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Selbstfindung und Wandel der SPD in pandemischen Zeiten Die Kanzlerpartei

Potz Blitz, so kennen wir sie nicht: Ruhig und einmütig hat die SPD vollzogen, was der Wählerauftrag war. Der neue Kanzler wirkt nach innen wie ein stiller Magnet, an dessen Anziehungskraft sich alles ausrichtet. Selbst die sonst stets aufrüttelnden Personalentscheidungen sind wie runtergedimmt, das vorbereitende Geklüngel in Watte gepackt. Mögen es sich die Neuen im Kanzleramt als strategische Leistung auslegen: die war es nämlich auch, daneben bestätigt sich aber noch etwas anderes. Macht befriedet, erst mal.

Dies umso mehr bei einer Partei, die lange und tief in den Abgrund geblickt hat. Bei der seit Funktionärsgedenken kaum mehr jemand wusste, wie sich das anfühlt – das Kanzleramt neu zu übernehmen. Bei der Umfragetristesse nach und nach das gesamte eigene Lebensgefühl bestimmt hatte, schlechte Laune inklusive. Und jetzt doch Kanzler Olaf. Es ist wie ein ganz neuer Blick auf die Welt (und die CDU zumal). Ein Sieg der stoischen Beharrlichkeit auch. Ein Erfolg klugen Austarierens der unterschiedlichen Ansichten, sichtbar gemacht durch ein kooperativ angelegtes Führungskonzept. Zudem aber ein Ausdruck von realen Veränderungen, und seien sie teils unbewusst.

Der sozialdemokratische Aufbruch ist nur ein Teil der neuen republikanischen Wirklichkeit, wenn auch ein beträchtlicher. Nirgends hat sich die Gefühlswelt seit der Septemberwahl so nachhaltig gewandelt wie in der ältesten Partei Deutschlands. Wiewohl ein Teil dieses emotionalen Wunders letztlich dem entspricht, was die Unionsparteien zuletzt alle vier Jahre erlebten und von dem sie schon glaubten, es gehöre zu ihrer DNA: Wahlsiege nicht alleine aus eigener Stärke, mindestens genauso wegen der Schwachpunkte anderer. Aber Macht motiviert, im Falle von chronisch Toterklärten besonders.

So war nun das Aufatmen eine Art Grundrauschen bei den sozialdemokratischen Parteitagen des zurückliegenden Dezembers. Ja, dies ist nun die Kanzlerpartei, potz Blitz. Selbstbewusst und stolz wie lange nicht, neugierig sogar auf die ungewöhnliche Regierungskonstellation. Medial plötzlich als »Machtmaschine« tituliert. Mit Intonierung von »gönnen Können« in Richtung der Koalitionspartner, was Sozialdemokraten früher stets besonders schwer gefallen ist. Mit weitem Blick sogar über die gerade erst beginnende Legislaturperiode hinaus. Aber nebenbei doch ganz froh, dass an solchen zauberhaften Wir-sind-Kanzler-Tagen niemand besonders penibel reinschaut ins Substanzielle, schon weil Corona alles überlagert.

So gesehen ist es dann doch eine Sondersituation, wie es sie noch nie gab. Ein Regierungswechsel im Schatten von Größerem, Dringenderem. Anhand der CDU kann man ein Gefühl dafür entwickeln, wie das sich auswirkt, wenn man Wahlen verloren hat. Angelehnt an die unfair überdrehten Worte eines befreundeten Präsidenten, damals bezogen auf die NATO: Da erscheint man schnell als hirntot. Im Wettrennen dreier mittelprächtiger Bewerber um den Parteivorsitz der Union war der Befund der Leblosigkeit, das noch bösere Wort mal ausgeklammert, sogar Teil der Debatte. Und doch hat dieses merkwürdige CDU-Triell der Gestrigen schon kaum mehr jemanden interessiert. Die wenigen inszenierten Präsentationen waren Pflichtübungen ohne Wirkung, die Parteimitglieder votierten nach Papierform.

