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© Foto: Mina Gerngroß

Die Kunst ist zurück

Carsten Brosda, promovierter Journalistikwissenschaftler, ist Senator für Kultur und Medien in Hamburg, Vorsitzender des Kulturforums der Sozialdemokratie und Co-Vorsitzender der Medien- und Netzpolitischen Kommission des SPD-Parteivorstandes. Viel diskutiert wurden seine Bücher »Die Zerstörung« (2019) und »Die Kunst der Demokratie« (2020). Im Oktober ist sein neues Buch »Ausnahme/Zustand« erschienen, in dem er notwendige Debatten nach Corona skizziert. Für die NG|FH befragte ihn Klaus-Jürgen Scherer.

NG FH: »Die Kunst ist zurück« titelte jüngst der Tagesspiegel. Ist das wirklich so einfach? Hinterlässt die Corona-Pandemie, die ja alles andere als vorbei ist, nicht tiefe Spuren im Kulturleben Deutschlands? Trifft es das monumentale Banner am legendären Berghain in Berlin – aus dem Club wurde ja eine temporäre Kunsthalle – nicht besser? »Morgen ist die Frage« steht da, eine Parole des Aktions- und Performancekünstlers Rirkrit Tiravanija. Denn enthält der Blick in die Zukunft nicht doch vor allem Unsicherheiten?

Carsten Brosda: Der Blick in die Zukunft enthält immer viele Unsicherheiten. Aber das beschriebene Gefühl trügt nicht: Den Zustand, dass wir heute wissen, wie das Morgen sein wird, finden wir in der Kultur schon lange nicht mehr. Vieles ist wahnsinnig prekär. Abgesehen von vielleicht einigen Strukturen, die sehr ordentlich staatlich finanziert sind, ist diese Prekarität in der aktuellen Situation fast überall spürbar.

Aber diese Unsicherheit entwertet nicht die Beobachtung des Tagesspiegels. Beide Aussagen stimmen. Denn die Kunst ist zurück, wir erleben seit dem Sommer ein tastendes Wiedereinsteigen in den kulturellen Betrieb, auch dort, wo er davon abhängig ist, dass er vor Publikum stattfindet. Entscheidend ist, dass wir jetzt kulturpolitisch das Signal geben: Wir wollen, dass kulturelles Erleben und künstlerisches Produzieren stattfinden können, auch unter den jetzigen Bedingungen. Und dafür müssen wir die – gegebenenfalls auch finanziellen – Voraussetzungen schaffen.

NG FH: Es ist ja viel an Unterstützung und auch einiges an Überbrückungsgeldern geflossen. Jetzt gibt es »Neustart Kultur«, ein milliardenschweres Rettungs- und Zukunftsprogramm des Bundes für die notleidende Kultur. Kann sich Deutschland damit nicht eigentlich glücklich schätzen im Vergleich etwa zu England oder Amerika, wo die Kultur viel stärker privat organisiert ist?

Brosda: Tatsächlich ist es einfacher, wenn der Staat mit auf dem Platz ist. Die Rechnung, dass eine privatwirtschaftliche Finanzierung der Kultur funktioniert, geht gerade in Krisenzeiten nur eingeschränkt auf. Da hilft es, wenn es eingeübt ist, dass der Staat an der Finanzierung und damit auch an der Gewährleistung beteiligt ist. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Wir werden erneut darüber diskutieren müssen, was es für uns als offene und kulturell freiheitliche Gesellschaft heißt, wenn wir Kultur sicherstellen wollen. Es geht dann noch einmal neu um die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung für Kultur und Kunst.

NG FH: Worin sehen Sie die drängendsten kulturpolitischen Aufgaben in dieser Situation, damit überall möglichst wenig Kultur auf der Strecke bleibt und die Künste wieder in Gang kommen? Man hört ja aus vielen Bereichen Unterschiedliches, aber immer wieder auch von großen Problemen. Theater, Film, Events der Kreativwirtschaft sind kaum noch so möglich, dass sie sich rechnen. Wo ist der drängendste Handlungsbedarf?

