie wundert sich – und auch wieder nicht – dass der auch sonst historisch nicht besonders interessierte E. das nicht weiß, obwohl er doch sonst stets Verdienste der Türkei zu nennen weiß. Sie nennt noch weitere Exilanten, die in der Türkei den Nationalsozialismus überstanden haben. E. kontert »Woher soll ich das wissen? Ich bin nicht in der Türkei aufgewachsen.«
Aber es entspann sich eine interessierte Debatte darüber, was die Geschichte an unterschiedlichen Biografien, Perspektiven und Schlussfolgerungen für unterschiedliche Hintergründe biete. E. kündigt vage an, sich unter diesem Aspekt doch noch mehr als ursprünglich beabsichtigt für das Thema zu interessieren, auf die ihm eigene Art: »Dann hatte Berlin ja sozusagen schon mal einen türkischen Bürgermeister. Krass!« Zu seiner Banknachbarin flüstert er: »Das google ich heut Nachmittag, da gibt’s bestimmt noch mehr, die wir vor den Nazis gerettet haben.«
Schülerin C. schmunzelt. Sie hat im Unterschied zu ihrem Klassenkameraden längst ein inneres Gleichgewicht gefunden: aus Heimatgefühl zu Deutschland, wo sie geboren wurde, aufwächst und dessen Pass sie trägt, einerseits – und der Türkei, woher ihre Familie stammt, die mit der ersten »Gastarbeiter«-Generation hierherkam. Sie hat eine Idee davon, worauf E. bei seiner Recherche über die Rolle des Osmanischen Reiches sonst noch so stoßen wird, und lächelt wissend.
Ein Wandel der Inhalte, Ebenen, Orte und Richtungen
Die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas kommt – und wird im Foyer nicht etwa vom Schulleiter begrüßt, sondern von »Johanna-Botschaftern«. Zu diesem Kreis gehören Schülerinnen und Schüler aller Jahrgänge und Herkünfte, die die Johanna vor Ort und nach außen vertreten dürfen. Die Zusammensetzung des jeweils aktiven Teams wechselt, aber die Mischung stimmt immer! Manche Schulleiterkolleg/innen oder auch wichtige Repräsentanten der Demokratie geben offen ihrem Erstaunen Ausdruck, dass der Schulleiter das ganz ohne Schweißperlen auf der Stirn übersteht. Das Gegenteil ist der Fall: Als zum Beispiel die Johanna-Botschafter eingeladen sind, mit einem Beitrag zur Eröffnung der gemeinsamen Ausstellung des deutschen Bundestags und dem Deutschen Freundeskreis Yad Vashem (»Sechzehn Orte – Siebzig Jahre Yad Vashem«) beizutragen, sind es eben die Schüler/innen, die die Bundestagspräsidentin an die Schule einladen. Deren leicht zögerlicher Blick weicht einem zugewandten Lächeln, als eine der Botschafterinnen nachschiebt »…natürlich auch im Namen unseres Schulleiters!«
Bei dem Besuch wird ein Platz auf dem Schulgelände nach Elisabeth Selbert benannt, jener »Mutter des Grundgesetzes«, deren Hartnäckigkeit für die Aufnahme des Satzes »Männer und Frauen sind gleichberechtigt!« in Artikel 3 des Grundgesetzes gesorgt hat. Auch das Thema Gleichberechtigung gehört an der Johanna zum Programm des interkulturellen Lernens! Nahezu alle Fachräume der Schule sind nach bekannten und weniger bekannten Frauen benannt, die in ihren Bereichen etwas Besonderes leisteten. Ein Umstand, der für manche Mitglieder der Schulfamilie durchaus gewöhnungsbedürftig war.
Mit der gesellschaftstypisch veränderten Zusammensetzung der Schulfamilie geht auch ein Wandel der Inhalte, Ebenen, Orte und Richtungen des interkulturellen Austauschs und Lernens einher, dem Rechnung zu tragen ist, wenn interkulturelle Bildung »up to date« sein will und nicht nur gegenseitige Toleranz über sichtbare nationale und weniger sichtbare innergesellschaftliche Grenzen hinweg »mitwachsen« können soll. Die Johanna engagiert sich dabei über den Unterricht hinaus für größtmögliche Vielfalt an Formaten und Zugängen und berücksichtigt, dass nicht nur Jugendliche hierbei lernen wollen und sollen.
Kommentare (1)
Monika Haussig-Völler
06.02.2025 - 04:32 Uhr