Menü

© picture alliance / Flashpic | Jens Krick

Zwei Bücher über die neue Politikergeneration Die jungen Milden

Wer liest, tut dies manchmal ja auch gerade deshalb, um vorübergehend die Zeit, seinen Körper, das Alter, die Notwendigkeit der Kleiderwahl und überhaupt das ganze Verhaftetsein in der komplizierten, kriselnden Gegenwart auszublenden. Bei der Lektüre der beiden Bücher, um die es im Folgenden gehen soll, lohnt aber durchaus ein kurzer Blick hinunter aufs eigene Schuhwerk: Wenn da nämlich weiße Sneaker zu sehen sind, könnte man selbst jener Generation angehören, auf die es derzeit im politischen Entscheidungsprozess ankommt wie auf keine andere und die dennoch schwer zu fassen ist – nicht zuletzt von sich selbst.

Als Die Geschmeidigen labelt die 1982 geborene Schriftstellerin Nora Bossong die von ihr befragte Elite der Jahrgänge 1975 bis 1985, darunter Politikpersonal wie Katja Kipping, Lars Klingbeil, Dorothee Bär, Paul Ziemiak und Omid Nouripour (Alice Weidel hatte abgelehnt). Sie spricht aber etwa auch mit dem Schriftstellerkollegen Daniel Kehlmann, der ehemaligen Siemens-Managerin Rosa Riera, der Kunsthistorikerin Hana Gründler oder dem Oberstleutnant Björn Ebersoll, der das Bundesverteidigungsministerium in Rüstungskooperationen berät. Dass Bossong sich bei diesen Begegnungen auch selbst kritisch zu befragen gedenkt, verrät schon der ironisch paternalistische Untertitel: »Meine Generation und der neue Ernst des Lebens«.

Diese Generation ist Bossong zufolge in zumeist gesicherten Verhältnissen aufgewachsen, durch die Wiedervereinigung schien das »Ende der Geschichte« (Francis Fukuyama) gekommen und damit der Glaube, man müsse sich fortan nur noch »um das Kleingedruckte« kümmern. Doch die eingeübte Gewissheit, dass am Ende immer alles gut werde, habe Risse bekommen: 9/11 war noch zu irreal, doch mit der Klimakrise, der Pandemie und dem Sturm auf das Kapitol habe endgültig der neue Ernst des Lebens begonnen. Geschrieben wurden beide Bücher noch vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine; obsolet sind sie deshalb nicht, sie schärfen vielmehr den Blick auf die Dynamiken innerhalb der neuen Bundesregierung.

Selbstironie, schreibt wiederum die drei Jahre ältere Anna Sauerbrey, ist gerade bei denen, die »nicht mehr jung« sind, »aber auch nicht alt« (wie Annalena Baerbock ihre Generation vorstellte) und die gerade erst ein Bewusstsein für die eigene Zeitlichkeit entwickeln, oftmals das »rettende Festland«. Für die Politikjournalistin ist es ein wesentliches Merkmal der »Generation X«, also der zwischen 1965 und 1980 Geborenen, dass sie gar kein besonders ausgeprägtes Generationsbewusstsein hat. Jedenfalls noch nicht. Das Ringen um die Ampel nennt sie einen regelrechten Akt des »generation building«: Wer sich zwingt, auf den Begriff zu bringen, was er (sein) will, erschafft sich erst jenes Narrativ, das zu einer Vorstellung der »eigenen Generation« führt.

Ambivalenzen umarmen

Ironie ist freilich nicht nötig, wenn man gelenkig genug ist, um sich ein Narrativ zu geben, das Ambivalenzen einfach umarmt. Bossong adaptiert die Widersprüche ihrer Generation beherzt, recherchiert als teilnehmende Beobachterin und als Freundin. Dabei taucht sie mal in konservative, mal in linke, mal in liberale Denkweisen ein. Dabeisein ist ihr methodisch wichtig. Wolle man verstehen, schreibt sie, wie demokratischer Wettbewerb funktioniere, könne man sich natürlich Talkshows, Rhetorikanalysen oder Politikerbiografien ansehen. »Oder man kann sich erklären lassen, wie Wahlplakate zu hängen sind«. Mit Kabelbinder macht sie sich im Berliner Bezirk Friedrichshain ans Werk, für Die Linke. »Drei Wochen später sitze ich mit Christian Lindner in seinem Dienstwagen, Mercedes S-Klasse, und fahre durchs Bergische Land«. Geht alles, wenn man »geschmeidig« ist.

Mit ihrer für linke Kreise »verruchten« Freundschaft zu Lindner kokettiert sie immer wieder allzu gerne. Man spricht, mit Abstrichen, dieselbe Sprache. Durch das Privileg, selbst Teil jener Elite ihrer Generation zu sein, der man zuhört, und mit der Legitimation der Gleichaltrigkeit hört sie in den Gesprächen mit ihren Gegenübern auf Augenhöhe einen Auftrag heraus – oder gibt ihnen diesen mit: »den alten Karren aus dem Dreck ziehen«, und zwar »wortwörtlich aus dem Dreck, der in die Atmosphäre der Zukunft geblasen wird«.