Brosda: Ich stelle fest, dass wir nach wie vor Schwierigkeiten haben, da zu helfen, wo wir bisher nicht fördernd unterwegs waren. Natürlich ist es eine Fehlannahme, dass nur die Kunst wertvoll ist, die staatlich gefördert und mitfinanziert worden ist. Denn man kann auch Kunst produzieren, die sich vollständig anders finanziert, sei es über Stiftungen, über private Mäzene oder sogar, indem man beim Publikum so erfolgreich ist, dass man ausreichend verkauft und dadurch klar kommt.

Doch fehlen uns dort in der Krise dann häufig die Grundlagen zu helfen. Da heißt es dann im Zuwendungsrecht gerne auch mal, das sei ja ein Wirtschaftsbetrieb und gar kein Kulturbetrieb, deswegen könne man nur eingeschränkt oder nur nach bestimmten Maßgaben fördern. Zum anderen haben wir in den ersten Wochen und Monaten unseren Hauptfokus generell auf den Erhalt von Strukturen und Infrastrukturen gelegt. Denn wir wissen, wenn uns die verlorengehen, dann sind sie dauerhaft weg. Insofern müssen wir ein Interesse daran haben, dass das, was gewachsen ist, erhalten bleibt.

Und drittens – das ist die große Diskussion, die jetzt sicherlich noch kommen wird – haben wir gesehen, wo auch unser Sozialstaat bei aller Leistungsfähigkeit an der einen oder anderen Stelle nicht über das Instrumentarium verfügt, das wir eigentlich brauchen.

NG FH: Wäre das die Frage nach der sozialen Lage der Kulturschaffenden, die sowieso schon immer, von den wenigen »on top« abgesehen, ein vergleichsweise schlechtes und unsicheres Auskommen haben?

Brosda: Wir sollten da bei den Künstlerinnen und Künstlern genauer hinschauen. Wir haben ja sehr viel Kritik in den vergangenen Monaten zu hören bekommen, sicher an der einen oder anderen Stelle auch berechtigt. Spannenderweise wissen die nicht wenigen Künstler und Kreative, die immer so ums Existenzminimum herum pendeln, in der Regel auch die Mechanismen der Grundsicherung zu nutzen für das, was sie tun. Und diejenigen, die gewissermaßen die Spitzenverdiener und Stars sind, verfügen in der Regel über genug eigene Rücklagen, mit denen sie klarkommen.

Die Gruppe dazwischen hatte die meisten Probleme. Diejenigen, die im Prinzip eine mittelständische Existenz aus den Einnahmen ihrer künstlerischen Tätigkeit heraus erwirtschaftet haben und die dann von einem auf den anderen Tag auf Null gefallen sind. Die mussten feststellen, dass Grundsicherung nur ein eingeschränkt attraktives Angebot ist, weil man zwar die Miete und die Krankenversicherung abgedeckt bekommt durch den Regelsatz, aber dies natürlich nicht die laufenden Kosten einer Mittelstandsfamilie mit zwei Kindern deckt.

Da zu fragen, wie man zum Beispiel eine Versicherung gegen Einkommensausfall entwickeln kann, wird sicherlich eine wichtige Aufgabe sein. Was aber umgekehrt auch voraussetzt, dass wir die Debatte darüber noch einmal führen, wo auch die Bereitschaft besteht, sich in ein solidarisches Versicherungssystem einzubringen.

NG FH: Das finde ich eine interessante Volte, dass jetzt durch die Coronakrise diese ganze Debatte über die mangelhafte sozialpolitische Absicherung von Kreativen, Soloselbstständigen und Künstlern, die doch seit Jahrzehnten geführt wird, wieder an Fahrt aufnimmt und auf die konzeptionelle Ebene gerät.

Brosda: Ja durchaus. Es gibt jetzt auch die ersten – der Deutsche Kulturrat hat sich da deutlich eingelassen –, die sagen, nicht an jeder Stelle sollte die Freiberuflichkeit die zwangsläufige Form der Beschäftigung sein. Man kann durchaus an der einen oder anderen Stelle im kulturellen Leben darüber nachdenken, ob man das nicht besser mit einer sozialversicherungspflichtigen Festanstellung machen könnte, dann hat man die Probleme nämlich nicht. Auch das gehört zur Diskussion dazu, dass sich viele Künstlerinnen und Künstler noch vor einem halben Jahr nicht vorstellen konnten, einmal in eine Situation zu kommen, in der dieses Ich-hangel-mich-durch nicht mehr funktioniert, weil alle Möglichkeiten, irgendwo was zu greifen, mit dem man über den nächsten Monat kommt, auf einmal nicht mehr zur Verfügung stehen. Diesen Schock jetzt zu verarbeiten, das führt schnell zu den Fragen nach den Möglichkeiten des Sozialstaats.

