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Die europäische Fiskalunion muss kein Traum bleiben Die Kakophonie des Misstrauens überwinden

In der aktuellen Krisensituation in Europa wird eines ganz klar: Die Mitgliedstaaten der EU, besonders jene mit einer gemeinsamen Währung, sitzen im selben Boot. Um aus der Energiekrise herauszukommen, sollten deshalb auch nicht die alten Grabenkämpfe aus den Zeiten der Eurokrise wiederholt, sondern öffentliche Investitionen für eine bessere, günstigere und grünere Infrastruktur von allen Eurostaaten gemeinsam finanziert werden.

Um von der Realität des Streits zur Utopie eines gemeinsamen europäischen Haushalts zu gelangen, sollten alle EU-Länder Teil der Fiskalunion sein. Derzeit gibt es für Einige Ausnahmeregeln, die sogenannten Opt-out-Klauseln. Besser wäre aber ein Opt-in. Gleichgesinnte Staaten müssten einen Anfang machen, denn gemeinsam können sie von attraktiveren Konditionen am Kapitalmarkt profitieren und sich gegenseitig absichern.

Vor 30 Jahren wurde in Maastricht der Euro als gemeinsame Währung für einen Kern von EU-Staaten festgelegt. Damit wurde die Fiskalunion geschaffen. Die Entscheidung der zwölf EU-Staaten, ihre alten Währungen und deren Kontrolle aufzugeben, wirkt aus heutiger Perspektive fast schon wie ein radikaler Schritt. Sowohl Unterstützer:innen als auch Kritiker:innen des Euros waren sich damals einig, dass in einer gemeinsamen Währung auch das Potenzial liegt, eine größere soziale und ökonomische Bindekraft zwischen den Ländern freizusetzen. Doch das Regelwerk, das aus dieser Utopie entstand, war schon von Beginn an geprägt von einem großen Maß an Misstrauen.

Die großen Industrienationen im Zentrum der EU fürchteten, dass eine gemeinsame Währung einige Regierungen dazu verleiten würde, sich in großem Stil zu verschulden. Zur Vorsorge wurde dem Vertrag von Maastricht die Klausel hinzugefügt, dass exzessive Defizite zu vermeiden seien und Eurostaaten ihre jährliche Neuverschuldung unter drei Prozent und ihre Schuldenquote unter 60 Prozent zu halten hätten. Bei Überschreitung verpflichteten sich die Staaten, ein Zwanzigstel der Schulden jährlich abzubauen. Diese Zahlen waren allerdings frei erfunden, in die Geschichte eingegangen sind sie als politischer Kompromiss, fern jeder ökonomischen Sinnhaftigkeit.

Die Quote von 60 Prozent ergab sich aus der durchschnittlichen Verschuldung der damaligen Euro-Anwärter. Die Fiskalregeln der Eurozone waren von Anfang an aus der Luft gegriffen und führten zehn Jahre später zu tiefen Verwerfungen unter den Unterzeichnerstaaten. Dies zeigte sich bereits, als Deutschland und Frankreich 2004 die ersten waren, die die eigenen Regeln brachen und ohne Konsequenzen höhere Schuldenquoten aufbauten. Spätestens an diesem Punkt hätten die Regeln reformiert werden müssen.

Doch anstatt einen neuen Regelkatalog auszuarbeiten, den auch alle Eurostaaten einhalten könnten, blieben die Regeln der 90er Jahre bestehen und wurden im Zuge der Finanzkrise 2008 mit harten Sparauflagen umgesetzt. Die Finanzkrise und die spätere Eurokrise ab 2010 erschütterten europäische Staatshaushalte. Besonders Griechenland, Portugal und Spanien waren aufgrund hoher Schuldenberge und niedriger Wachstumsraten betroffen.

In der Krise trat die Währungsunion nicht für diese Mitglieder ein, sondern spaltete sich auf. Exportfokussierte Industriestaaten wie Deutschland forderten von den Ländern, die ihre Güter hauptsächlich importierten, einen strikten Sparkurs zu verfolgen und die Schuldenquote einzuhalten..