Anders etwa als die 1992 geborene Helene Hegemann, die sich nie zur Stimme ihrer Millennial-Generation hochjazzen ließ, geht Bossong, Jahrgang 1982, offensiv als Beispiel ihrer Alterskohorte voran. Dabei hält sie sich nicht mit tiefergehenden Reflexionen über das Konstrukt »Generation« auf. Lediglich in einer Fußnote merkt sie an: Wer »wir« sage, maße sich an, »für andere mit zu urteilen. Dieses Dilemma ist mir bewusst«. Ende der Durchsage. Eine überraschend dürre Ausführung, und doch bezeichnend: Wo abgeklärte Boomer und aktivistische Greta-Gefährtinnen einem Problem mit Argumenten zu Leibe rücken würden, genügt einer Geschmeidigen die Zurschaustellung des Bewusstseins, dass es das Problem gibt. So demonstriert Bossong in einer Mischung aus Autobiografie, feuilletonistischen Betrachtungen und Begegnungen immer wieder auch an sich selbst, was sie unter »Geschmeidigkeit« versteht: eine bisweilen zum Opportunismus neigende Fähigkeit, sich mit den Ansichten Anderer zu kontaminieren.

Für Sauerbrey hingegen ist ein prägendes Element der »Gen X«, dass diese in einem gewissen Abstand zur eigenen Zeitgeschichte bleibe. Einen Politikertypus habe das hervorgebracht, der seine Forderungen weniger aus der eigenen Erfahrung – der Identität – als aus einer »empathischen Beobachtung« heraus entwickle.

Anders als Bossong zelebriert Sauerbrey also nicht ihre eigene Zugehörigkeit zu dieser Generation (und deren Elite). Schon der Titel ihres Buches beschreibt keinen Wesenszug, schon gar nicht den eigenen, sondern benennt schlicht den Effekt, den die Nach-Merkel-Generation mit der Ampelkoalition gerade bewirkt hat: den »Machtwechsel«.

Wissenschaftlich solide unter Hinzunahme von Denkmodellen zum Begriff »Generation«, fragt sie weniger nach einem diffusen Lebensgefühl als danach, »wie eine neue Politikergeneration das Land verändert«. Es ist keine rhetorische Frage, sie lässt Raum für Zweifel, indem sie ihre Beobachtungen in weitere politische und soziokulturelle Fragestellungen einbettet.

Sie beschreibt anhand vieler aufschlussreicher Beispiele, vor welchen Herausforderungen die Neuen angesichts der veränderten Parteienlandschaft stehen, mit welcher neuen Selbstverständlichkeit Berufspolitiker mit Kindern – Männer wie Frauen – auf eine bessere Work-Life-Balance achten, oder wie sich der Umgang mit dem eigenen Körper gewandelt hat. Sauerbrey liefert eine sehr lesenswerte, anschauliche und gut strukturierte Analyse aus dem gerade in einem tiefgreifenden Umbruch befindlichen »Maschinenraum« der deutschen Politik.

Und in diesem Maschinenraum, erfährt man bei Sauerbrey, tragen Menschen parteiübergreifend oftmals weiße Sneaker. Sie liest diese Mode als einen Hinweis auf einen neuen politischen und kommunikativen Stil, der das Gemeinsame betont statt die ideologischen Gräben zwischen politischen »Lagern« zu vertiefen. Da ist natürlich etwas dran: War Joschka Fischers Vereidigung als hessischer Umweltminister in Turnschuhen 1985 noch ein Zeichen gegen das Establishment, verkörpern weiße Sneaker es heute geradezu. Sie seien der »Rückzug in die stilistische Neutralität« und stünden für Pragmatismus und Offenheit: Man kann darin gut und schnell laufen. Und sie passen zu allem.

Unternehmensführungstechniken statt Visionen

Die Zeit der »Visionen« hingegen, darin sind sich Bossong und Sauerbrey ohne Bedauern einig, ist vorbei, schließlich hätten Konzepte des »neuen Menschen« nie zu wirklich Gutem geführt, sondern nur Ambivalenzen getilgt und Gräben vertieft. Sauerbrey beobachtet die zunehmende Anwendung moderner Unternehmensführungstechniken in der parteiinternen und auch in der parteiübergreifenden Arbeit. Statt quasireligiöse Utopien auszurufen, schaffe es die pragmatische »Gen X«, sich realistische Ziele zu setzen, meinen beide.

Werden wir also von marktkompatiblen Biegsamen regiert, die »bloß nichts falschmachen« wollen, wie Bossong schreibt? Nur keine Bange, es gibt ja noch den Finanzminister. Schon kurz nach Erscheinen der beiden Bücher, ein paar Monate nach Regierungsantritt, wurde das selbst ernannte »Fortschrittsbündnis« vom Spiegel zum »Blockadebündnis« umdeklariert, mit Lindner als »Blockademinister«.

