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Die Krisenpräsidentschaft

Brexit, Klimakrise, EU-Haushalt: Als wären die Herausforderungen nicht eh schon groß genug, fällt die deutsche Ratspräsidentschaft mitten in eine weltweite Pandemie und die größte Wirtschafts- und politische Krise der EU. Und so hat sich die Bundesregierung mit ihrem Motto für die Präsidentschaft ein ambitioniertes Ziel gesetzt: »Gemeinsam. Europa wieder stark machen«. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament stellen hohe Anforderungen an und haben große Hoffnung in die deutsche Ratspräsidentschaft. Diese steht dabei vor einer doppelten Herausforderung: einerseits die akute Krisenbewältigung in der EU voranzubringen und zu koordinieren, andererseits gleichzeitig auch die bereits laufenden Geschäfte der EU weiterzuführen. Bereits beim zweiten Punkt gibt es einige dicke Bretter zu bohren, was schon in Nichtkrisenzeiten kein leichtes Spiel gewesen wäre.

Fangen wir mit der Krisenbewältigung an. Ende Mai hat die Europäische Kommission – von der alle europäische Gesetzgebung ausgehen muss, da nur sie das Recht für EU-Gesetzesinitiativen hat – ihren Vorschlag für ein EU-Wiederaufbauprogramm vorgestellt. Dieses trägt den Namen »Next Generation EU«. Nach dem Vorschlag der Kommission sollen die EU-Mitgliedstaaten der Kommission ermöglichen, Kredite in Höhe von 750 Milliarden Euro aufzunehmen. Davon sollen in den kommenden drei Jahren 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an besonders von der Krise betroffene Staaten und Wirtschaftssektoren fließen. Weitere 250 Milliarden Euro sollen als Kredite an die Mitgliedstaaten weitergegeben werden. Das Ganze soll in den europäischen Haushalt für die nächsten sieben Jahre eingebunden werden, der zusätzlich noch einmal 1.100 Milliarden Euro umfassen soll. Für die Bundesregierung sollte eine Zustimmung im Großen und Ganzen kein Problem sein, schließlich hatte sie sich zuvor – auf Betreiben der SPD – mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron dafür ausgesprochen, dass sich die Kommission am Kapitalmarkt bis zu 500 Milliarden Euro beschaffen und als Zuschüsse an die Mitgliedstaaten weitergeben solle. Aber vor allem die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark, die selbsternannten »sparsamen Vier«, stellen sich grundsätzlich gegen Zuschüsse für andere Mitgliedstaaten und fordern ein Wiederaufbauprogramm, das nur auf zurückzuzahlenden Krediten basiert.

Auch Polen und Ungarn, die zunehmend in illiberale und autokratische Regierungsformen abgleiten, dürften nicht zufrieden sein, da die Kommission vorschlägt, dass die Auszahlung von EU-Geldern stärker an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit geknüpft sein soll. Uns Sozialdemokrat*innen ist diese Rechtsstaatsprüfung wiederum immer noch zu schwach. Es ist deshalb wohl nicht übertrieben zu sagen, dass die deutsche Ratspräsidentschaft für nicht weniger als den Zusammenhalt in Europa sorgen muss.

Und auch die Frage, für was das Geld ausgegeben werden soll, ist noch nicht geklärt. Als Sozialdemokrat*innen setzen wir uns, ebenso wie die Kommission, dafür ein, dass diese Mittel vor allem in Zukunftsinitiativen, wie den Green Deal und die Digitalisierung fließen sollen. Viele Konservative und Wirtschaftsverbände hingegen fordern, dass nun nicht mit der »Klimakeule« auf die Wirtschaft eingeschlagen werden dürfe. Aber wenn bald diese riesigen Summen zur Ankurbelung der Wirtschaft fließen, muss die Frage gestellt werden: In welcher Welt wollen wir nach der Corona-Krise leben? Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist klar: Ein »Weiter so« der klima- und umweltzerstörenden Wirtschaft darf es nicht geben. Der Green Deal muss Europas Antwort auf die Frage sein, wie wir in Zukunft leben wollen. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass der European Green Deal die Leitlinie und das Herzstück des Wiederaufbauprogramms für Europa und gleichzeitig zu einem Impulsgeber für die sozial-ökologische Wende auf unserem Kontinent wird.