Anders als Deutschland 2004, kam Griechenland nicht »ungestraft« davon und musste auf Druck von Berlin und Brüssel die öffentliche Infrastruktur privatisieren und Ausgaben massiv senken. Diskussionen zwischen dem damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble und seinen südeuropäischen Kollegen waren angespannt und konfrontativ. In deutschen Zeitungen und Fernsehdebatten herrschte ein vergifteter Diskurs, der Spanier:innen und Griech:innen als faul und verantwortungslos verunglimpfte, gewählte Volksvertreter:innen sekundierten mit einer Kakophonie an Anschuldigungen.

Lichtblicke in der trüben Realität

Wenn man sich heute die hohen Arbeitslosenzahlen unter Jugendlichen in Spanien und Griechenland anschaut oder in Brüssel mit Technokrat:innen redet, erkennt man, dass die Geschichte dieser Austeritätspolitik tiefe Wunden in der Eurozone hinterlassen hat. Die willkürlichen Zahlen und harten Sparregeln der 90er Jahre stehen immer noch in den Verträgen und gleichzeitig brechen dauerhafte Krisen über den Euroraum herein.

Der Klimawandel, die Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine treffen Staaten und Bevölkerungsgruppen in der EU auf unterschiedliche Weise. In der Coronakrise setzten die Eurostaaten die Schuldenregeln aus und mobilisierten zum ersten Mal in ihrer Geschichte ein gemeinsames Investitionspaket für den Wiederaufbau der europäischen Wirtschaft. Das NextGen-Programm, mit dem auf die Coronakrise reagiert wurde, ist auch aus diesem Grund die Grundlage für eine Reform der Fiskalregeln.

Doch dieser Keim droht zu ersticken: Steigende Energiekosten und die sprunghafte Inflation stellen infrage, ob öffentliche Ausgaben tragbar sind. Die Gemengelage hat sich zwar verändert, aber dennnoch fehlt es weiterhin an Vertrauen und Solidarität unter den Regierungen der Eurostaaten. Mitarbeitende der EU-Kommission bezeichnen das NextGen-EU-Programm als »fruchtbaren Nährboden«, auf dem Vertrauensfortschritte erzielt werden könnten. In der deutschen Regierung herrscht jedoch bislang eine Obsession für strikte Fiskalregeln. Und auch die Diskussionen zur Aussetzung der Schuldenbremse auf EU-Ebene zeigen eine verzerrte Vorstellung der deutschen Regierung davon, wie Nachbarstaaten ihre Ausgaben planen.

Um mit den multiplen Krisen umgehen zu können, braucht es Investitionen und Entlastungen. Die Staaten der Eurozone müssen daher ihr Misstrauen überwinden und gemeinsame Ressourcen verbinden. Doch wie lässt sich eine sozialökologische Transformation der Wirtschaft in Europa gestalten, wenn die Sparregeln der Vergangenheit unverändert in den Verträgen stehen und nur auf eine Reaktivierung warten?

Neues Vertrauen schaffen

Keine Währung besteht dauerhaft ohne eine fiskalische Zusammenarbeit. Daher muss neben dem Euro endlich ein gemeinsamer Haushalt eingeführt werden, der das Recht hat, Einnahmen, also Steuern und Schulden, sowie Ausgaben, also Investitionen und gemeinsame Budgets, selbstständig zu tätigen. Dieser Haushalt ist längst überfällig, wichtige Zukunftsinvestionen fehlen in allen Bereichen und in allen Mitgliedstaaten. NextGen hat dabei vorgemacht, welche Vergünstigungen dem Staatenbund winken, wenn sie sich gemeinsam verschulden, anstatt zu den jeweils eigenen Konditionen.