NG FH: Sie sind ja auch Senator für Medien. Corona hat vieles ins Internet verschoben, was meistens als nachholender Fortschritt interpretiert wird, jedenfalls in der Firmenkommunikation, bei der Bildung, an den Hochschulen. Wie ist das eigentlich bei der Kultur? Das Streamen klassischer Konzerte oder von Opern, das ist doch nichts gegenüber dem authentischen Kulturerlebnis?

Brosda: Ja, das ist sehr deutlich. Aber man muss sich einmal vorstellen, wir hätten diesen Lockdown Mitte der 90er erlebt, mit dem damals zur Verfügung stehenden technischen Arsenal. Was hätte da alles gefehlt? Wie selbstverständlich können wir dagegen jetzt bestimmte digitale Möglichkeiten der Zusammenarbeit nutzen. Deshalb finde ich es zunächst positiv, dass es so einen Digitalisierungsschub gegeben hat, dass ganz viele angefangen haben, sich mit dem Medium auseinanderzusetzen, dass sie festgestellt haben, was geht und was nicht geht. Aber das Eins-zu-eins-Übersetzen eines analogen Prozesses ins Digitale funktioniert in der Regel nicht. Man muss diesen Raum schon als eigenständigen künstlerisch zu bespielenden Raum begreifen. Ich fand ganz spannend, wie Kay Voges, bis vor Kurzem Intendant am Schauspiel Dortmund, gesagt hat: »Das Digitale ist eine weitere zusätzliche Sparte neben den anderen Sparten, die wir im Haus schon haben.« Ich bin mal gespannt, wie das jetzt unter neuer Intendanz fortgesetzt wird. Es geht schließlich nicht nur darum, dass man die Technik nutzt, um das zu machen, was man schon immer gemacht hat, sondern um etwas anderes zu machen.

Nach einer gewissen Zeit haben viele schließlich festgestellt, dass das Digitale in erster Linie ein Mechanismus gewesen ist, um mit dem Publikum in Kontakt zu bleiben und um daran zu erinnern, was fehlt. Da geht es mir genauso. Ich habe es bis heute nicht geschafft, mir ein gesamtes Konzert im Stream anzuhören, weil mir da etwas fehlt. Aber dieses Bewusstsein, dass mir was fehlt, kann auch eine wertvolle Emotion sein. Man erlebt ja jetzt gerade, wenn die Leute wieder in die Säle kommen, dass ein ganz anderes Bewusstsein für dieses Auratische des Kunstwerkes – quasi im Benjaminschen Sinne – entsteht. Man spürt förmlich, wie das Publikum merkt, was die Dimension, die fehlte, ausmacht: dieses gemeinsame Erleben im Raum. Dass diese Dimension jetzt wieder da ist, ist etwas sehr Schönes.

NG FH: Ich erinnere mich an die Debatte um die Museen. Als die anfingen Rundgänge und Präsentationen ins Internet zu stellen, wurde kritisiert, das sei nicht authentisch. Aber hinterher gingen die tatsächlichen Besucherzahlen hoch.

Brosda: Klar, so kann man überzeugen, dort hinzugehen. Was uns bei der Digitalisierung nicht passieren darf, ist der Fehler, der vor 20 Jahren begangen wurde, als insbesondere in den Medien alle nach dem Muster gehandelt haben, ich stelle jetzt mal alles, was ich habe, online. Dann habe ich nämlich keine Möglichkeit mehr, noch einen Preis dafür zu nehmen.

NG FH: Dem Vorsitzenden des Kulturforums möchte ich noch eine grundsätzliche Frage stellen. Woraus besteht eigentlich heute der spezifisch sozialdemokratische Kulturbegriff, wenn es den denn überhaupt gibt? Mit Begriffen wie »Kultur für alle« oder »kulturelle Teilhabe« hat man ja früher versucht, das Besondere sozialdemokratischer Kulturpolitik zu markieren. Sind heute nicht die Kulturbegriffe aller demokratischen Parteien ziemlich identisch?