Da das gesamte Paket aus Wiederaufbauprogramm und EU-Haushalt übrigens einstimmig von allen Mitgliedstaaten verabschiedet werden muss, steht der Bundesregierung also noch viel Arbeit im Hintergrund bevor. Und dass Haushaltsverhandlungen kein Kinderspiel sind, zeigte sich schon bei den vorangegangenen beiden Ratspräsidentschaften von Finnland und Kroatien, die schon vor der Corona-Krise keine substanziellen Fortschritte diesbezüglich erreichen konnten. Und die Uhr tickt: Wenn bis Ende des Jahres, also zum Ende der deutschen Präsidentschaft, kein neuer Haushalt steht, muss die EU über einen Nothaushalt finanziert werden. Dies hätte möglicherweise tiefe Einschnitte für wichtige Programme zur Folge.

Auch bei einer anderen wichtigen Frage drängt die Zeit: dem Brexit. Denn auch wenn Großbritannien Ende Januar endgültig aus der EU ausgetreten ist: Der Brexit ist noch nicht komplett vollzogen. Bis Ende des Jahres befinden sich die EU und Großbritannien in einer Übergangsphase. Die wichtigsten EU-Regeln gelten für Großbritannien immer noch und es ist weiterhin Mitglied der Zollunion. Diesen Status würde das Land verlieren, wenn bis zum Ende der Übergangsfrist kein Freihandelsabkommen unterzeichnet wird – mit unvorhersehbaren Folgen für die Wirtschaft auf beiden Seiten des Ärmelkanals. Und auch für den immer noch nicht gefestigten Frieden in Nordirland. Michel Barnier, der EU-Chefunterhändler, kritisierte kürzlich die mangelnde Kompromissbereitschaft auf britischer Seite. Es gilt, die Rechte der schon lange in Großbritannien lebenden EU-Bürger zu wahren und zu verhindern, dass Großbritannien vor den Toren der EU zu einer Steuerdumpingoase wird. Auch das wird kein leichtes Unterfangen für die deutsche Ratspräsidentschaft, die die Brexit-Verhandlungen zum Abschluss bringen muss.

Dann gilt es auch noch, die laufenden Geschäfte der EU weiterzuführen. Also Gesetzesvorhaben, die Vorgängerpräsidentschaften nicht abschließen konnten, oder kürzlich neu vorgeschlagene Initiativen der Europäischen Kommission voranzubringen. Einige dieser Vorhaben haben es in sich.

Da sind zum einen der Green Deal und sein Kernstück, ein europäisches Klimagesetz, welches festschreiben soll, dass die EU bis spätestens 2050 klimaneutral sein muss. Damit einhergehen wird auch eine Erhöhung des Klimaziels der EU für das Jahr 2030. Noch stemmt sich Polen gegen das Ziel der Klimaneutralität. Und auch bei der Frage nach der Höhe des Ziels für 2030 besteht noch keine Einigkeit. Derzeit plant die EU, bis 2030 40 % CO2 einzusparen. Bald will die Kommission vorschlagen, dass dieses Ziel auf 50–55 % angehoben werden soll. Für viele Konservative sind 50 % das höchste aller Gefühle, für uns Sozialdemokratinnen sind 55 % das Mindeste. Die sozialdemokratische Verhandlungsführerin des Europäischen Parlaments für das Klimagesetz fordert in ihrem ersten Entwurf gar eine Minderung um 65 %. Und auch hier spielt die Zeit wieder eine Rolle: Laut Pariser Klimaabkommen müssen die Vertragsparteien, also auch die EU, noch dieses Jahr ein Update ihrer Klimapläne vorlegen. Sollten sich die Regierungen und das Europäische Parlament noch dieses Jahr auf ein ambitioniertes EU-Klimagesetz einigen, wäre dies ein starkes Signal für den internationalen Klimaschutz und könnte hoffentlich andere Staaten dazu bewegen, auch mehr für unser Klima zu tun.

