Während die EU auf sich selbst und ihre Wahl fixiert ist, passieren im Windschatten noch viel größere Dinge: Der Westen dominiert nicht mehr die Welt – egal ob mit Donald Trump oder ohne ihn. Globale Politik entscheidet sich nicht mehr ausschließlich im transatlantischen Verhältnis, sondern vermehrt auch im Verhältnis mit dem Globalen Süden. Vor allem die BRICS-Staaten gewinnen an Einfluss – nicht zuletzt durch ihren Zuwachs.
Dynamisch aufstrebend, aber unterrepräsentiert.
Nach dem Kalten Krieg waren die Weltmachtverhältnisse zunächst klar: Neoliberale Orientierungen setzten sich durch. Die Globalisierung von Warenhandel und Finanzprodukten war nicht mehr aufzuhalten und der Ton wurde über Jahre vom Westen angegeben. Dann kam die Weltwirtschaftskrise von 2009. Das Jahr markierte ein Ende der wirtschaftlichen Weltordnung wie sie bis dahin existierte. Neue Player suchen sich seitdem ihren Platz in der Welt. Die Kräfte werden umverteilt. Die Wirtschaft in Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika boomt. Die fünf Länder umfassen rund 40 Prozent der globalen Bevölkerung. Ihre Märkte sind dynamisch und aufstrebend, aber die Staaten fühlen sich auf der Weltbühne unterrepräsentiert. Kein Zufall also, dass sie sich zusammengeschlossen haben. 2006 startete das Bündnis, zunächst als »BRIC« ohne Südafrika, vier Jahre später kam Südafrika dazu und erweiterte es zu »BRICS«.
Wirtschaftlich ist das Staatenbündnis ziemlich dynamisch. Während die BRICS-Staaten 2001 nur 8 Prozent des globalen Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausmachten, erreichten sie 2023 schon 26 Prozent; China mit dem größten Anteil. Zum Vergleich: Der Anteil der G7-Staaten am weltweiten BIP ist in demselben Zeitraum von 65 auf 43 Prozent gesunken. Der erhoffte Einfluss auf der Weltbühne bleibt seit der Finanzkrise zwar aus, aber genau das hält die BRICS auch zusammen. Ihre Kritik am aktuellen System der Vereinten Nationen und der Schutz vor ungewolltem politischen Einfluss aus dem Westen eint sie zusätzlich.
Lange liefen die Bemühungen der BRICS nach Veränderung der Weltordnung unter dem Radar des Westens. Dieser war und ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Doch auch wenn die BRICS in den Zehnerjahren nicht viel an Einfluss gewinnen konnten, so legten sie dennoch die Grundsteine für spätere Zeiten, vor allem durch die Stärkung der Beziehungen untereinander.
»Die langjährige Ignoranz des Westens hat einen hohen Preis.«
Durch die Coronapandemie, den russischen Angriff auf die Ukraine und zuletzt den Konflikt im Nahen Osten wird dem Westen langsam klar, dass der »Rest der Welt« nicht mehr automatisch seiner Führung folgt. Im Gegenteil – viele Länder werden immer mehr zu selbstständigen Playern. Die langjährige Ignoranz hat einen hohen Preis. Das zeigen nicht zuletzt Events wie der Afrika-Gipfel im Januar in Italien, bei dem westliche Länder um die Gunst essenzieller Partner des Globalen Südens buhlten. So langsam merken wir, dass sich alte Abhängigkeiten umkehren. Wir brauchen die Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika.
Das neue Kraftzentrum
Spätestens seit der Erweiterung der BRICS Anfang 2024 um weitere fünf Staaten ist klar, dass das Gewicht des Bündnisses nicht mehr ignoriert werden kann. Die Energieschwergewichte Saudi-Arabien, Vereinigten Arabischen Emirate und Iran sowie Ägypten und Äthiopien gehören jetzt zur sogenannten BRICS+.
Die BRICS+ sind kein einheitlicher Block. Ihr Bindeglied ist vielmehr die gemeinsam inszenierte Selbstbehauptung in einer im Umbruch begriffenen Weltordnung, in der die USA – und abgeleitet davon, der Westen – nicht mehr den allseits dominierenden Akteur darstellen.
