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Die Lage der SPD im Spiegel der Krise der europäischen Sozialdemokratie

Im September 2018 werden sich der Wahlsieg von Rot-Grün und der Beginn der Amtszeit des vorerst letzten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Gerhard Schröder zum 20. Mal jähren. So als ob sie die These Ralf Dahrendorfs vom Ende des sozialdemokratischen Zeitalters Lügen strafen wollten, waren die Sozialdemokraten damals nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen europäischen Ländern obenauf und führten die Regierungen an. Heute, zwei Jahrzehnte später, dominiert dagegen das Bild eines nicht enden wollenden Niedergangs. In den skandinavischen Ländern hat die Sozialdemokratie ihre frühere Vormachtstellung eingebüßt, in den Niederlanden, Griechenland und Frankreich ist sie auf den Status von Randparteien abgesunken und in der Bundesrepublik lag sie 2017 zum dritten Mal in Folge weit abgeschlagen hinter der Konkurrenz von CDU/CSU. Wie konnte es dazu kommen?

Die politische Linke ist in den alten europäischen Demokratien heute mehr oder weniger überall dreigeteilt. Neben die sozialdemokratische Mainstream-Linke waren schon seit den 80er Jahren ökologische Parteien getreten, die als postmaterialistische Parteien den linken Pol auf einer neuen kulturellen Konfliktlinie besetzten. In den Nullerjahren kam es überdies zu einer Renaissance linkssozialistischer Parteien, die sich zum Teil in populistischer Gestalt jenseits der Sozialdemokratie neu formierten, nachdem die kommunistischen Parteien in den 90er Jahren von der Bildfläche verschwunden, stark dezimiert worden oder – wie in Italien – in der Sozialdemokratie aufgegangen waren.

DIE GRÜNEN waren keine Abspaltung von der Sozialdemokratie, auch wenn sie dieser die Wahlen betreffend schadeten. Sie stellten eine Folge der einseitigen Wachstumsorientierung der Mainstream-Linken dar, die sich um die Negativseiten der ökonomischen Entwicklung wenig scherte. In den 80er Jahren versuchten viele sozialdemokratische Parteien Anschluss an die Themen der neuen Politik zu gewinnen. Exemplarisch dafür stand die deutsche SPD und deren 1989 verabschiedetes Berliner Grundsatzprogramm. Dieses Programm ging nicht nur an der epochalen Zäsur des Systemumbruchs in Mittelosteuropa und der deutschen Einheit vorbei, sondern auch an den ökonomischen Herausforderungen. Der Keynesianismus war in den 70er Jahren in die Krise geraten, doch wusste man kein neues Konzept sozialdemokratischer Wirtschafts- und Sozialpolitik an seine Stelle zu setzen.

In den 90er Jahren wandten sich die an die Regierungen zurückgekehrten Sozialdemokraten häufig neoliberalen Ideen zu, um den Arbeitsmarkt und Wohlfahrtsstaat zu reformieren. Damit wollten sie zugleich auf die beschleunigte Globalisierung reagieren. Die Folge war, dass sich viele Traditionswähler abwandten. Dies bereitete einerseits den Nährboden für die Neuentstehung bzw. das Wiedererstarken linkssozialistischer oder -populistischer Konkurrenzparteien, in Deutschland zum Beispiel der Partei DIE LINKE, die mit Oskar Lafontaine bezeichnenderweise von einem früheren SPD-Vorsitzenden angeführt wurde. Andererseits führte es dazu, dass die neuen rechtspopulistischen Parteien, die in den 80er Jahren in vielen europäischen Ländern entstanden waren und dort auf der kulturellen Parteiensystemachse den Gegenpol zur postmaterialistischen Linken einnahmen, ihre ursprünglich noch stark neoliberal akzentuierten Positionen in der Sozial- und Wirtschaftspolitik allmählich zurückdrängten und nun zu Verteidigern des Wohlfahrtsstaates mutierten.