Nun sind Parteien in der Pandemie tatsächlich nicht mehr so, wie wir sie kannten – ständig lebendig diskutierende, sich aneinander abarbeitende, damit immer auch die nächste Personalauswahl vorbereitende Resonanzkörper der Gesellschaft. Basisverankerung war schon vor Corona ein kritischer Punkt, mittlerweile sorgt die erzwungene virtuelle Parteiwelt für weiter veränderte Verhältnisse. In gewisser Weise ist das durchaus leichter, weil steuerbarer für die Spitzen. Zugleich wirkt es unendlich viel schwerer und geradezu undurchdringlich, wenn man mal kritisch von unten nach oben denken wollte. Und es ist in den Parteien wie in der gesamten Gesellschaft sehr offen, wie viel ehrenamtliches Engagement unterhalb der fest etablierten Amts- und Mandatsträger/innen noch da sein wird, wenn Corona endlich vorbei ist. Das fällt momentan noch nicht auf, aber es wird ein Kernproblem werden.

Solche durch die Pandemie bedingten, grundlegenden Veränderungen mischen sich mit den direkten Wahlauswirkungen. Bei der CDU sehr zuungunsten einer echten Aufarbeitung der Merkelzeiten inklusive dessen, was man personell-inhaltliche Erneuerung nennen könnte. Bei der SPD sehr zugunsten eines neuen Pragmatismus ohne gleichzeitiges Gefühl des Identitätsverlusts – was für Kanzler Scholz geradezu ein Geschenk der Geschichte genannt werden kann. Die ganze Gesellschaft tickt ja so in diesen Zeiten des absoluten Corona-Überdrusses: irgendwie die Pandemie gut überstehen, irgendwann wieder normal leben können, irgendwo durchatmen – dann erst sehen wir weiter.

Ein wichtiges Beispiel, weil für die SPD von jeher besonders wichtig: die Flügelfrage. Entscheidend sei, dass Flügellogiken nicht guten Lösungen im Weg stehen – hat ein frisch gekürter Parteivorsitzender vor seiner Wahl gesagt. Es war nicht Lars Klingbeil, der war in keiner Weise kritisch herausgefordert. Es war Omid Nouripour von den Grünen, nachdem deren Regierungspostenbesetzung im Konflikt Özdemir versus Hofreiter unversehens nochmal zur Flügelauseinandersetzung geworden war. Beim SPD-Wahlparteitag, waren solche Flügellogiken bestenfalls noch im Vorfeld von Bedeutung, um auch in der zweiten und dritten Reihe personell noch für Frieden zu sorgen.

Ende der Fraktionierungskultur?

Aber das Zitat Nouripours weist durchaus in die Richtung, in der die Kanzlerpartei sich nun entwickelt. In der SPD waren die Flügel immer das gewesen, was in der CDU die Landesverbände sind: Transmissionsriemen für Ambitionen und Interessen. Schon seit der gezielten Integrationsstrategie zwischen linkem Parteiführungsduo und pragmatischem Kanzlerkandidaten, massiv aber nach der Septemberwahl haben sie rapide von ihrer alten Triebkraft verloren. Auch hier gilt: Dass überregionale Zusammentreffen pandemiehalber kaum mehr stattfinden, hat den Prozess beschleunigt. Nur über virtuelle Kacheln, von zu Hause am Computer aus, sind politische Zusammenschlüsse lebensfremd. Vielleicht ist das jetzt wirklich das Ende einer jahrzehntelangen Fraktionierungskultur, die einst den Aufbruch prägte und zuletzt zur Erstarrung in Nebenwelten neigte.

Besonders deutlich lässt sich das anhand der vielen jungen SPD-Abgeordneten beobachten, von denen formal viele Jusos sind, die sich davon auch nicht distanzieren, sich aber gleichwohl längst selbst organisieren in einer Art Netzwerk 2.0. Während umso mehr auffällt, dass aus den klassischen Flügeln keine wirklichen Impulse mehr kommen und jetzt auch in der SPD eher die regional denkenden Landesverbände die Interessen in Richtung Berlin austarieren. Dass die Flügel mehr Traditionsvereinigungen als Gestaltungskräfte geworden sind, für den sozialen Zusammenhalt wichtig und doch wenig prägend für die Zukunft. Dieses Stück tatsächlicher Kulturwandel ist für die inneren Verhältnisse in der Kanzlerpartei kaum zu überschätzen.