Das Gebilde ist extrem heterogen in politischer, wirtschaftlicher wie militärischer Hinsicht. Es ist nicht frei von inneren Auseinandersetzungen, wie die Konflikte zwischen Indien und China oder das Verhältnis zwischen dem Iran und Saudi-Arabien zeigen. Dennoch muss mit einem neuen Kraftzentrum gerechnet werden, in dem die jeweiligen Eigeninteressen zu einer global wirksamen Agenda gebündelt werden. Eine Agenda, die zum einen den gemeinsamen Nenner zwischen den beteiligten Staaten widerspiegelt, wie auch die vorhandenen Gravitäten innerhalb des Verbunds.
China versucht, den Stift zu führen – sein BIP macht unter den langjährigen BRICS-Staaten 70 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung aus. So ist die letzte Erweiterungsrunde eng mit den von China verfolgten Interessen auf Energiesouveränität verknüpft. Durch den neuen Verbund mit Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten gewinnt der BRICS-Block drei der größten Energieproduzenten der Welt hinzu. Saudi-Arabien allein konnte im Jahr 2022 700 Megatonnen Öleinheiten produzieren, fast drei Mal so viel wie das Land selbst verbraucht.
Bei unterschiedlichen Grundpositionen zum russischen Angriffskrieg in der Ukraine eint die gemeinsame Haltung, sich nicht an den Sanktionen des Westens zu beteiligen. Mehr noch: Die Entscheidung, den nächsten BRICS-Gipfel 2024 in Kasan (Russland) abzuhalten, steht für die Weigerung, den Aggressor auszugrenzen.
Dem Interesse, Indiens und Brasiliens, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat einzunehmen, wurde beim BRICS-Gipfel im August 2023 in Johannesburg ausdrücklich Rechnung getragen. Die Forderung: Der Sicherheitsrat soll demokratischer, repräsentativer, effizienter und effektiver werden und der globale Süden soll stärker vertreten sein.
Und, der vielleicht wichtigste gemeinsame Nenner der BRICS: die Dominanz des US-Dollars in der Weltwirtschaft soll gebrochen werden. Die Neue Entwicklungsbank, die von den BRICS-Staaten 2014 gegründet wurde, will lokale Währungen stärken, um mehr Handlungsspielraum und Unabhängigkeit zu gewinnen. Spätestens seit den Sanktionen gegen Russland weiß der Block wie wichtig eine breite Streuung ist, um das Fluktuationsrisiko von ausländischen Währungen zu verringern. Ziel der Neuen Entwicklungsbank sei es bis 2026 den Anteil der Darlehen in lokalen Währungen auf 30 Prozent zu erhöhen.
Europa in der neuen multipolaren Weltordnung
Die BRICS+ sind Ausdruck einer neuen multipolaren Weltordnung, in der sie durch die vielfältigen Ebenen ihrer Zusammenarbeit selbst zu einflussreichen verbundenen Spielern und damit zu Treibern der weiteren Entwicklung werden. Wie sollte Europa hierauf reagieren?
Der oberflächliche Versuch, eine zunehmend komplexe Welt nach Autokraten und Demokraten zu unterscheiden, hat sich als unwirksam erwiesen. Auch demokratisch verfasste Staaten wie Brasilien, Südafrika und Indien, weitere wichtige Akteure wie Nigeria, Kenia oder Indonesien werden es sich nicht nehmen lassen, je nach Lage in multiplen Allianzen zu agieren. Europa muss akzeptieren, kein dominanter, aber ein unverzichtbarer Kräftepol in dieser neuen Welt zu sein und seine globale Rolle danach zu definieren.