Brosda: Ich weiß nicht, ob sie so identisch sind. In dem »Kultur für alle« steckt jedenfalls nach wie vor mehr drin, als wir uns manchmal eingestehen. Diese Programmatik verlangt mehr, als viele ursprünglich gedacht haben. Selbst Hilmar Hoffmann hat ja »Kultur für alle« am Anfang so verstanden, dass Arbeiterkinder in die Oper gebracht werden. Es ging vorrangig um das Senken der Zugangsschwellen. Die Diskussion, dass es die Oper verändert, wenn die Arbeiterkinder kommen, ist damals in den 70er, 80er Jahren nicht unbedingt geführt worden, sondern es ging um den Zugang als solchen. Aber natürlich verändert ein bunteres Publikum auch die Art und Weise, wie eine Kunstform dargereicht wird.

Vielleicht kann man das, was heute im Vergleich zu damals unsere Aufgabe ist, mit einem zunächst nicht so naheliegend wirkenden Vergleich aus der Hochkultur deutlich machen. Wenn man den Gasteig in München, den dortigen Konzertsaal, vergleicht mit der Elbphilharmonie in Hamburg, dann sieht man dem Gasteig an, dass damals aus einer Art aufklärerisch gesellschaftsemanzipativen Geste heraus gesagt wurde: Wenn wir ein Konzerthaus bauen, dann muss da auch ein soziokulturelles Zentrum rein, auch die Bücherei, die den Zugang zu anderen kulturellen Angeboten eröffnet. Die Elbphilharmonie verzichtet spannenderweise auf solche Ergänzungen, sagt aber in ihrer Programmatik gleichermaßen radikal, dass der Ort der Hochkultur, nämlich der Konzertsaal, die gesamte Stadtgesellschaft erreichen soll. Und das wäre für mich schon etwas zutiefst Sozialdemokratisches zu sagen, es geht nicht darum, dass ich ein Nebeneinander der Angebote habe, sondern eigentlich geht es um die radikale und unbedingte Öffnung aller Orte für alle mit dem dann dazugehörigen entsprechenden Programm.

Das ist sehr sozialdemokratisch, weil es auf die Gesellschaft als Ganzes zielt. Ich habe schon das Gefühl, dass die meisten anderen Parteien sehr gut damit klarkommen, dass sich einzelne Programme einzelnen Gruppen widmen. Die Frage nach dem Ort, an dem die Gesellschaft sich mit Kultur auseinandersetzt, ist dagegen ein zutiefst sozialdemokratischer Gang. Der hat am Ende übrigens auch einen sehr radikalen Impetus für die Frage nach der künstlerischen Freiheit. Denn wenn ich die ganze Gesellschaft adressiere, dann verenge ich meine Programmatik ja auch nicht nach bestimmten milieuspezifischen oder identitätsspezifischen Maßgaben, sondern strebe danach, dass sich zunächst alle beteiligen und äußern können. Aber es darf dann auch alles kritisiert werden und wir freuen uns auf die Debatte, die sich daraus entwickelt, weil wir das Gemeinsame, das Allgemeine dann auf dieser Grundlage miteinander verabreden müssen.

NG FH: Also geht es neben kultureller Freiheit und Demokratie ebenso um gesellschaftlichen Zusammenhalt?

Brosda: Es geht um kulturelle Freiheit für alle wohlgemerkt und um den daraus sich zwangsläufig entwickelnden Prozess. Denn wenn jeder beinahe alles sagen kann, dann gibt es zwangsläufig Stress. Das ist auch gut so in einer diversen Gesellschaft. Den auszuhalten und die Debatte dann zu führen, stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Kultur hat niemals unmittelbar den Job, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, das wäre, glaube ich, eine Verengung und eine Beschränkung ihrer Freiheit, die nicht aushaltbar wäre. Sie zielt auf den Zusammenhang, den Sinn unseres Zusammenlebens. Aber wenn wir ihr die Freiheit geben, alles zu tun, alles zu kommentieren, alles anzureißen, dann kommen wir gesellschaftlich gar nicht anders daraus heraus, als dass wir diese Debatten führen und damit dann als Gesellschaft zusammenstehen.

