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© picture alliance / Westend61 | Tania Cervián
 

Nichtstun als Quell persönlicher Regeneration Die Kunst innerer Erfrischung

Eigentlich bin ich viel zu müde, diesen Text zu schreiben. Ich weiß nicht, ob es am Frühling liegt, der mir jedes Mal die Knochen bricht, bevor er mich zärtlich wieder aufrichtet, oder an den letzten Wochen, die fordernd waren, vielschichtig und voller Gefühl. Ich weiß nur, dass ich all das – den Frühling, das Leben, das Gewesene – erst einmal verdauen muss. Verdauen verwandelt die vielen Einzelheiten in eine zusammenhängende Geschichte, meine Geschichte und irgendwann macht mein Leben wieder Sinn.

Das Einzige, was ich an dieser Stelle tun muss, ist nichts tun. Wenn ich nur lang genug still bin, fallen alle Dinge an ihren richtigen Platz, fügt sich die Unordnung zu einem sinnvollen Zusammenhang, der weder abgeschlossen noch notwendig ist, aber bewohnbar. Ich kann weitermachen, weiterfühlen, weiterbrennen – wenn wir damit das Licht des Geistes meinen, der sich immer wieder neu auf den Tanz mit dem Gewesenen einlässt und dabei Sinn ebenso erfährt wie herstellt.

Wenn ich mir diese Zeit allzu lange nicht nehmen kann, weil ich zu beschäftigt bin, oder diese innere Einkehr weder kenne, noch für wichtig halte, bin ich in Gefahr, auszubrennen. Das Leben überwältigt mich, und ich kann keine Beziehung mehr zu ihm herstellen – und auch nicht zu mir. Depression, die oft am Ende des Übergangsphänomens Burn-Out steht, ist auch eine Erfahrung von Beziehungslosigkeit – alles ist noch da, aber hat nichts mehr mit mir zu tun, kann nicht gedeutet, gewichtet oder gar beeinflusst werden.

Diesbezüglich leben wir in einer gefährlichen Zeit. Schon in der Antike machte die Philosophie einen Unterschied zwischen dem, was man gerade so macht, und dem eigenen Leben, das sich letztlich einem Bewusstseinsprozess verdankt, den wir auch Erwachsenwerden oder Mündigkeit nennen können. Dieser Prozess beginnt damit, das Selbstverständliche eben nicht für selbstverständlich zu halten.

Wie Seneca im alten Rom dazu ermahnte, nicht blind nach Ämtern und Ehren zu streben, sondern sich um seine Seele zu kümmern, müssen wir Heutigen uns daran erinnern, dass wir nicht auf der Welt sind, um zu leisten, sondern um zu leben. Ich finde es beruhigend, dass wir Menschen schon seit 2.000 Jahren materialistisch, oberflächlich und hektisch sind, ebenso wie es beruhigend ist, dass es immer schon Stimmen gab, die uns an das echte Leben erinnert haben. Doch Adorno irrte: Natürlich gibt es ein richtiges Leben im Falschen, wo soll es denn sonst stattfinden? Auf dem Mars?

Nein, nein, die Sache ist vielmehr so, dass jede Kultur, jede Gesellschaft, jede Epoche ihre eigenen Torheiten hat: Mal ist alles machtgetrieben, dann sind alle religiös, oder es geht, wie bei uns gerade, nur noch ums Geld. Das echte Leben hingegen war und ist immer schon eine Sache Einzelner gewesen, die sich höchstpersönlich auf den Weg gemacht haben, authentisch und wesentlich zu werden. Das beruhigt und nimmt zugleich in die Pflicht, denn es meint keinen anderen als dich und mich, jetzt und hier, hier und jetzt.

Leben in überstimulierten Zeiten

Dennoch ist es angebracht, über das Ausmaß der aktuellen gesellschaftlichen Torheit nachzudenken. Ich bin kein Fan von Vergangenheitsverklärung, da reicht mir allein die Vorstellung, dass ich wahrscheinlich in den 50er Jahren nicht einmal hätte studieren können. Dass ich als Frau in Afghanistan im Jahr 2023 wohl nicht mal das Haus verlassen dürfte, erwähne ich nur am Rande, vielleicht auch, um zu betonen, dass die im Folgenden behandelten Fragen nach einem guten Umgang mit sich und dem Leben für viel zu viele Menschen immer noch Luxusprobleme sind.

Doch genau an dieser Frage zeigt sich auch die Realität des Besseren: Eine Gesellschaft, in der Frauen wählen, studieren und teilhaben dürfen ist meiner Meinung nach wünschenswerter als das Gegenteil. Und von diesem schlichten Verständnis des Wünschbaren und Bekömmlichen aus können wir kurz auf unsere eigene westliche Gegenwart blicken: eine laute, zunehmend lebensfeindliche Materialschlacht, in der wir Einzelnen angehalten sind, jeden Aspekt unseres Lebens zu optimieren, zu vergleichen und auszustellen. Konkurrenz, Transparenz und Ausbeutung sind normal, selbstverständlich, ja wünschenswert.