Dem deutschen Ressentiment, für die angeblich verkorkste Haushaltspolitik der südeuropäischen Staaten aufkommen zu müssen, muss mit Realismus über die eigene wirtschaftliche Situation begegnet werden. Deutschland profitiert wie kaum ein anderer Staat von der EU. Ausgeschlossen ist nicht, dass andere Mitgliedstaaten eine ebensolche Entwicklung nehmen könnten, zumal das deutsche Wirtschaftsmodell durch die Auswirkungen des Ukraine-Krieges infrage steht: Die hohen Kosten für Energieimporte haben die deutsche Handelsbilanz kurzzeitig ins Negative verkehrt. Der ehemalige Exportweltmeister ist dieses Jahr schon in der Vorrunde ausgeschieden.

Und auch die Zukunft sieht alles andere als rosig aus. Die demografische Entwicklung der nächsten zwei Jahrzehnte wird die angespannte Situation am Arbeitsmarkt, besser bekannt als Fachkräftemangel, noch verschärfen. Der Staat wird auf wertvolle Einkommensteuereinnahmen verzichten müssen. Dabei braucht er Geld überall. Besonders für Investitionen in Infrastruktur, Digitalisierung und die grüne Transformation.

Auch Deutschland ist also angewiesen auf einen gemeinsamen Investitionshaushalt, zumindest wenn man sich die Realität eingesteht. Europäische Solidarität ist gefragt, denn die sich überlappenden Krisen treffen alle Staaten. Die Zeiten, als Deutschland auf Kosten der anderen Staaten gestärkt aus Krisen herausgegangen ist, sind vorüber. Die aktuelle Energiekrise trifft besonders unsere Volkswirtschaft ins Mark.

Da trotz der Dringlichkeit keine einstimmigen Beschlüsse für einen gemeinsamen EU-Haushalt zu erwarten sind, sollten die gewillten Staaten einen Anfang machen. Ähnlich wie beim Euro könnte sich eine kleine Gruppe von Staaten auf gemeinsame Grundlagen einigen und anerkennen, dass sie gemeinsam von attraktiveren Konditionen am Kapitalmarkt profitieren können.

Eine Gruppe gleichgesinnter Staaten könnte einen gemeinsamen Haushalt eröffnen, den sie aus Schulden und Einzahlungen finanzieren. Wenn sich im Falle eines Erfolges mehr Staaten anschließen, könnte ein solcher Haushalt den Weg zu einer EU ebnen, die enger in der Fiskalpolitik zusammenarbeitet und damit die Zukunft des Euros sichert und Kapital für die wirtschaftliche Transformation bereitstellt.

Die Verträge des Fiskalprojekts müssten so gestaltet sein, dass es für andere Mitgliedstaaten attraktiv wäre sich anzuschließen. Dafür müsste eine gemeinsame Ausgaben- und Mitbestimmungspolitik definiert sein. Der Haushalt wäre eine europäische »Fair-sicherung«. Das Risiko des Abschwungs würde gemeinsam abgefedert und wichtige Investitionen für die Zukunft würden gemeinsam finanziert werden. Das Gefühl in einem Boot zu sitzen und sich gegenseitig zu helfen, würde mehr Vertrauen zwischen den teilnehmenden Staaten schaffen und eine bessere Zusammenarbeit ermöglichen.

Die Historie der Eurozone hat gezeigt, dass gemeinsames Verständnis und Vertrauen genauso wichtig sind wie Regeln und Sparpolitik. Sie zeigt aber auch, dass diese Regeln flexibel sein müssen und es wie bei der Schaffung des Euro keinen Zwang zur Teilnahme geben muss. Eine optionale Teilnahme an einem europäischen Instrument ist deshalb kein Novum. Es gilt, die alten Regeln der Vergangenheit zu überwinden und durch eine bessere Fiskalpolitik Kapazitäten für Investitionsausgaben zu schaffen. Am besten in enger Abstimmung zwischen Regierungen, Parlamenten und Expert:innen in allen Eurostaaten.

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