NG FH: Das steht dann ja im diametralen Gegensatz zu identitätspolitischen Konzepten von Kultur. Hat die AfD nicht den demokratischen Konsens aufgekündigt, indem sie versucht die Kultur vor einen politisch-inhaltlichen – radikal nationalistischen – Karren zu spannen?

Brosda: Die AfD versucht tatsächlich eine ganz brutale Verengung auf ein völkisches Narrativ. Ich glaube, darüber muss man gar nicht lange reden. Wenn ich Identitätspolitik weiter fasse, ist es differenzierter, denn natürlich weisen viele völlig zu Recht darauf hin, dass es Beschränkungen der Möglichkeiten der Teilhabe am kulturellen Diskurs gibt. Natürlich gibt es bestimmte gesellschaftliche Gruppen, die nicht gleichermaßen repräsentiert sind. Man muss sich ja nur einmal unter den Dramaturgen eines Theaters oder den Kuratoren eines Museums umsehen. Sie repräsentieren in der Regel nicht die Vielfalt unserer Gesellschaft. Diese Frage nach den Teilhabemöglichkeiten am kulturellen Diskurs müssen wir beantworten und Vielfalt gezielt fördern. Aber das darf nicht im Umkehrschluss dazu führen, dass wir dann anderen sagen, dass sie sich zu bestimmten Themen nicht mehr äußern dürfen. Wir müssen die Befähigung und die Ressourcen aller stärken, teilhaben zu können.

NG FH: Damit sprechen wir nicht nur über Kulturpolitik im klassisch engeren Sinne, sondern über Fragen der soziokulturellen Entwicklung der Gesellschaft insgesamt. So hatte sich das Kulturforum ja seit Peter Glotz auch immer als Medium des diskursiven Austausches verstanden, also nicht nur als Kulturlobby. Und da gibt es derzeit viele sozialwissenschaftliche Analysen, die sagen, die Spaltung der Gesellschaft hat heute mehr denn je auch kulturelle Wurzeln.

Brosda: Ich bin in der Frage, wie gespalten wir sind, ein bisschen zurückhaltend. Den einen tiefen Spalt in unserer Gesellschaft wie beispielsweise in den USA gibt es bei uns so nicht. Aber wir haben zunehmend Schwierigkeiten, aus der Vielfalt heraus das Gemeinsame zu entwickeln. Wenn man es in eine maritime Metapher übersetzen will, ist das Wasser kabbeliger geworden, wir haben viele kleine Wellen, die uns immer wieder aus dem Konzept bringen, und mit denen wir umzugehen lernen müssen.

Kultur ist für mich sehr nah an dem, was Hannah Arendt »das Politische« genannt hat, also das Gespräch einer Gesellschaft über das, was alle angeht und diese Idee, dass die Erkenntnis eher zwischen uns allen denn in jedem Einzelnen liegt. Das wird in der Kultur erlebbar, weil diese immer das Material liefert, mit dem eine Gesellschaft sich auseinandersetzen muss, um mit sich selber zu Rande zu kommen. Und dann ist es die Genialität des einzelnen Künstlers, sich in seinem Kopf etwas auszudenken, mit dem wir dann konfrontiert sind. Das ist der Prozess, der spannend ist, weil er die künstlerische Position in den kulturellen Verständigungsprozess übersetzt.

NG FH: Vielfach ist ja diskutiert, dass die Aufgabe der Sozialdemokratie gerade darin bestünde, kulturelle Brücken zu bauen. Bei Willy Brandt bedeutete Mehrheitsfähigkeit, den Brückenschlag zwischen Arbeitermilieu und aufgeklärtem Bürgertum hinzubekommen. Ist das heute auf eine andere Art nicht auch so?