Auch wichtig für den Green Deal wird die Frage des Artenschutzes sein. Dazu hat die Europäische Kommission noch gerade rechtzeitig vor Beginn der deutschen Ratspräsidentschaft einen Vorschlag für eine neue EU-Artenschutzstrategie vorgelegt. Darin schlägt sie unter anderem Ziele für Naturschutzgebiete und zur Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme vor. Umweltministerin Svenja Schulze hat bereits angekündigt, dass der Artenschutz einer ihrer Schwerpunkte werden wird.

Ich erwarte, dass die deutsche Ratspräsidentschaft dafür sorgt, dass der Green Deal und der Kampf gegen die Klimakrise durch die Corona-Krise nicht in den Hintergrund geraten.

Ein Thema, das durch die Corona-Krise in der EU neue Bedeutung gewonnen hat, ist die soziale Absicherung und ein sozialer Arbeitsmarkt. Besonders auch auf Betreiben von Finanzminister Olaf Scholz hat die Kommission bereits bei Ausbruch der Krise eine europäische Arbeitslosenrückversicherung (SURE; Support mitigating Unemployment Risks in Emergency) präsentiert, welche den Mitgliedstaaten bei plötzlich stark ansteigender Arbeitslosigkeit unter die Arme greifen soll. Für diesen Vorschlag Einigkeit unter den Mitgliedstaaten zu erzielen obliegt nun der deutschen Bundesregierung.

Ein anderes Herzensthema von uns Sozialdemokrat*innen ist die Einführung von Mindestlöhnen überall in Europa. Die Kommission beabsichtigt dazu im Herbst einen Vorschlag zu machen. So könnte noch Arbeitsminister Hubertus Heil als Vorsitzender der EU-Arbeitsminister*innen die Debatte dazu unter seinen Kolleg*innen anstoßen.

Als letztes möchte ich hier noch das wohl schwierigste Vorhaben erwähnen: die Reform der europäischen Asyl- und Migrationspolitik. Bereits seit 2016 steckt die Reform im Rat fest. Die europäischen Innenminister*innen können sich einfach nicht auf eine Reform einigen. Nun will die Europäische Kommission bald einen neuen Vorschlag für eine Reform vorlegen, die hoffentlich Bewegung in den Rat bringt. Als Sozialdemokrat*innen wollen wir dafür sorgen, dass alle Menschen ihr Recht auf Asyl wahrnehmen können und dass keine Menschen mehr auf ihrer Flucht im Mittelmeer ertrinken. Dafür brauchen wir ein Asylsystem, bei dem die Verantwortung nicht einigen wenigen Staaten zugeschoben wird, in denen Asylsuchende normalerweise zuerst europäischen Boden betreten, z. B. Griechenland, Italien oder Spanien. Alle Länder der EU müssen gemäß ihrer Fähigkeiten Menschen Schutz vor Gewalt, Krieg und Verfolgung bieten. Deshalb braucht es eine solidarische Verteilung Geflüchteter innerhalb der EU auf alle Staaten und eine europäische Seenotrettung. Allein, viel Hoffnung, dass sich daran während der deutschen Ratspräsidentschaft viel ändert, habe ich nicht.

Bei all dem muss zudem bedacht werden, dass die Präsidentschaft nicht nur unter politisch schwierigen Bedingungen stattfindet. Auch logistisch wird diese Präsidentschaft enorm herausfordernd. Da Reisen und persönliche Treffen wohl auch in der zweiten Jahreshälfte nicht im gewohnten Ausmaß stattfinden können, wird auch unter den Minister*innen, Beamt*innen und Staats- und Regierungschef*innen viel online und aus dem Homeoffice abgestimmt werden müssen.

Die deutsche Ratspräsidentschaft steht also vor enormen Herausforderungen. Gerade für Sozialdemokrat*innen stehen wichtige Themen auf der Agenda, wie die EU sozialer, nachhaltiger, demokratischer und offener gemacht werden kann. Kaum ein anderes Halbjahr war je so wichtig, die Weichen für die Zukunft der EU zu stellen, wie dieses. Ich bin zuversichtlich, dass zumindest der sozialdemokratische Teil der Bundesregierung dafür sorgen wird, dass diese Themen im Schatten der Corona-Krise nicht aus dem Blick geraten. Denn nur, wenn das gelingt, machen wir die Europäische Union fit für die Zukunft!

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