Die Sozialdemokraten gerieten so gleich doppelt in die Falle. Auf der ökonomischen Achse waren sie eingeklemmt zwischen einer liberalen, aber ebenso sozialstaatsaffinen Mainstream-Rechten, die die Interessen der »leistungsorientierten« Mitte vertrat, und den links- und rechtspopulistischen Konkurrenten, die die »Modernisierungsverlierer« umwarben. Und auf der kulturellen Achse wurden die von ihr vertretenen liberalen Positionen in gesellschaftspolitischen Fragen gerade von den »kleinen Leuten« nicht unbedingt geteilt. Dies galt vor allem beim Thema Zuwanderung. Dessen Sprengkraft rührte nicht zuletzt daher, dass sich hier Fragen der kulturellen Identität mit sozialen und Verteilungsproblemen eng verknüpften. Die Konkurrenz um Arbeitsplätze, Wohnraum und wohlfahrtsstaatliche Leistungen, die von den Migranten ausgeht, findet hauptsächlich im unteren Drittel der Gesellschaft statt, nicht im mittleren oder oberen. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass es den rechtspopulistischen Parteien seit den 90er Jahren gelang, in die Wählerschaft sozialdemokratischer bzw. sozialistischer Parteien massiv einzubrechen und diese als »Arbeiterparteien« zu verdrängen.

Hier liegt der Hauptgrund für die neue Hegemonie der Rechten in Europa. Besonders eindrucksvoll lässt sich die Verschiebung der parteipolitischen Kräfteverhältnisse am deutschen Beispiel ablesen. Lagen die drei linken Parteien SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und PDS/DIE LINKE 2002 und 2005 mit zusammengenommen jeweils 51 % der Stimmen noch klar vor den beiden Mitte-Rechts-Parteien (CDU/CSU und FDP), die gemeinsam 45,9 bzw. 45 % erreichten, so kehrte sich das Verhältnis 2009 um (48,3 % für die Rechte gegenüber 45,6 % für die Linke). Mit dem Aufkommen der rechtspopulistischen AfD ging die Schere 2013 weiter auseinander (51 % für die drei rechten gegenüber 42,7 % für die drei linken Parteien), was aber noch längst nicht das Ende der Fahnenstange war: Bedingt durch das starke Abschneiden sowohl der Rechtspopulisten als auch der wiedererstarkten FDP konnte das Mitte-Rechts-Lager seinen zusammengenommenen Stimmenanteil bei der Bundestagswahl 2017 um weitere fünf Prozentpunkte auf 56,2 % steigern, während die drei linken Parteien mit 38,6 % auf einen historischen Tiefstand zurückfielen. (Sogar 1990 war das Ergebnis mit 40,7 % besser gewesen.)

Wie lässt sich erklären, dass die Mainstream-Linke in den südeuropäischen Ländern – vor allem in Spanien und Griechenland – überwiegend durch neue linkspopulistische Konkurrenten herausgefordert wird, während in den west- und nordeuropäischen Ländern der Rechtspopulismus dominiert? Ein wesentlicher Grund dürfte darin liegen, dass gerade die südlichen Länder von den Folgen des internationalen Finanzmarktkapitalismus am stärksten gebeutelt wurden, was ideologisch den linken Globalisierungskritikern in die Hände spielt. Hinzu kommt, dass der in diesen Ländern eher schwach ausgebaute Sozialstaat nur begrenzt in der Lage ist, die Verlierer des internationalen Wettbewerbs zu entschädigen. Umgekehrt war und ist in den wettbewerbsstärkeren Ländern Mittel- und Nordeuropas, die zur Aufrechterhaltung dieser Stärke zugleich auf ein höheres Maß an Arbeitsmigration angewiesen bleiben als die südlichen Länder, der Sozialstaat eine zentrale Voraussetzung für die außenwirtschaftliche Öffnung. Weil dieser im Zuge des Standortwettbewerbs aber auch hier unter Druck gerät, reagieren die Bevölkerungen umso sensibler auf die vermeintlich ungerechtfertigte Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen durch Zuwanderer. Diese als »Wohlfahrtschauvinismus« apostrophierte Haltung spielt ideologisch der nationalistischen Rechten in die Hände.