Die zweite politisch-kulturelle Veränderung, die über den Tag hinaus wirken wird: Kanzler Scholz ist ein eher leiser, aber ernsthafter Mensch mit einem sehr ausgeprägten Sinn für die inneren Mechanismen seiner Partei – und er verachtet diese nicht, wie es teilweise bei Gerhard Schröder der Fall war, sondern er arbeitet mit ihnen. Nur deshalb kann die Aufgabenteilung zwischen Kanzleramt und Parteiführung tatsächlich als Miteinander funktionieren, statt ständig echte Gegensätze zu produzieren. Zumal in Zeiten, in denen die traditionellen Konfliktthemen weit im Hintergrund stehen. In denen die Sehnsucht nach entschlossenem, einigermaßen pannenfreiem Staatsmanagement so vieles überlagert.

Die ganz große Frage bleibt, inwieweit Parteien als Resonanzkörper zwischen Politik und Gesellschaft jetzt überhaupt zur Führung in der Lage sind, über das jeweilige Regierungshandeln hinaus. Die Soziologie des Parteiensystems in Coronazeiten ist noch nicht geschrieben. Die Bereitwilligkeit, mit der in den großkoalitionären Zeiten der Bundestag seine Entscheidungsmacht (via Feststellung einer bundesweiten »pandemischen Notlage«) anhaltend der Regierung übertrug, war da durchaus ein Signal der Überforderung. Das Zurückholen der Coronaentscheidungen in die Hoheit der Parlamente war eine der grundlegenden und richtigen Weichenstellungen zu Beginn der Ampelkoalition, weit über einzelne Sachfragen hinaus. Und in ihrer demokratiepolitischen Bedeutung wurde sie in den Tagesnachrichten weit unterschätzt.

Für den Erfolg der koalitionstragenden Parteien wird auf Dauer entscheidend werden, ob sie es gesellschaftlich schaffen, Vertrauen zu vertiefen. Aber Gesellschaft, was ist das in der Pandemie? Öffentlichkeit, das Forum jedes Diskurses, ist virtuell geworden. Dort sind überraschende Begegnungen, ist offene Debatte selten. Im Netz dominiert vielfach Rechthaberei und Denkstarre, entwickeln sich hochgefährliche Parallelwelten weit über die Pandemiethemen hinaus. Trotzdem hat die Bundestagswahl gezeigt, wie Veränderung durch die Mehrheitsgesellschaft möglich werden kann.

Nun erweist sich, dass eine große Mehrheit dieser Gesellschaft hinter den Grundentscheidungen der Coronapolitik steht, selbst wenn die aus Rücksicht auf den Wahltermin zu spät eingeleitet wurden. Gesellschaft also sammelt sich hinter Leitentscheidungen. Nie insgesamt, aber mit klarer Mehrheit. Der Kanzler lag deshalb richtig mit dem Hinweis, dass es falsch ist, angesichts harter Kontroversen mit denen, die sich ausklinken aus dem allgemeinen Diskurs, bereits von einer gespaltenen Gesellschaft zu sprechen.

Die entscheidenden Fragen für eine Zukunft, in der Regierungshandeln alleine nicht reicht, sind jetzt also: Wie viel Mut hat dann aber die Politik, künftig Leitentscheidungen konsequent durchzusetzen? Wie viel innere Liberalität muss unbedingt verteidigt werden, um die offene Demokratie nicht zu gefährden? Hier wird es unvermeidlich sehr auf die Parteien – speziell die Kanzlerpartei – ankommen, in Stil wie Inhalt. Gerade weil in Krisensituationen Führung besonders wichtig wird, muss es kooperative Führung sein.