Im Juli hatte dieser der Funke Mediengruppe ein Interview gegeben, das so ziemlich allem widersprach, was Bossong und Sauerbrey seiner Generation an Konsensfähigkeit attestierten: SPD, Grüne und FDP, so Lindner, hätten »gänzlich unterschiedliche politische Auffassungen«: SPD und Grüne seien »linke Parteien«, die FDP »ist eine Partei der Mitte«. Jetzt sorge die FDPdafür, »dass unser Land aus der Mitte regiert wird und nicht weiter nach links driftet«.

Lindners höchstes Regierungsziel, so der Spiegel, sei es offenbar, »Schlimmeres zu verhindern«, weshalb er einfach jedem Vorschlag der Koalitionspartner eine Absage erteilt. Wobei sich die Akteure in den Arbeitsgruppen, das wurde schon bei Sauerbrey auf spannende Weise deutlich, einander oft sehr gut verstehen. Das scheint selbst im Sommer 2022 noch zu gelten. Der Spiegel zitiert da etwa die SPD-Abgeordnete Annika Klose, die im Ausschuss für Arbeit und Soziales durchaus Offenheit bei ihren liberalen Kollegen wahrnehme, »aber dann wird von oben alles kassiert«.

Fast resigniert kommentiert der Spiegel, die drei Parteien hätten »eigentlich« Großes vorgehabt, »sie wollten in ihren Reihen zusammenführen, was sich bisher entgegenstand: Sozialisten und Marktradikale, Umverteiler und Wirtschaftsfreunde, Ökos und Atomenergiefans«. Jetzt ist es gerade der laut Bossong so ideologieferne Lindner, der das Trennende betont.

Überraschen sollte das niemanden. Seiner Generation fehle es an »charakterlicher Härte«, um auch mal »unpopuläre Entscheidungen« zu treffen, sagte Lindner zu Bossong. Dass er schon als junger Mensch Gefallen daran fand, kein typischer Vertreter seiner Art zu sein, kann man bei Sauerbrey nachlesen. Er gründete als Schüler bekanntlich ein Unternehmen, scherte sich als Student nicht ums Studentenleben, schraubte lieber an der Karriere. Dass er jetzt auch bei den Geschmeidigen ausschert und generationsuntypisch »Härte« demonstriert – wen wundert's?

Wir dürften »den nächsten Übergang« nicht verschlafen, appelliert Bossong staatsfrauisch, nämlich den »vom Wohlfahrtsstaat zum Innovationsstaat«. Wie ein solcher Übergang zu gestalten wäre, wenn noch nicht einmal geklärt wird, inwiefern Wohlfahrt das Gegenstück von Innovation sein soll, bleibt bei Bossong unbeantwortet. Ebenso die Frage, ob alle Beteiligten auch dann »den alten Karren aus dem Dreck ziehen« wollen, wenn es sich dabei nicht um den eigenen Porsche handelt.

Wo Bossong, als Dichterin mit einem hohen Maß an Sprachsensibilität ausgestattet, überraschend unkritisch FDP-Vokabular übernimmt (immer wieder etwa lobt sie, dass Thatcher und später Schröder mit enormem Reformwillen die »verkrusteten« Strukturen aufgebrochen hätten), bleibt Sauerbrey in alle Richtungen auf Abstand. Die Zeit-Journalistin gibt dabei selbst ein Beispiel für jenes »empathische Beobachten« im Gegensatz zu »Erfahrung« und Betroffenheit, woraus jene neue Politikergeneration ihre politischen Forderungen ableite. Wo Bossong viele Sätze mit »Ich glaube« einleitet und in einen pastoralen Ton verfällt, bleibt Sauerbrey schlicht bei der gründlich recherchierten Sache.

Stecken alle unter einer Decke?

Doch beide erkennen die Gefahren, die mit der gesteigerten Konsensfähigkeit der Neuen verbunden sind. Wird es für sie, fragt Sauerbrey, womöglich doch nötig werden, sich auf eine Seite zu schlagen? Wo verläuft die Grenze zum Wankelmütigen (Bossong)? Ist Offenheit nur eine Frage der Außendarstellung, die fatalerweise den Eindruck erwecken könnte, dass sich in der Berliner Bubble (Sauerbrey) alle politischen Lager – mit Ausnahme der AfD – prima verstehen und sowieso alle unter einer Decke stecken? Das Risiko allzu großer Harmonie, immerhin, scheint durch den Blockierer Lindner gebannt.

Wohin jetzt also mit den weißen Sneakern? So unbedingt wollte die Ampelkoalition das Ende des Weiter-so der Merkel-Jahre sein. Aber wenn keiner mehr weiß, wohin und wie weit man gemeinsam gehen kann, hilft auch das bequemste Schuhwerk nichts.

Nora Bossong: Die Geschmeidigen. Meine Generation und der neue Ernst des Lebens. Ullstein, Berlin 2022, 240 S., 19,99 €. – Anna Sauerbrey: Machtwechsel. Wie eine neue Politikergeneration das Land verändert. Rowohlt Berlin, 2022, 320 S., 22 €.

Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben

Nach oben