Brosda: Ja, ehrlicherweise sogar noch viel dramatischer. Bereits in den 70er/80er Jahren, als Peter Glotz mit den Sinus-Milieus kam, die man jetzt beherrschen müsse, wenn man Mehrheiten erreichen wolle, war das ja schon eine Komplexität, die über die klassischen Schichtenmodelle hinauswies. Die heutige Komplexität von Gesellschaft übersteigt das, was die Sinus-Studien vereinfacht darstellen, ja noch einmal um ein Vielfaches, weil so viele zusätzliche Dimensionen hinzugekommen sind. Ich glaube, die Aufgabe ist tatsächlich, Themen und Erzählungen für die Sozialdemokratie zu entwickeln, die jenseits dieser sehr engen Frage, wer man selbst eigentlich in einem gesellschaftlichen Gefüge ist, eher danach fragen, was wir denn gemeinsam wollen. Denn Politik fängt da an, wo wir uns zusammenfinden und etwas verändern wollen.

Ein Beispiel: Dass Schülerinnen und Schüler, die sich anstrengen, die Möglichkeit haben sollen, alles das mit ihrem Leben anfangen zu können, was sie wollen, eint uns wahrscheinlich alle, die wir Kinder in die Schule schicken. Und zwar völlig unabhängig von den vielen unterschiedlichen Fragen, die uns an anderer Stelle trennen. Der Wunsch, dass ich, wenn ich arbeite und in Schwierigkeiten komme, abgesichert sein möchte, eint uns wahrscheinlich alle. Der Wunsch, dass ich eine Wohnung bezahlen können möchte in der Lage, in der ich leben möchte, eint uns alle. Und auch der Wunsch, dass ich Orte und Räume in einer Gesellschaft haben möchte, in die ich nicht nur in einer vorgeprägten Funktionsbestimmung und Rolle hineinkomme, sondern in der ich tatsächlich als Bürger in Freiheit mit anderen über das diskutieren kann, was uns alle angeht, eint uns wahrscheinlich auch alle.

Die Sozialdemokratie ist mehr als alle anderen Parteien die Partei, die aufs Allgemeine fokussiert. Die aber nicht sagt – und das unterscheidet sie von der CDU –, dass das Allgemeine traditionell vorbestimmt ist, sondern die das Angebot macht, gemeinsam als Gesellschaft das Allgemeine zu bestimmen. Das ist anstrengend, aber es ist aufregend. Und ich glaube, wenn wir uns darauf wieder ein bisschen stärker einließen, dass wir eine progressive Vorstellung des Gesellschaftlichen als Angebot entwickeln, dann hätten wir als Sozialdemokratie eine ganze Menge geschafft. Ob man damit dann noch 50 % erreicht? In Hamburg ist das plausibel, ob das bundesweit plausibel ist, werden wir sehen müssen. Aber dass man damit eine gesellschaftliche Mehrheit organisieren kann, die ihre eigenen Belange in die Hand nehmen und gestalten will, daran glaube ich nach wie vor zutiefst.

NG FH: Das ist ja seit Jahren ein bedenklicher Widerspruch: die zum Teil über 70 % Zustimmung zu sozialdemokratischen Forderungen und Fragestellungen einerseits und die SPD-Wahlergebnisse, die alles andere als in diese Nähe kommen, andererseits.

Brosda: Das hat auch damit zu tun, dass die Partei in den letzten Jahren nicht an jeder Stelle dem Wähler das Gefühl gegeben hat, ihre eigenen Werte auch vollumfänglich selber zu leben. Solche inneren Widersprüche merken Bürger und das ist dann eine Vertrauensfrage. Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission Gesine Schwan kann präzise erklären, warum es schwierig ist, themenspezifische Zustimmung in Wählerzustimmung umzusetzen, wenn man kein Vertrauen genießt. Das bleibt eine entscheidende Frage: Haben die Leute das Gefühl, dass wir diejenigen sind, die das organisieren und umsetzen, denen man den Staat anvertrauen kann? Daran müssen wir arbeiten.

NG FH: Da gibt es ja auch den im Grunde kulturellen Begriff der Verkörperung. Also dass es nicht nur auf Programme und Positionen ankommt, sondern sehr wohl auch auf glaubwürdige Personen. Die SPD bereitet sich bereits für die Bundestagswahlen 2021 vor, wird es mit Olaf Scholz wieder mehr um Kultur gehen? 1998 wurde ja nicht nur wegen »Innovation und Gerechtigkeit«, sondern auch wegen dieser ganz klaren, von Günter Grass, Klaus Staeck, Jürgen Habermas, Michael Naumann und anderen verkörperten Kulturorientierung gewonnen. Ich glaube, es gibt wieder viele, die sich freuen würden, wenn wir wieder ein Stück Kulturwahlkampf erleben könnten.