In Europas Interesse liegen offene Märkte, eine stabile regelgebundene multilaterale Ordnung und – was nicht in den Hintergrund treten darf – die Orientierung an Menschenrechten und einer freien Zivilgesellschaft wie sie als verbindlicher Maßstab allen außenpolitischen Handelns in den europäischen Verträgen (VEU Art. 21) verankert ist. Das ist kein beliebiger Anhang, sondern ein essenzielles Element einer zukunftstauglichen EU. Aufgrund dieser Anforderungen ist ein neues Design mit einer wertegebundenen externen Politik als Kernbestandteil nötig, wenn unser in Jahrhunderten erstrittenes Gesellschaftsmodell einer demokratischen Gesellschaft mit kollektiven Sicherungssystemen und individuellen Grundfreiheiten überleben will.
Stimme des Globalen Südens?
BRICS versucht neben den gebündelten Eigeninteressen die legitime Sprecherrolle des Globalen Südens einzunehmen. Dies gelingt überzeugend bei der Kritik am globalen Finanzsystem. Ärmere Entwicklungsländer und Länder mittleren Einkommens ächzen gleichermaßen unter hohen Kreditkosten und unrealistischen Konditionen ebenso wie unter der Dominanz des Dollars. UN-Generalsekretär Antonio Guterres bezeichnet das System als »moralisch bankrott« und fordert umgehende Reformen der Weltbank und des IWF. Hier wartet eine glaubwürdige Rolle auf Europa, die die EU und ihre Mitgliedstaaten dringend einnehmen sollten.
»Statt der Klagen über korrupte Eliten sollte Europa helfen, funktionierende staatliche Strukturen wiederherzustellen.«
Eine zunehmende Zahl von Ländern gibt mehr Geld für ihren wachsenden Schuldendienst aus als für Bildung und Gesundheit. Prioritäten müssen auf sozialem Zusammenhalt, dem Kampf gegen Ungleichheit und die Auswirkungen des Klimawandels liegen. Statt der ebenso berechtigten wie fruchtlosen Klagen über korrupte Eliten sollte Europa helfen, funktionierende staatliche Strukturen wiederherzustellen. So würden digitalisierte Steuer- und Zollsysteme dazu beitragen, die Wertschöpfung im Land zu halten und die Attraktivität einer Zusammenarbeit mit Europa in jenen Staaten erheblich verbessern, die heute neidisch auf die wirtschaftliche Stärke der BRICS-Staaten schauen.
Die kommenden Generationen in den jungen bevölkerungsreichen Nationen dieser Welt, auch die in Brasilien, Indien oder Südafrika, wollen keineswegs lieber in China oder Russland als zu Bedingungen wie in Europa leben. Individuelles Glück und sozialer Wohlstand stehen hoch im Kurs. Unsere Politik darf daher auch nie nur die aktuell regierenden Eliten adressieren. Handelspolitik etwa muss zu realen Verbesserungen in unseren Partnerländern führen, reale Erfolge auf beiden Seiten hervorbringen und den Korridor zivilgesellschaftlicher Freiheiten und gewerkschaftlicher Partizipation ausweiten.
Europa könnte ein demokratisches Gegengewicht zu Chinas Neuer Seidenstraße aufbauen.
In den internationalen Partnerschaften muss sich Europa an den Nachhaltigkeitszielen 2030 der UNO orientieren und den Ländern des Südens ihren eigenen Weg dorthin ebnen helfen. Für die Global Gateway Initiative und die in »Team Europe« verbundene Außen- und Entwicklungspolitik muss das der politische Kompass werden. So könnte ein demokratisches Gegengewicht zu Chinas Neuer Seidenstraße entstehen, die seit ihrem Start 2013 schon eine Spur zahlreicher Korruptionsskandale, Menschenrechtsverletzungen und neuer Schuldenberge hinterlassen hat. Entsprechend ausgerichtet könnte die 300-Milliarden-Euro-Strategie der EU auf demokratische Grundwerte aufbauen und echte Partnerschaften begründen helfen. Faire Investitionen sollten Sektoren wie Bildung und Gesundheit, Energie und Verkehr im gegenseitigen Interesse ankurbeln.
Der Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen im September bietet die Gelegenheit zu inhaltlicher und institutioneller Neuorientierung. Hier sollte Europa helfen, die Lücken im multilateralen System zu schließen und den Repräsentationsinteressen des Globalen Südens Rechnung zu tragen.
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