Nach der »goldenen Ära« des Keynesianismus

Die Scheidelinie zwischen links und rechts besteht bekanntlich in der unterschiedlichen Priorität des sozialen und politischen Gleichheitsziels. Lässt man die Entwicklung der demokratischen Systeme der fortgeschrittenen post-industriellen Gesellschaften seit den 70er Jahren Revue passieren, ergibt sich in Bezug auf die Erreichung der beiden Ziele eine gemischte Bilanz. Während in sozialkultureller Hinsicht – etwa bei der Geschlechtergleichheit oder beim Abbau der Diskriminierung von Homosexuellen – deutliche Fortschritte erreicht wurden, ist die Ungleichheit in sozialökonomischer Hinsicht gestiegen. In der goldenen Ära des Keynesianismus hatten hohe Wachstumsraten dafür gesorgt, dass der Sozial- und Wohlfahrtsstaat kontinuierlich ausgebaut werden konnte und der allergrößte Teil der Gesellschaft an der Wohlstandsentwicklung partizipierte. Unter dem Druck der Globalisierung wirken sich die geringer werdenden Verteilungsspielräume tendenziell zu Lasten der unteren Bevölkerungsschichten aus, deren Wohlstand stagniert oder abnimmt, während das obere Drittel seinen Anteil hält bzw. vergrößert. So belegen die Zahlen für Deutschland, dass die unteren 40 % der Bevölkerung seit den 90er Jahren keinerlei Reallohnzuwächse mehr zu verzeichnen hatten.

Die politischen Konsequenzen dieser Entwicklung spiegeln sich im Wahlverhalten. Einerseits steigt die soziale Selektivität der Wahlbeteiligung, andererseits wenden sich die noch zur Wahl Gehenden verstärkt rechts- und linkspopulistischen Protestparteien zu. Zahlen für die Bundesrepublik dokumentieren diesen Trend. Betrug die Wahlbeteiligung in den 70er und 80er Jahren auch in den unteren Schichten der Bevölkerung stets um die 70 %, so ist sie seit den 90er Jahren kontinuierlich auf unter 50 % gesunken. Im oberen Bereich blieb die Beteiligung unterdessen mit um die 90 % nahezu stabil. Die Zunahme bei den Protestwählern wird durch den zusammengefassten Stimmenanteil der rechten und linken Außenseiterparteien belegt, zu denen neben der erst 2013 entstandenen AfD auch die vormalige PDS und heutige Partei DIE LINKE gehört. Dieser hat sich von 5,0 % bei der Bundestagswahl 2002 auf 21,8 % bei der Bundestagswahl 2017 mehr als vervierfacht. Gemessen an der Unterstützung solcher Parteien in anderen europäischen Ländern sind das allerdings immer noch bescheidene Werte.

Aktuelle Auswertungen für die Bundesrepublik zeigen, dass die materiell Benachteiligten in der Wählerschaft sowohl der Linkspartei als auch der AfD überproportional vertreten sind. Das Durchschnittseinkommen dieser Wähler ist ebenfalls geringer als das der Wähler der anderen Parteien – einschließlich der SPD – und wird nur noch vom Durchschnittseinkommen der Nichtwähler unterboten. Vor diesem Hintergrund könnte man vermuten, dass die Repräsentationsschwäche, die die zunehmende Wahlabstinenz der benachteiligten Bevölkerungsgruppen verursacht, durch die gleichzeitige Zunahme des Protestwahlverhaltens ausgeglichen wird. Genau das ist aber bei näherem Hinsehen nicht der Fall. Erstens ist der Anteil der sozial Benachteiligten unter den Nichtwählern viel größer als unter den Protestwählern. Zweitens können die rechten und linken Außenseiterparteien die Anliegen der Protestwähler nur indirekt – in der Auseinandersetzung mit den von ihnen herausgeforderten Mainstream-Parteien – befördern, da sie über keine Regierungsmacht verfügen. Drittens zeigt sich bei vielen rechtspopulistischen Parteien überdies, dass ihre marktliberal ausgerichteten Positionen den Interessen der sozial benachteiligten Wähler sogar direkt zuwiderlaufen. Und viertens führt die Abwendung dieser Wähler nicht zwangsläufig dazu, dass sich die Mainstream-Linke deren Interessen verstärkt zuwendet. Weil unter den zahlenmäßig immer noch überwiegenden Wählern der leistungsbereiten Mitte potenziell mehr zu gewinnen ist, als an enttäuschten Nicht- und Protestwählern zurückgeholt werden kann, richten nämlich auch die sozialdemokratischen Parteien ihre Programme und ihr Regierungshandeln im Wettbewerb primär an den Erstgenannten aus. Die Folge ist ein sich selbst verstärkender Prozess. Vertreten Parteien und Politiker die benachteiligten Bevölkerungsgruppen nicht mehr, haben diese noch weniger Grund, an den Wahlen teilzunehmen. Und bleiben sie den Wahlen fern, werden ihre Interessen noch schlechter vertreten.