So betrachtet ist die Ampelkoalition nun auch ein großes Demokratieexperiment, das zeigen muss, wie unterschiedliche weltanschauliche Richtungen letztlich zusammenwirken können. Dompteursrollen, von früheren Kanzlern her bekannt, sind dafür völlig ungeeignet. Aus Sicht der Kanzlerpartei wird es wichtig sein, die eigenen Kernthemen nicht aufs Regierungshandeln zu verengen – und besonders zentral ist etwas, das sich im Falle der SPD leicht beschließen, aber schwer umsetzen lässt: gerade in solchen Zeiten wieder zum Ort gesellschaftlicher Debatten zu werden, wenn diese denn wieder stattfinden.

In der Steuer- und Verteilungspolitik ist offenkundig mit FDP und Grünen nahezu nichts bewegbar. In früheren Regierungszeiten entstand dann der Eindruck, dass die Sozialdemokratie ihre nicht-durchgesetzten Forderungen schnell und bereitwillig wieder vergisst, so als seien sie ohnehin nur wahltaktischer Natur gewesen. Olaf Scholz, der lange genug Parteimensch war, ist zuzutrauen, dass er diesen kurzfristig bequemen, aber langfristig fatalen Fehler möglichst vermeiden will, dass er eine achtungsvolle Arbeitsteilung (zwischen Partei und Regierung wie zwischen den Koalitionspartnern) als Zukunftskonzept betrachtet. Wobei die Probe aufs Exempel der Alltag ist, nicht erst der Konflikt – denn dann ist es eigentlich schon zu spät.

Die Mühe dieses Alltags trägt den Namen Kompromiss, echt verstanden und nicht nur taktisch. In den Tagen der coronaüberlagerten Koalitionsgespräche haben sie es sich da noch leicht machen können und jedem ein paar Profilthemen gelassen, mögen die sich teils auch widersprechen. Das funktioniert am Anfang gut, lange trägt es nicht. Spätestens wenn es konkret ums Geld geht oder wenn in internationalen Krisen gehandelt werden muss, lassen sich Entscheidungen nicht nach Ressortzuständigkeit aufteilen. Die Fortschrittsbotschaft muss spätestens dann gemeinsam ausformuliert werden. Keine der drei Parteien wird im Ergebnis nur sich selbst erkennen. Keine hat bislang aber auch nur eine Ahnung, an welchen Punkten und wie schnell sich das zuspitzen wird. Alle setzen sie geradezu darauf, dass Rücksicht auf die wichtigen Landtagswahlen im Frühjahr nochmal Zeitgewinn bedeutet.

Auch und gerade die Kanzlerpartei. Olaf Scholz wird das im Hinterkopf gehabt haben, als er beim Dezemberparteitag das Prinzip Hoffnung bemühte. Geht das alles gut aus? Er hat recht: Das ist die große Frage in so vielen Köpfen, gar nicht bezogen nur auf Einzelentscheidungen, sondern auf das Ganze. Seine Antwort ließ sich übersetzen mit »Vertraut uns« und »Gebt uns Zeit«: Ja, dann geht es gut aus. Was in Praxis übersetzt bedeutet: Einige Einzelthemen, zum Beispiel der Mindestlohn, werden sofort angepackt, aber der Kampf ums Ganze darf nicht überstürzt daherkommen und muss länger dauern.

Man kann solche eher vagen Parteitagsreden auch als einen ersten Blick auf die erhoffte lange Wegstrecke betrachten. Regierungspragmatismus trifft auf Zukunftssehnsucht. Als der Neukanzler am Rand des Saales gerade ins Gespräch mit der Neuinnenministerin vertieft war, hat ein anderer am Rednerpult das friedliche Nebeneinander von Euphorie und Ungewissheit beschrieben. Satz eins: Wir sind die Kanzlerpartei, weil wir eine Vision von der Gesellschaft haben. Satz zwei: Was diese Vision ist, müssen wir jeden Tag entwickeln. Die meisten in der Kanzlerpartei werden beide Sätze gerne unterschreiben.

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