Brosda: Ja, zu denen würde ich unbeschränkt sofort selber gehören. Ich sehe dafür eine Chance. Zum einen ist Olaf Scholz ja jemand, der tatsächlich sehr kulturaffin ist. Ich habe ihn in Hamburg regelmäßig im Theater oder im Konzert getroffen. Und noch wichtiger: Er ist ein Politiker, der noch neugierig ist und jede Menge liest. Ich finde, man merkt bei Spitzenpolitikern immer den Punkt, an dem sie aufhören zu lesen und nur noch die Festplatte leerspulen. Im Gespräch mit ihm stelle ich immer fest, was ich alles noch lesen muss.

Ich bin jedenfalls fest überzeugt: Kultur wird eine zentrale Dimension der Auseinandersetzung im nächsten Jahr werden, einfach weil sie es momentan gesellschaftlich ist. Denn viele der uns momentan bewegenden Fragen sind auch kulturelle Fragen. Umgekehrt aber sind auch einige der Fragen, die uns momentan als kulturalistisch präsentiert werden, vielleicht gar keine kulturellen Fragen. Also die Differenzierung, was ist eigentlich eher eine soziale Frage und was ist eine kulturelle Frage in unserer Gesellschaft, wird eine Rolle spielen. Das setzt voraus, dass wir definieren können, was denn die kulturellen Fragen sind. Wir haben eine ganze Menge Fragen, die mit der sehr grundlegenden Perspektive auf den Sinn unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts zu tun haben. Die liegen auf dem Tisch. In den 70er Jahren hat Habermas in einem Spiralmodell gesellschaftlicher Krisen beschrieben, wie aus ökonomischen Krisen zunächst politische Legimationskrisen, dann soziale Integrationskrisen und am Ende kulturelle Sinnkrisen werden können, wenn sie nicht rechtzeitig angegangen werden. Wir sind in einigen Bereichen mittlerweile bei diesen kulturellen Sinnkrisen angekommen und die Sozialdemokratie tut gut daran, auf diese Diskurse hin orientierende Angebote zur Verständigung zu machen. Ich hoffe sehr, dass wir dann auch wieder attraktiver werden für Künstlerinnen und Künstler, die sagen: »Ja, das ist ein Projekt, bei dem ich mitmache.«

Denn Künstler und Kulturmenschen machen nicht mit, wenn wir ihnen sagen, wir wollen den Paragrafen sowieso im Sozialgesetzbuch verändern. Aber durchaus, wenn wir glaubwürdig machen, dass es uns ums Ganze geht, ums Allgemeine, um das, was Gesellschaft zusammenhält. Da, glaube ich, können wir ein Angebot machen. Ich habe das Gefühl, dass nach dann 16 Jahren Merkel und ihrer häufig profunden Weigerung zur gesellschaftlichen Grundsatzdebatte, ein Bedürfnis von Bürgerinnen und Bürgern da ist, sich solchen Fragen zu öffnen. Fragen auch in ihrer Grundsätzlichkeit und damit auch sozusagen in ihrer Konsequenzenbehaftetheit zu diskutieren. Und die Partei, die sich dem öffnet – und das kann die Sozialdemokratie – hat damit eine gute Chance um Zustimmung zu werben. Insofern hoffe ich sehr, dass wir auch Kulturfragen neben den Fragen der Bewältigung von Corona oder der europäischen Dimension miteinander besprechen werden.

Es geht, wie es Olaf Scholz angesprochen hat, um Fragen, die etwas zu tun haben mit gesellschaftlichem Respekt und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Das sind letztlich kulturelle Dimensionen, weil sie den Zusammenhang von Gesellschaft berühren. Ich hoffe sehr, dass wir Künstlerinnen und Künstler, Kulturschaffende und Kreative finden, die mit uns an diesen Fragen arbeiten. Wir brauchen ihren Input ganz dringend! Und wir können ihre Perspektive in die Politik und in die Regierung tragen.

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