Wie lässt sich dieser Teufelskreis durchbrechen? Viele Demokratietheoretiker relativieren die Krise der Wahldemokratie, indem sie das Augenmerk auf die anderen Formen und Möglichkeiten der politischen Beteiligung richten. Alle Partizipationsformen jenseits der Wahlen – egal ob sie durch die Regierenden »von oben« bereitgestellt werden oder ob sie »von unten«, also der Bevölkerung selbst ausgehen – teilen allerdings das Problem, das sie vorzugsweise von Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen und höherem Einkommen in Anspruch genommen werden. Die soziale Selektivität ist hier sogar noch wesentlich größer als bei den Wahlen, die insofern weiterhin die »gleichheitsfreundlichste« Beteiligungsart darstellen.

So gut die institutionellen Reformvorschläge letztlich gemeint sind, führen sie deshalb am Grundproblem der sozialökonomischen und -kulturellen Spaltung der Gesellschaft vorbei. Deren Bekämpfung muss an der Wurzel erfolgen und kann nur mit politischen Maßnahmen erreicht werden – das heißt einer Agenda, die durch eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt sowie umfangreiche Investitionen in Bildung, Kinderbetreuung, Gesundheitsversorgung, Wohnungsbau und sonstige Bereiche der Infrastruktur wieder mehr Chancengerechtigkeit ermöglicht und tatsächlich herstellt. Die strategische Herausforderung der Mainstream-Linken besteht darin, auch die Teile ihrer potenziellen Wählerschaft für ein solches Politikangebot zu gewinnen, die selbst über höhere Bildungsabschlüsse und Einkommen verfügen als der Bevölkerungsdurchschnitt. Dies wird ihr wahrscheinlich nur gelingen, wenn sie diese Wähler verteilungspolitisch »schont« und sie gleichzeitig mit gesellschaftspolitisch progressiven Positionen »pflegt«. Auch um dem Rechtspopulismus zu begegnen, muss die Sozialdemokratie dringend daran arbeiten, das Bündnis des linksliberalen Bürgertums mit ihrer vernachlässigten Kernklientel der »kleinen Leute« zu erneuern. Dies schließt die Notwendigkeit einer »realistischen« Zuwanderungspolitik mit ein. Weil die migrationsbedingten Konflikte diese Klientel besonders betreffen, sollten gerade linke Parteien für eine bessere Steuerung und Begrenzung der Einwanderung eintreten. Gleichzeitig dürfen sie die kulturelle Mitbedingtheit der Konflikte nicht ausblenden und so tun, als seien sie ausschließlich sozialer Natur. Die Mahnung des britischen Ökonomen Paul Collier – dass uns die Interessen derjenigen, die in ihrer Heimat leben und bleiben wollen, wichtiger sein sollten, als die Interessen jener, die ihre Heimat verlassen – ist zugleich ein die Wahl betreffender Sachzwang. Wenn die Sozialdemokratie diese Lektion nicht begreift, wird sie weder ihre Mehrheitsfähigkeit gegenüber dem Mitte-Rechts-Lager zurückerlangen noch den auf Dauer verhängnisvollen Weg in die »Zwei-Drittel-Demokratie« stoppen können.

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