Das wiederum ist nicht nur ein falsches, sondern ein krankmachendes Leben. Wenn ein junger Mensch dieser Tage einfach nur macht, was alle machen, ist die Wahrscheinlichkeit von Erschöpfung, Burn-Out und anderen psychischen Erkrankungen auf eine historisch neue Weise hoch. Denn zeitgleich mit der stetig ansteigenden Reizüberflutung scheinen wir alle kollektiven Praktiken des Innehaltens, Reflektierens, Verdauens verlernt zu haben. Natürlich gibt es eine Flut von Meditationen, Entspannungsreisen und Achtsamkeitsübungen. Doch sie erscheinen eher als Wartungs- denn als Besinnungspraktiken in einer Zeit, die den Wert des Menschen mit seinem Output gleichsetzt, weil sie vergessen hat, dass wir innen größer sind als außen.

Was für eine Torheit. Wir sind doch nicht nur hier, um zu leisten! Wir sind hier, um uns zu entwickeln, lieben zu lernen, und um in vielen Beziehungen einen kleinen Anteil an der unendlichen Komplexität des Seins zu haben. Wir sind hier, um zu geben, zu leuchten und zu tanzen. Und, damit wären wir wieder bei Seneca, wir sind hier, um uns um unsere Seele zu kümmern, also um unsere Gefühle, unsere Urteile und das Licht unseres Geistes.

Angesichts dessen gilt es, achtsamer mit unserer Lebenskraft umzugehen, Phasen der Produktivität und der Brache abzuwechseln, und das eigene Dasein als solches zu ehren – wie man die Blumen ehrt, die nutzlos sind, aber nicht wertlos, im Gegenteil. Um weiter zu brennen, ist es also notwendig, ab und zu das Licht zu löschen – bevor es einem gänzlich ausgeht.

Die Wichtigkeit, sich Zeit zu lassen

Das beginnt mit kleinen Pausen – ein paar Atemzüge tiefer auszuatmen, als einzuatmen, zum Beispiel, dann springt das vegetative Nervensystem an, das für Entspannung zuständig ist. Wer mehr Zeit hat, kann nixen. Das bedeutet, dass man nichts macht. Gar nix. Eine kleine Einheit besteht aus zehn Minuten einfach nur dasitzen. Ist länger, als man meint, und unangenehm, weil alles hochkommt. Aber das ist nur ein anderer Ausdruck für Verdauen.

Das Gewesene wirft sein Licht in die Gegenwart, und wir sind eingeladen, diese Reflexionen wahrzunehmen und bewusst zu bewerten. Es ist wirklich ein Tanz: Der Sinn stellt sich ein, aber wir stellen ihn auch her, und so kann ich berichten, dass ich nach einigen Stunden Stille, ein paar schlaflosen Nächten voller Gefühle und Selbstgespräche und dem freundlichen Vergehen von ein wenig Zeit wieder à jour bin mit mir und dem Frühling.

Stille erfrischt, sortiert und kostet nichts. Das hat sie mit allen anderen Techniken gemeinsam, die den inneren Menschen meinen und stärken. Wobei, ganz stimmt das auch nicht, denn all diese Dinge kosten Zeit. Die muss man sich trotz aller Leistungswünsche nehmen, und das ist eben die Entscheidung, die wir alle immer wieder zu treffen haben, ob im alten Rom oder in Deutschland im Jahr 2023.

Weiterbrennen ist ein Ja zu sich und seinem Leben. Es geht aber nicht nur darum, dem Ausbrennen vorzubeugen, indem man äußere Reize reduziert, sondern auch darum, den eigenen Innenraum zu erweitern. Je mehr Zimmer das Haus unserer Seele hat, desto stärker ist unser inneres Licht. Neue Fähigkeiten und ungewohnte Perspektiven lassen uns innerlich wachsen, ebenso wie die Summe der uns möglichen Weltbeziehungen – ob zu Tieren oder Landschaften, zu Gebäuden oder Maschinen. Umso vielgestaltiger das, was uns angeht und Freude macht, umso größer ist unsere Welt.

Aber auch wenn wir uns hier heimisch fühlen können, sollten wir doch nicht vergessen, über alles zu staunen. Das Leben ist geheimnisvoll, über alles Begreifen erhaben. Alles ist in Bewegung, alles ändert sich ständig. Und auch wir sind geheimnisvoll, unerschöpflich, wandelbar – so alt wie die Sonne, so frisch wie der Frühling. Wir sind alle hier, alle am Leben, was auch immer das heißt. Doch wenn wir es schon machen müssen, warum machen wir es nicht schön?

Kommentare (1)

  • Werner Weissenhofer
    Werner Weissenhofer
    am 03.06.2023
    ... wie schön sind diese Hinweise auf das "sich sammeln"- nur in der Ruhe können alle Eindrücke, Erfahrungen, Gelerntes, Gelesenes oder Aufgelesenes... gesammelt und geordnet werden -Danke- bewunderte und bewundernswerte Ariadne für diese wahrlich lehrreichen Gedanken -

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